Donnerstag, 30. Oktober 2014

Hannah Arendt und der Totalitarismus - Teil 3: Totalitäre Organisation


Hannah Arendt
„Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft“ (1955 auf Deutsch erschienen) ist das vielleicht wichtigste, in jedem Fall umfangreichste Buch von Hannah Arendt. Auf insgesamt 1015 Seiten rekonstruiert sie einerseits die Entwicklung des Antisemitismus im 18. und 19. Jahrhundert sowie das Aufkommen des Rassismus und des Imperialismus im 19. und frühen 20. Jahrhundert, andererseits entwirft sie eine umfassende Theorie des Totalitarismus, aufbauend auf den beiden historischen Formen totaler Herrschaft, dem Nationalsozialismus und dem Stalinismus. Dabei widmet sie sich auch der Frage totalitärer Organisationsformen zu.

Auch wenn Organisation und Propaganda letztlich zwei Seiten der gleichen Medaille seien, so sind die Organisationsformen totalitärer Bewegungen im Gegensatz zu den ideologischen Gehalten und den Propagandaschlagworten „von einer beispiellosen Originalität. Sie haben die Aufgabe, die zentrale ideologische Fiktion (die Verschwörung der Juden, der Trotzkisten, der Dreihundert Familien), um die das Lügengespinst der Propaganda jeweils neu gewoben wird, in die Wirklichkeit umzusetzen und in der noch nicht totalitären Welt Menschen so zu organisieren, dass sie sich nach den Gesetzen dieser fiktiven Wirklichkeit bewegen“ (766).

Bei der Organisation ihrer Anhängerschaft vor der Machtergreifung fällt zunächst „die Schaffung von Frontorganisationen und die Unterscheidung zwischen Parteimitgliedern und Sympathisierenden als wesentlich neues und originales Organisationsmittel auf. Dieser Erfindung gegenüber sind andere Phänomene, die wir heute gewöhnlich als typisch totalitär ansehen, wie die Ernennung aller Funktionäre von oben und die schließliche Monopolisierung aller Ernennungen durch einen Mann – das sogenannte Führerprinzip -, von sekundärer Bedeutung“ (767).

Plakat der Internationalen Arbeiterhilfe (IAH)
Die ersten organisierten Sympathisierenden- gruppen wurden von den kommunistischen Parteien  in den zwanziger Jahren ins Leben gerufen; sie waren jedoch vorerst nichts anderen als Zusammenfassungen von mehr oder minder vage sympathisierenden Freunden zwecks finanzieller oder anderer Hilfe.

Aber auch Hitler schlug bereits in Mein Kampf vor, die durch Propaganda gewonnenen Massen in Sympathisierende und Mitglieder aufzuteilen. Dabei kam es ihm darauf an, „in die Sympathisierendengruppen möglichst so viele Mitläufer wie möglich aufzunehmen, während die Parteimitgliedschaft als solche nach Möglichkeiten begrenzt wurde“ (769).

So benutzt die totalitäre Bewegung die Frontorganisationen „als einen Schutzwall, der die Mitgliedschaft, ihren fanatischen Glauben an die ideologische Fiktion und ihre `revolutionäre´ Moral gegen den Schock einer noch intakten Außenwelt schützt.“ Zugleich dient die Frontorganisation der Mitgliedschaft „als eine genau überwachte Brücke in die Normalität zurück“ (770). So wird die die deutliche Differenz zwischen seiner eigenen Haltung und der eines Sympathisierenden den Parteinazi oder den Parteibolschewisten „in seinem Glauben an die ideologisch-fiktive Erklärung von Welt und Geschichte gerade darum bestärken, weil der Sympathisierende ähnliche Meinungen in einer noch `normalen´ Form hegt“ (ebd.).

Wirklichkeitsersatz
Weil durch die Frontorganisationen der Sympathisierenden hindurch die Welt als voll von geheimen Verbündeten erscheint, sind die Frontorganisationen die von den totalitären Bewegungen eigens errichtete Fassade einer nichttotalitären Außenwelt. Es ist „der Ersatz der Wirklichkeit, der am wirksamsten vor der Wirklichkeit schützt“ (ebd.).

