Donnerstag, 30. Juni 2016

Jürgen Osterhammel und das Zeitalter asymmetrischer Effizienzsteigerung

Am Ende seines monumentalen Werkes über das 19. Jahrhundert schlägt Jürgen Osterhammel vor, die „Verwandlung der Welt“ in diesem randoffenen Jahrhundert mit Hilfe von  fünf Merkmalen zu beschreiben, von denen das erste lautet: "Das 19. Jahrhundert war ein Zeitalter asymmetrischer Effizienzsteigerung."

Die Effizienzsteigerung zeigte sich Osterhammel zufolge auf drei Gebieten: Erstens stieg die Produktivität menschlicher Arbeit, zweitens stieg die Effizienz des Militärs und drittens stieg die Kontrolle von Staatsapparaten über die Bevölkerung der eigenen Gesellschaft.

Produktionssteigerung: Die Maschinenfabrik des Unternehmers Richard Hartmann in Chemnitz im Jahr 1868.
Während des 19. Jahrhunderts kam es zweifellos zu einem Anstieg der Produktivität der menschlichen Arbeit. Auch wenn eine statische Validierung angesichts der unzureichenden Datenlage unmöglich ist, so wird niemand bestreiten können, „dass die Menge der pro Kopf der Weltbevölkerung geschaffenen materiellen Werte um 1900 deutlich größer war als ein Jahrhundert zuvor, ... die Möglichkeit eines langfristig zwar konjunkturell schwankenden, aber doch im Aufwärtstrend stabilen Wachstums [war] erstmals in der Geschichte realisiert worden.“

Osterhammel zufolge war eine Quelle dieser Entwicklung „die Einführung und Verbreitung der industriellen Produktionsweise, gekennzeichnet durch verfeinerte Arbeitsteilung, fabrikmäßige Organisation und den Einsatz kohlegetriebener Maschinerie.“

Auch wenn die Industrialisierung einerseits „sehr ungleich über die Kontinente verteilt und selbst dort, wo sie entstanden und am höchsten entwickelt war“, so war die andererseits doch von genialer Einfachheit: „Sie beruhte überwiegend auf naturwissenschaftlichen Prinzipien, ... Routinen der Innovation sowie Markstrukturen und Rechtsverhältnissen, in denen solche Innovation lohnend verwertet werden konnte.“

So konnten sich daraus im Verlauf des 19. Jahrhunderts  „Systeme der Wissensproduktion und der Ausbildung von `Humankapital´“ herausbilden. Die größte Erfindung des 19. Jahrhunderts, so der Philosoph Alfred North Whitehead, war die `Erfindung der Methode des Erfindens´.

Die andere Quelle der Reichtumsvermehrung war die Erschließung neuer Landreserven auf allen Kontinenten: Es gab demnzufolge eine Art von `agrarischer Revolution´, die, vor allem in England, der `industriellen Revolution´ vorausging, „später und gleichzeitig mit der sich langsam ausbreitenden Industrialisierung aber auch eine viel umfangreichere Extensivierung der Bodennutzung, die ... mit einer Steigerung der Leistungskraft des einzelnen Produzenten verbunden war.“

Die hergestellten Produkte waren nicht nur für den lokalen Verbrauch bestimmt, „sondern flossen in einen interkontinentalen Handel ein, der nicht länger ein Handel bloß mit Luxusgütern war. Dass industrielle Technologie in Gestalt von Dampfschiff und Eisenbahn auf den Transportsektor übertragen wurde und dort die Kosten schnell sinken ließ“, trug zur Expansion dieses Handels bei.

Die Schlacht von Gettysburg (1863) als Gemälde
Das zweite Gebiet der Effizienzsteigerung betraf das Militär, insbesondere, weil die „Tötungskapazität des einzelnen Kämpfers wuchs.“ Dies war eine unmittelbare Folge nicht nur „waffentechnischer Innovation“, sondern auch und vor allem ein „Zuwachs an militärischem Organisationswissen und an strategischer Kunst.“

Schließlich musste aber auch ein politischer Wille hinzukommen, „staatliche Ressourcen auf das Militär zu konzentrieren.“ Genau diese Entwicklungen führten dann 1914 in die Katastrophe. Hier „prallten politisch kaum noch kontrollierbare Militärapparate aufeinander.“ Der Weltkrieg selbst war dann wiederrum der Ausgangspunkt von weiteren Effizienzschüben. So war am Ende des Jahrhunderts die militärische Macht „– was um 1850 noch keineswegs feststand – mit industrieller Potenz identisch geworden.“

Das dritte Feld der Effizienzsteigerung war die zunehmende Kontrolle von Staatsapparaten über die Bevölkerung der eigenen Gesellschaft:

„Die Dichte von Verwaltungsregelungen nahm zu; Lokalverwaltungen zogen Kompetenzen an sich; Behörden registrierten und klassifizierten die Bevölkerung, ihr Grundeigentum und ihre Steuerkraft; Steuern wurden regelmäßiger, gerechter und aus einer wachsenden Zahl von Quellen abgeschöpft; Polizeisysteme wurden in der Breite und Tiefe ausgebaut.“

Der Datenträger Papier bestimmte das Erscheinungsbild ...
Preußische Amtsstube um 1880
(Quelle: Heinz NIxdorf Museumsforum)
Bei allem aber bestand Osterhammel nach „keine eindeutige Korrelation zwischen der Form des politischen Systems und der Intensität behördlicher Lebenssteuerung“ – schließlich kann ein moderner demokratischer Rechtsstaat auch heute noch intensiv verwaltet sein. Weil aber im 19. Jahrhundert wiederum neue Regierungstechniken entstanden – bis hinunter auf die lokale Ebene -, begann der Staat, „zu einem neuen Leviathan zu werden.“

