Donnerstag, 21. April 2016

Jörg Dräger und das Lernen im Netzwerk

Das digitale Lernen ist wohl eines der umstrittensten Themen in der aktuellen Bildungslandschaft. Die einen beschwören schnell den Untergang des Abendlandes, weil sie in der Anwendung digitaler Medien im schulischen Unterricht nur negative Aspekte sehen. Die anderen wiederum sehen nur die Vorteile und verweisen auf neue Lernstrukturen und neue Freiräume für Kreativität dank Laptop und Lernplattformen.

Jörg Dräger (*1968) studierte zunächst Physik und Betriebswirtschaftslehre an der Universität Hamburg und an der Cornell University (New York). Danach übernahm er Geschäftsführung des Northern Institute of Technology, einer international orientierten privaten Hochschulinstitution. Bis 2008 war Dräger Hamburger Senator für Wissenschaft und Forschung Hamburg, Mitglied der Kultusministerkonferenz und stellvertretendes Mitglied des Bundesrates. Seit 2008 ist Dr. Jörg Dräger Vorstandsmitglied der Bertelsmann Stiftung für die Bereiche Bildung, Integration und Demokratie sowie Geschäftsführer des CHE - Centrum für Hochschul-entwicklung.

In seinem Buch „Die digitale Bildungsrevolution: Der radikale Wandel des Lernens und wie wir ihn gestalten können (zusammen mit Ralph Müller-Eiselt) beschäftigt er sich mit dem Lernen im Netzwerk, der digitalen Bildung und den digitalen Medien. In einem Interview des SWR 2 hat er sich ausführlich zur digitalen Bildungsrevolution geäußert.

Ausgangspunkt seiner Argumentation ist die kritische Sicht auf die traditionelle Lehrerrolle, die darin besteht, dass der Lehrer vor der Klasse steht und den Schüler Wissen vermittelt. „In heutigen klassischen Unterrichtssituationen kümmert sich ein Lehrer zu 20 Prozent um das individuelle Kind und zu 80 Prozent steht er vor der Klasse und vermittelt Wissen, während die Schüler möglichst schweigen und zuhören.“

Schweigen und Zuhören aber könne man auch, wenn man ein gutes Lernvideo anguckt. Das Ziel sei, „dass man aus dieser 20/80-Teilung eine 80/20-Teilung hinbekommt in dem Sinne, dass die Lehrer sich überwiegend um die Kinder kümmern, um ihre Probleme.“

So habe sich eine Lehrerin, die Lernsoftware einsetzt, im Interview mit Dräger folgendermaßen geäußert: "Seitdem ich diese digitalen Medien nutze, muss ich nicht mehr Stoff unterrichten, sondern ich kann Kinder unterrichten." Den Stoff würde nämlich auch ein Lernvideo hinbekommen, aber für das Kind mit all seinen Herausforderungen, brauche es den Menschen. Dazu passt die Aussage eines anderen Lehrers: "Endlich habe ich Zeit für das Wesentliche." Und das Wesentliche ist eben die Lernbegleitung und nicht die Stoffvermittlung.


"Endlich habe ich Zeit für das Wesentliche."

Natürlich – und das haben neurologische Lernstudien hinreichend bewiesen – lernen Schüler sehr effektiv, wenn sie von einem Menschen angesprochen werden, der seine eigene Persönlichkeit, seine eigene Haltung, seinen Charakter und auch seine Begeisterung an dem Fach und Lernstoff mit in den Lernprozess einbringt. Eine Computerstimme könne dies schwerlich erreichen.