Schließlich ist der Gleichschaltungsprozess nach Hitlers Machtergreifung „ein Schulbeispiel der eminenten Bedeutung der paraprofessionellen Frontorganisationen.“ Dass die Nazis sofort imstande waren, nicht nur die politische Macht zu übernehmen, sondern das gesamte Gesicht der Gesellschaft buchstäblich von einem Tag zum anderen zu verändern, ist letztlich den Frontorganisationen zu verdanken: „Die im Schoße der nichttotalitären Gesellschaft gebildete totalitäre Gegengesellschaft war so genau dem Model der Wirklichkeit nachgebildet, dass es nicht eine Berufs-oder Standesgruppe in Deutschland gab, die nicht von einem Tag zum anderen übernommen und gleichgeschaltete werden konnte. Die einzige Organisation, die nicht direkt zu übernehmen war, war die Armee“ (781).

So war nach Arendt die Technik der Gleichschaltung war „erfinderisch neu und unwiderstehlich, wie der Verfall der beruflichen Standards in allen Gruppen rapid und radikal war, ein Verfall, der sich naturgemäß auf dem Gebiet der Kriegsführung unmittelbarer zeigte als in anderen Gebieten und der in Sowjetrussland, wo die totalitäre Regierungsform mehr Zeit gehabt hat, sich zu etablieren, und weniger feste berufliche Traditionen vorgefunden

Ein weiteres Merkmal der totalitären Organisationsformen besteht Arendt zufolge darin, dass die totalitäre Bewegung als Ganzes bereits vor der Machtergreifung so etwas wie eine eigene geschlossene Welt darstellen kann, in welcher Abstufungen und Differenzierungen die von den Eliteformationen gesicherte radikale Folgerichtigkeit der zentralen Fiktion nicht nur mildern, sondern auch gewissermaßen echte Meinungsverschiedenheiten ersetzen.

Auf diese Weise ist die Einfügung immer neuer Schichten mit erneuten Radikalitätsstufungen in unendlicher Wiederholbarkeit möglich und verhindert das Erstarren des Parteiapparats durch Bürokratisierung. So war die SA, 1922 gegründet, die erste Formation, „die bestimmt war, radikaler zu sein als die Partei selbst. Die SS wurde im Jahre 1926 als Eliteformation, das heißt als der militante Flügel der SA, gegründet. Drei Jahre später wurde die SS unter Himmlers Kommando von der SA getrennt, und in wenigen Jahren begann das gleiche Spiel, nun innerhalb der SS. Nacheinander, und sich an Radikalität ständig überbietend, traten aus der Allgemeinen SS, deren Mitglieder bis auf das höhere Führerkorps in ihren zivilen Berufen blieben, erst die Verfügungstruppen heraus, dann die Totenkopfverbände, die `Bewachungsmannschaften der Konzentrationslager´, schließlich der Sicherheitsdienst, der `weltanschauliche Nachrichtendienst der Partei´, dem die Ausführung der `negativen Bevölkerungspolitik´ unterstand, und das Rasse- und Siedlungswesen, dessen Aufgaben `positiver Art´ waren“ (774).

Der rein militärische Wert totalitärer Eliteformationen ist natürlich höchst zweifelhafter Natur, selbst wenn sie so militärisch organisiert werden, wie es bei der SA und SS der Fall war. Wichtiger war, dass die SA, wie andere paramilitärische faschistische Verbände, ein Instrument zur Vertretung und Stärkung des Weltanschauungskampfes des Bewegung´ war: „Für totalitäre Zwecke war es viel wichtiger, eine Scheinarmee auf die Beine zu stellen, die eine `kämpferische Haltung´ ausdrückte, als eine Truppe gut ausgebildeter Soldaten zur Verfügung zu haben“ (776f).

Verhaftung von Kommunisten durch SA, Berlin, März 1933
(
Bundesarchiv Bild 102-02920A)

Vor allem aber handelte es sich darum, „das Recht zum Morden sichtbar darzustellen, um die Abschaffung aller sittlichen und moralischen Standards, die gewöhnlich auch im Kriege gelten und die nun als `unkämpferisch´ denunziert wurden. Für Mordpropaganda brauchte man Mord- und Gewalttaten, aber keine militärischen Übungen“ (777).