Die Effizienssteigerung des intervenierenden Staatsapparates stand nun jedoch auch in einem wechselseitigen Bedingungsverhältnis zur der sich im 19. Jahrhundert entwickelnden Idee des Nationalstaates, „bei dem idealiter Staatsform, Territorium und Kultur (Sprache) deckungsgleich sein sollten. (...) Die Angehörigen einer Nation wollten freie und gleich behandelte Bürger (citizens) eines homogenen Kollektivs sein, keinesfalls Untertanen. Sie strebten danach, dass ihr Land in der Welt anerkannt und geachtet würde. Doch ertrugen umgekehrt die Menschen im Namen nationaler Einheitlichkeit, des nationalen Interesses und der nationalen Ehre eine obrigkeitliche Regulierungswut, der sie sich in früheren Zeiten eher widersetzt hätten.“

Die drei dargestellten Bereiche der Effizienzsteigerung mussten gleichwohl nicht zusammen und mit der gleichen Intensität auftreten. „Im Osmanischen Reich begann eine `moderne» Staatsbürokratie ohne einen nennenswerten industriellen Hintergrund zu entstehen. Die USA waren in den Jahrzehnten nach dem Bürgerkrieg ein ökonomischer Riese, aber ein militärischer Zwerg. Russland industrialisierte sich und besaß eine riesige Armee, doch ist es fraglich, wie tief der Staat vor 1917 in die Gesellschaft, vor allem die ländliche, tatsächlich eindrang. Im Grunde bleiben nur Deutschland, Japan und Frankreich als Musterbeispiele für rundum ausgebildete moderne Nationalstaaten. Großbritannien mit seinem bescheidenen Umfang an landgestütztem Militär und seinem relativ wenig bürokratisierten local government war ebenso ein Fall für sich wie die USA.“

Trotzdem verdankt sich der Aufstieg Europas, der USA und Japans im Verhältnis zur übrigen Welt einem „Paket von Faktoren“, in denen sich Effizienzsteigerungen ergaben.

Dazu gehörte letztlich auch eine selbst geschaffene liberale Weltwirtschaftsordnung, die „ein wirtschaftliches Wachstum stützte, „das ertragreich besteuert werden konnte und so die Finanzierung einer internationalen Machtstellung gewährleistete. So konnte auch der Imperialismus eine gute Investition sein, „selbst wenn koloniale Expansion im Einzelfall volkswirtschaftlich nicht unmittelbar viel monetären Gewinn eintragen mochte“. Aber unter den Bedingungen der militärischen Effizienzüberlegenheit waren Kolonien relativ kostengünstig zu erobern und zu verwalten. „Imperialismus lohnte sich politisch immer, so lange er die Staatskassen nichts oder wenig kostete; und wirtschaftlich schuf er sich die Interessentenkreise, die ihn politisch stützten.“


Zitate aus: Jürgen Osterhammel: Die Verwandlung der Welt, Eine Geschichte des 19. Jahrhunderts, München 2010 (C.H. Beck)


1 Kommentar:

  1. Das Märchen von der Unmöglichkeit marktwirtschaftlicher Selbstregulation

    Dass vor 3200 Jahren noch niemand wusste, wie marktwirtschaftliche Selbstregulation dauerhaft funktioniert, ist verständlich. Aber immerhin hatte man schon erkannt, wodurch die Selbstregulation verhindert wird:

    Himmel und Erde = Nachfrage (Geld) und Angebot (Waren)
    Garten Eden / Paradies = freie (d. h. monopolfreie) Marktwirtschaft
    Früchte tragende Bäume = Gewinn bringende Unternehmungen
    Baum des Lebens = Geldkreislauf
    Baum der Erkenntnis = Geldverleih
    Frucht vom Baum der Erkenntnis = Urzins (S. Gesell) / Liquiditätsprämie (J. M. Keynes)
    Gott (Jahwe) = künstlicher Archetyp: "Investor"
    Mann / Adam = Sachkapital / der mit eigenem Sachkapital arbeitende Kulturmensch
    Frau / Eva = Finanzkapital / der in Sachkapital investierende Kulturmensch
    Tiere auf dem Feld = angestellte Arbeiter ohne eigenes Kapital (Zinsverlierer)
    Schlange = Sparsamkeit (die Schlange erspart sich Arme und Beine)
    Nachkommen der Schlange = Geldersparnisse
    Nachkommen der Frau = neue Sachkapitalien
    Kopf der Schlange = Kapitalmarktzins (Sachkapitalrendite)
    Erbsünde = Privatkapitalismus (Zinsumverteilung von der Arbeit zum Besitz)
    Vertreibung aus dem Paradies = Verlust der Unterscheidungsfähigkeit zwischen Marktwirtschaft und Kapitalismus
    Cherubim = Denkblockaden

    Wenn diese verflixten Denkblockaden nicht wären, die in früheren Zeiten leider notwendig waren, um erst einmal in die kapitalistische Marktwirtschaft (Zinsgeld-Ökonomie, zivilisatorisches Mittelalter) hineinzukommen, hätten wir die Natürliche Wirtschaftsordnung (Marktwirtschaft ohne Kapitalismus = echte Soziale Marktwirtschaft) - und damit die marktwirtschaftliche Selbstregulation - nicht erst seit Silvio Gesell,...

    https://www.deweles.de/mut.html?file=files/_theme/pdf/soziale_marktwirtschaft.pdf

    ...sondern schon seit Jesus von Nazareth verwirklichen können:

    https://www.deweles.de/phantasie.html?file=files/_theme/pdf/himmel_auf_erden.pdf

    Aber was nicht ist, kann ja noch werden:

    http://opium-des-volkes.blogspot.de/2016/10/gesetze-der-zukunft.html

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