Montag, 1. November 2021

Athen und die Erfindung der Demokratie


Demokratie ist aktuell wie kaum zuvor – und wirft wie nie zuvor Fragen auf. In seinem Buch „Was ist Demokratie? Geschichte und Gegenwart“ verknüpft Paul Nolte die historischen Perspektiven und grundsätzlichen Fragen mit den aktuellen Problemen und zeigt auf, dass die Geschichte der Demokratie nie nur von Wachstum, Fortschritt und Erfüllung handelte. Sie war immer zugleich eine krisenhafte Suche nach der Auflösung von Konflikten und Widersprüchen. 

Die Demokratie beginnt vor mehr als zweieinhalbtausend Jahren, als athenische Bürger die Herrschaft des Volkes zum ersten Mal praktizierten. Die Bürger von Athen überließen die Regierung ihrer Polis, also ihres stadtstaatlichen Gemeinwesens, nicht einem König oder einer aristokratischen Elite, sondern regierten sich selbst: frei und einander gleich; durch die Übernahme von Ämtern und unmittelbar in der Volksversammlung.

Die Demokratie - eine "Erfindung" der Griechen!

Auch wenn die moderne Geschichtswissenschaft den Glanz der durch die humanistische Bildung des 18. Jahrhunderts vermittelten Griechenkultes ankratzte, so hat die kritische Forschung der letzten Jahrzehnte das Bild von der Erfindung der Demokratie im antiken Griechenland eher insgesamt bestätigt. „`Erfindung´ heißt dabei aber nicht, dass die Athener durch intensives Nachdenken und Philosophieren über eine bessere Regierungsform auf die Demokratie gekommen wären, dass sie eine Blaupause der Demokratie angefertigt und diese anschließend planmäßig in Verfassung und praktische Politik umgesetzt hätten. (…) Die athenische Demokratie entstand nicht zuerst in der Theorie, sondern entwickelte sich, langsam und in vielen Etappen, im praktischen Vollzug.“

Insgesamt dauerte die Geschichte der athenischen Demokratie knapp drei Jahrhunderte und ist mit den Namen Solon, Kleisthenes und Perikles verbunden. Trotz aller Rückschläge und Krisen – Versuche, die Demokratie abzuschaffen, gab es u.a. unter Peisistratos und gegen Ende des Peloponnesischen Krieges unter den „Dreißig Tyrannen“ –, die Athener wurden sich der Besonderheit ihrer politischen Ordnung immer mehr bewusst, sprachen positiv von ihr; sie huldigten ihr geradezu in kultischer Verehrung. Erst im Zuge des Aufstiegs der makedonischen Herrschaft unter Phillip II. und seinem Sohn Alexander dem Großen verloren die Bürger Athens schließlich im Jahre 322 ihre politische Unabhängigkeit und damit auch die durch die Verfassung garantierten politischen Rechte.

Ursprünglich hatten die Griechen die politische Ordnung ihres Gemeinwesens überhaupt nicht mit dem Wort für `herrschen` (`kratein´) beschrieben, sondern mit ihrem Wort für Gesetz und Ordnung, `nomos´. Davon abgeleitet, beschreibt der Begriff `Eunomie´ die `gute Ordnung´, deren Vorzug vor allem in ihrer Stabilität und Ausgewogenheit gesehen wurde, nicht in einer möglichst breiten Bürgerbeteiligung. 

Die Normalität der guten Ordnung war gleichwohl eine aristokratische, „in der eine Minderheit von bevorrechtigten oder reichen Männern die politischen Geschäfte führte und Entscheidungen traf. In einer Tyrannis dagegen, in der Alleinherrschaft eines Mannes, geriet die gute Ordnung auch schon für die vordemokratischen Athener aus den Fugen.“

Für den Übergang von der Eunomie zur Demokratie spielte ab dem Jahr 500 der Begriff der `Isonomie´ - `Gleichordnung´ oder `Ordnung der untereinander Gleichen´- als Leitbild eine entscheidende Rolle. Der Weg in die Demokratie führte also „nicht zuerst über den Gedanken der individuellen Freiheit wie in der modernen Variante seit dem 18.Jahrhundert, sondern über die Idee der Gleichheit.“ Mit Gleichheit ist jedoch keine soziale bzw. sozialökonomische Gleichheit gemeint ist, sondern eine staatsbürgerliche Gleichberechtigung. „Isonomie bezeichnete eine Ordnung, in der alle Bürger auf prinzipiell gleiche Weise in die Regelung der politischen Angelegenheiten einbezogen waren“ und so wurde der Begriff nahezu synonym mit Demokratie benutzt. 