Die Aufgabe der Eliteformationen und ihrer Morde ist es, die Bewegung in ihrer Gesamtheit schärfer von der Umwelt zu isolieren und jedem ihrer Mitglieder den Rückweg in die Normalität nach Möglichkeit zu versperren: „Hitler hat schon sehr früh, 1923, gemeint, es gäbe nur zwei Dinge, welche Menschen fest verbinden, `gemeinsame Verbrechen und gemeinsame Ideale´“ (783, Anm. 67).

Das Zentrum der Bewegung - Der Führer

Im Zentrum der Bewegung, als der Motor gleichsam, der sie in Bewegung setzt, sitzt natürlich der Führer. „Er lebt innerhalb eines intimen Kreises von Eingeweihten, die ihn von den Eliteformationen trennen und um ihn eine undurchdringliche Aura des Geheimnisses verbreiten“ (784).

Seine oberste Aufgabe ist es, „jene Doppelfunktionen zu personifizieren, die für jede Schichte der Bewegung charakteristisch ist: Er dient als der magische Schutzwall, aber die Bewegung gegen die Außenwelt verteidigt, und er ist gleichzeitig eine Brücke, durch die sie wenigstens scheinbar mit ihre verbunden ist und bleibt“ (787).

Es ist die gleichzeitige Übernahme eines totalen Verantwortungs- und eines totalen Erklärungsmonopols, die es dem totalitären Führer ermöglicht, „innerhalb seiner Bewegung der Radikalste der Radikalen zu sein und nach außen trotzdem in der Maskerade des ehrenwert-naiven Sympathisierenden zu erscheinen“ (789).

Allerdings wird nur von den Sympathisierenden erwartet, buchstäblich an des Führers Worte zu glauben. „Ihre Aufgabe ist es, die Bewegung in einen Nebel einfältiger Treuherzigkeit zu hüllen und dem Führer bei der einen Hälfte seiner Funktion, nämlich der, in der Umwelt Vertrauen zu erwecken, zu helfen. Von Parteimitgliedern wird nicht erwartet, dass sie öffentlichen Erklärungen Glauben schenken (…) Als Hitler seinen Legalitätseid vor dem Reichsgerichtshof der Weimarer Republik schwor, glaubten ihm nur die Sympathisierenden; die Parteimitglieder wussten, dass es sich um eine Meineid handelte, und vertrauten ihm desto mehr, weil er offenbar fähig war, die öffentliche Meinung und die höchsten Instanzen des Staates zu nasführen“ (803f).

Man hat totalitäre Bewegungen mit `Geheimgesellschaften´ verglichen, die sich im vollen Licht der Öffentlichkeit etablieren. Und nach Arendt weisen totalitäre Bewegungen „in der Tat auffallende Ähnlichkeit mit gewissen bekannten Charakteristiken von Geheimgesellschaften auf“: Auch hier gibt es Eingeweihte, „deren Leben nach den Vorschriften einer geheim gehaltenen Lebenssicht reguliert werden, derzufolge jede Tatsache und jedes Ereignis etwas anderes `bedeutet´, als was es in Wirklichkeit ist“ (790f).

Vor allem aber ist die Rolle des Rituals in den Bewegungen für ihre Affinität mit Geheimgesellschaften bezeichnend: „Die Umzüge auf dem Roten Platz in Moskau sind nicht weniger charakteristisch als die pompösen Feierlichkeiten der Nürnberger Parteitage. Im Zentrum des bolschewistischen Rituals ist die mumifizierte Leiche Lenins, wie im Zentrum des nazistischen Rituals die `Blutfahne´ war (…) Was produziert wird, ist das Erlebnis einer mysteriösen Handlung, das offenbar als solches Menschen besser und sicherer aneinanderkettet als das nüchterne Bewusstsein, ein Geheimnis miteinander zu teilen“ (793f).

Was produziert wird, ist das Erlebnis einer mysteriösen Handlung ...