Das Problem – und das hat Jörg Dräger wohl richtig erkannt, besteht leider darin, dass dieses Prinzip sicher richtig ist, „wenn Sie eine wunderbaren Tutor, eine wunderbare Tutorin haben, die sich um zwei, drei Kinder einzeln kümmern kann und für diese ein individueller Ansprechpartner ist und dann auch noch in allen Fächern ein fantastischer Pädagoge, dann ist das sicher ein tolles Modell. In dem Moment, wo 30 Kinder in einem Klassenzimmer oder 300 Studenten in einem Hörsaal sitzen, gerät Ihr Modell der individuellen Ansprache schon an seine Grenzen.“ Genau hier könne „Digitalisierung an bestimmten Segmenten individueller ansprechen.“

Die Frage Drägers „Wenn ein Lehrer heute vor der Klasse steht und 30 Gesichter gucken ihn an, wie soll er gezielte Hilfe leisten?“ ist durchaus berechtigt. Ein Ausweg besteht wohl häufig noch darin, nach dem Gießkannenprinzip Hilfe zu verteilen.

Jörg Dräger sieht die bildungspolitische Herausforderung in Deutschland daher vor allem im Umgang mit Heterogenität, „also wie gehen wir besser mit der Unterschiedlichkeit der Lerner um“ - und genau hier biete das digitalisierte Lernen vielfältige Möglichkeiten.

Letztlich ist das digitalisierte Lernen nur verständlich im Rahmen eines selbstgesteuerten und personalisierten, binnendifferenzierten Lernens. „Das Ziel ist schon, dem Schüler Lernen lernen beizubringen. Früher sollten wir einfach nur Wissen wissen. Man sprach dem Lehrer lateinische Vokabeln oder irgendwelche Definitionen nach. Inzwischen geht es aber nicht mehr so sehr um Wissen wissen – das kann ich zur Not auch im Internet nachgucken –, sondern es geht mehr darum, eine Lernmethodik zu haben, mit der ich mir Neues beibringen kann, mit der ich Informationen filtern kann, mit der ich entscheiden kann, will ich das Video nochmal wiederholen oder beherrsche ich den Stoff.“

Wünschenswerte Zukunft? - Das digitale Klassenzimmer
Insbesondere dann, wenn das digitalisierte Lernen verbunden wird mit Formen des Feedbacks und der Selbstreflexion des Lernenden, ergeben sich äußerst positive Effekte. Das könne zwar „ein guter Tutor mit drei Schülern auch, aber bei 30 Kindern ist er schon strapaziert, allen differenzierte Rückmeldungen zu geben. Das Feedback gibt dem Schüler Auskunft über sein eigenes Lernverhalten, über seinen Wissensstand, der Schüler überschätzt sich nicht, er unterschätzt sich nicht und wird so zu einem selbstverantwortlichen Lerner.“

Häufig würden nämlich die Smartphones und Tablets ja nur zum Konsum genutzt und nur sehr selten, um etwas Neues zu schaffen. Das ginge aber gerade mit diesen Endgeräten sehr gut: „Musik komponieren z.B. oder Filme machen. Sie können aber auch ein kleines Erklärvideo erstellen, in dem Sie die Hausaufgabe, die Sie als Schüler aufhaben, in einem sogenannten Scribble and Talk erledigen, d.h. ich zeichne auf einem Smartphone oder einem Tablet und rede gleichzeitig und erkläre so, wie ich die Mathe-Aufgabe löse.

Der Lehrer kann so nachverfolgen, wie ich die Aufgabe gelöst habe. Ich kann auch anderen Schülern damit etwas erklären. Ich habe also etwas geschaffen und nicht nur konsumiert. Gerade dieses kreative Element des Erschaffungsprozesses ist etwas, was aus meiner Sicht heute viel zu wenig genutzt wird.“

Zitate aus: Jörg Dräger: Lernen im Netzwerk. Die digitalisierte Bildung, SWR2 Aula, Sendung vom Sonntag, 20. März 2016. Manuskript online unter: http://www.swr.de/-/id=16919316/property=download/nid=660374/1077a02/swr2-wissen-20160320.pdf, als Podcast unter: http://www1.swr.de/podcast/xml/swr2/aula.xml


Weitere Literatur: Jörg Dräger: Die digitale Bildungsrevolution: Der radikale Wandel des Lernens und wie wir ihn gestalten können (mit Ralph Müller-Eiselt). Deutsche Verlags-Anstalt. 2. Auflage 2015

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