So entwickelten die Athener zunehmend ein Bewusstsein dafür, dass ihre Form der Politik „eine besondere, eine ungewöhnliche, vielleicht sogar eine einzigartige war. Thukydides ließ den athenischen Führer Perikles in seiner großen Darstellung des Peloponnesischen Krieges eine Totenrede halten, in der dieses Sonderbewusstsein besonders klar formuliert ist: `Die Verfassung, nach der wir leben, vergleicht sich mit keiner der fremden; viel eher sind wir für sonst jemand ein Vorbild als Nachahmer anderer. Mit Namen heißt sie, weil der Staat nicht auf wenige Bürger, sondern auf eine größere Zahl gestellt ist, Volksherrschaft´.“

Die Leichenrede des Perikles (Philipp von Foltz)

Von besonderer Relevanz ist ebenfalls, dass die Athener ein neuartiges Verständnis von `Politik´ entwickelten. „Politik war danach nicht mehr mit einem faktischen System von Herrschaft identisch; sie trat aus der Normalität, aus der scheinbaren Natürlichkeit der Lebensverhältnisse heraus und etablierte sich als eine eigene Sphäre, in der man sprechen, debattieren und entscheiden konnte. Nicht so sehr im Sinne von Institutionen oder organisierter Verfasstheit – der griechische Begriff von Politik meinte nicht Staatlichkeit im modernen Sinne. Was die Griechen entdeckten war, in den Worten des großen englischen Althistorikers Moses Finley, die `Kunst, Entscheidungen durch öffentliche Diskussion herbeizuführen und diesen Entscheidungen dann auch zu folgen, als notwendige Bedingung einer zivilisierten Lebensführung´.“

Diese Besonderheit gründete vor allem in einem Bild vom Menschen – damals noch: dem männlichen Vollbürger –, der prinzipiell, unabhängig von Herkunft, Vermögen oder sozialer Stellung, politische Urteilskraft besitzt.

„Die Volksversammlung stand im Zentrum der athenischen Demokratie. Sie war (…) mit dem Volk identisch; sie war, in heutigen Begriffen, der Souverän. Die Volksversammlung trat etwa vierzig Mal im Jahr für jeweils einen ganzen Tag zusammen und fasste Beschlüsse, die von kleineren tagespolitischen Angelegenheiten über die Verabschiedung von Gesetzen bis zur Entscheidung über Krieg und Frieden reichten.“ Dabei wurde nicht so sehr fachliche Kompetenz auf der Grundlage professioneller Schulung verlangt und ebenso wenig kannten die Griechen kein kodifiziertes Rechtssystem als Handlungsgrundlade. „Vielmehr ging es um dasselbe Prinzip der gleichen Partizipation der Bürger an Entscheidungen, die sie selbst betrafen – ob in `öffentlichen´ oder `privaten´ Angelegenheiten.

So erinnert die Demokratie der Athener vor 2500 Jahren in einigen Elementen an das, was später (und bis heute) als unmittelbare, direkte oder Basisdemokratie diskutiert wird, auch wenn sich die Voraussetzungen mit Blick auf die wirtschaftlichen und sozialen Bedingungen grundlegend unterschieden. Auch kannten die Athener keine Gewaltenteilung - Gesetzgebung, Verwaltung und Justiz ließen sich nicht voneinander unterscheiden - und eine Exekutive im Sinne der modernen Regierung des Staates fehlte völlig. 

Die athenische Demokratie dagegen war primär eine Verfahrensordnung, eine „Verfassung der politischen Praxis. Sie aktualisierte sich in der freien und gleichen Rede, in der Volksversammlung oder in anderen Ämtern und Institutionen. (…) Neben der allgemeinen Ordnung der Gleichheit, der Isonomie, stand deshalb die `Isegorie´, das gleiche Recht der Rede in der Volksversammlung, in höchster Wertschätzung.“

Die Akropolis im Blick: Die Pnyx - Ort der Volksversammlung

Wer sich als guter, als mitreißender und überzeugender Redner erwies, konnte in der Volksversammlung erheblichen Einfluss ausüben. „So hat man Athen geradezu als eine `deliberative Demokratie´ bezeichnet – und damit erneut einen modernen Begriff, ein Konzept des späten 20.Jahrhunderts aufgegriffen: Demokratie als öffentlicher und vernünftiger Austausch von Argumenten, als eine `horizontale´ Form der bürgerlichen Selbstverständigung mehr als ein `vertikaler´ Mechanismus des rationalen und durch Mehrheit legitimierten Entscheidens. So zeigt sich immer wieder: Wie fremd und anders die athenische Demokratie auch war, wir kommen in der Gegenwart kaum von ihr los.“

Zitate aus: Paul Nolte: Was ist Demokratie? Geschichte und Gegenwart“, München 2012 (C.H. Beck)

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