Es ist wirklich verblüffend, in dieser wie in so vielen anderen Beziehungen die Ähnlichkeit zwischen der Nazi- und der bolschewistischen Bewegung feststellen zu können, vor allem, weil sie von so außerordentlich verschiedenen geschichtlichen Voraussetzungen ausgehend zu den gleichen Endresultaten gelangten.

„Die Selbstlosigkeit, ja Selbstauslöschung, auf die totalitäre Bewegungen bei ihren Anhängern rechnen können, hat wiederum ihresgleichen nur in Geheimgesellschaften, aber in keinerlei sonstigen politischen Parteien oder Formationen (…): Selbst vor den berühmten Moskauer Prozessen war Beobachtern aufgefallen, dass Todesurteile von ehemaligen Angehörigen der Partei und besonders von Mitgliedern der Tscheka mit merkwürdigem Gleichmut entgegengenommen wurden. Hier bewährt sich eine Organisationsform, die dafür sorgt, dass keines ihrer Mitglieder sich mehr ein Leben außerhalb ihrer vorstellen kann, so dass selbst der zum Tode Verurteilte das Spiel weiterspielt und nicht verrät, im Bewusstsein, noch im Tode zu der auserwählten Schar der `Eingeweihten´ zu gehören“ (800f).
 
Wyschinski (Mitte) verliest die Anklageschrift im zweiten Moskauer Prozess

Was diese Menschen wirklich miteinander verbindet und was weit über den engstirnigen Fanatismus jeder einzelnen Ideologie oder Weltanschauung hinausgeht, ist, so Arendt, „die Überzeugung von der Allmacht des Menschen. Dem moralischen Nihilismus des `Alles ist erlaubt´ haben sie durch den sehr viel radikaleren Nihilismus eines `Alles ist möglich´ erst seine wirkliche Grundlage gegeben. Für sie handelt es sich nicht um Wahnideen der Rasselehre oder der Klassentheoreme, und sie haben es nicht nötig, an die Verschwörung der Weisen von Zion oder der Wallstreet zu glauben. Ihnen genügt die Hybris, wirklich zu meinen, dass alles gemacht werden kann, dass alles Gegebene nur ein zeitweiliges Hindernis ist, das durch überlegene Organisation überkommen werden kann“ (811).

In einer fiktiven Welt gibt es eben keine Instanz, die Misserfolge als solche verbuchen könnte.

Zitate aus: Hannah Arendt: Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft, München 2009 (piper)



Donnerstag, 23. Oktober 2014

Norbert Hoerster und die staatliche Kulturförderung

Für Norbert Hoerster ist eine Gesellschaft dann eine gerechte Gesellschaft, wenn das Zusammenleben der Menschen in den wesentlichen Bereichen durch gerechte Normen geregelt ist. Diese sind gleichwohl keine absoluten, „der Menschheit vorgegebenen Normen eines sogenannten Natur- oder Vernunftrechtes“, sondern vielmehr „solche Normen, auf die sich rational eingestellt Menschen insofern einigen können, als sie bereit sind, sich sowohl mit den Vorteilen dieser Normen für sich selbst zufriedenzugeben als auch mit den Vorteilen dieser Normen für ihre Mitmenschen (und damit den möglichen Nachteilen für sich selbst) abzufinden“ (133).

Umsetzung von Gerechtigkeitsnormen - eine Aufgabe des Staates

Die Aufgabe des Staates besteht nun darin, die begründeten Gerechtigkeitsnormen erfolgreich umzusetzen. So wird es letztlich im wohlverstandenen Interesse der einzelnen Bürger liegen, dem Staat gewisse Befugnisse einzuräumen, die ihm die Sicherung der Grundrechte ermöglichen. Dazu zählen Hoerster zufolge vier Abwehrrechte  - Recht auf Leben, Recht auf körperliche Unversehrtheit, Recht auf Freiheit und Recht auf Schutz des Eigentums - und drei Anspruchsrechte - Recht auf Erfüllung eines geschlossenen Vertrages, Recht der unfreiwillig Armen auf Leben im Sinne einer gewissen Grundversorgung und das Recht der Heranwachsenden auf eine gewisse Erziehung und Ausbildung der eigenen Fähigkeiten.

Steuern müssen legitimiert werden!
In diesem Zusammenhang taucht unweigerlich die Frage auf, ob der Staat berechtigt ist, gewisse Projekte zu verfolgen und zu diesem Zweck von den Bürgern Steuern abzuverlangen. Hoerster zufolge ist es „ethisch völlig unvertretbar, als selbstverständlich davon auszugehen, dass der Staat – oder jedenfalls ein demokratischer Staat – ohne Weiteres jedes beliebige Projekt auf Kosten der Bürger verfolgen darf“ (115).

Vielmehr müssen zwei Bedingungen erfüllt sein, um ein Projekt, wodurch der Staat in das Leben der Gesellschaft eingreift, zu legitimieren:

„1. Das Projekt muss entweder im Interesse so gut wie aller Bürger oder im fundamentalen Interesse jedenfalls einiger Bürger liegen.

2. Das Ziel des Projektes muss unter den gegebenen Bedingungen auf privatwirtschaftlichem Wege nicht oder jedenfalls nicht vergleichbar gut erreichbar sein“ (116).

Neben Projekten, bei den beide Kriterien erfüllt sind (Ausbau der Infrastruktur des Landes, Verhinderung von Monopolen, Schaffung von Rahmenbedingungen des Arbeitsmarktes), gibt es jedoch eine Vielzahl von Projekten, bei denen sich der Staat „vollkommen beliebigen Projekten“ widmet, die „letztlich vor allem der Selbstinszenierung und Wählergewinnung der Politiker dienen“ (122).

Dies gilt im besonderen Maße für die Förderung der sogenannten „Kultur“, also dem Unterhalt und/oder finanzieller Unterstützung von Theatern, Opernhäusern, Museen, Freizeitparks, Festspielen, Filmproduktionen und ähnlichen Einrichtungen.

Bedingung 1 ist hier im Regelfall nicht erfüllt. So liegen beispielsweise die vom Staat geförderten Bayreuther Festspiele weder im Interesse aller noch im fundamentalen Interesse einiger Bürger. Aber selbst wenn die Mehrheit überhaupt an der sogenannten „Kultur“ interessiert wäre, ist vollkommen unklar, worin diese „Kultur“ überhaupt besteht.

Kultur? Was ist überhaupt Kultur?

Zunächst ist „die Kultur“ eine enorme Vielzahl völlig unterschiedlicher Bereiche und Produkte. „Und jedes dieser verschiedenen Produkte können im Prinzip jene Individuen privatwirtschaftlich unterhalten, veranstalten und fördern, die an speziell diesem Produkt interessiert sind“ (119). Auch die zweite Bedingung ist also mit Sicherheit nicht erfüllt.

Das würde bedeuten, dass ohne die staatliche Unterstützung jeder wirklich interessierte Bürger mit dem gesparten Steuergeld genau jene und nur jene „Kultur“ unterstützen würde, an der er selber interessiert ist.

Darüber hinaus würden die rein privaten Kulturinstitutionen nicht auf unfaire Weise von den staatlich geförderten Institutionen vom Markt verdrängt werden, mit denen sie aufgrund deren Förderung kaum konkurrieren können.

So sei es letztlich auf ein Zeichen enormer Angepasstheit und geringer geistiger Aufgeklärtheit der Bevölkerung, dass zwar einerseits niemand akzeptieren würde, wenn sein Nachbar ihm die 500 Euro aus einem Lottogewinn rauben würde, um damit seinen Garten zu verschönern, „dass gleichzeitig aber offenbar niemand Probleme damit hat, wenn seine Stadtgemeinde ihm den gleichen Betrag zur Erbauung eines `Museums für moderne Kunst´, das er nie zu betreten vorhat, in Form von Steuern wegnimmt“ (122).

Die Bayreuther Festspiele: Eine Bühne zur Selbstinszenierung
von Politikern - bezahlt aus Steuergeldern

Es ist schon skurril: „Wieso werden in unserer Gesellschaft zwar sämtliche unverzichtbaren materiellen Nahrungsmittel privatwirtschaftlich hergestellt und vermarktet, zahlreiche der nicht annähernd so unverzichtbaren geistigen Nahrungsmittel aber staatlich?“ (120).


Zitate aus:  Zitate aus: Norbert Hoerster: Was ist eine gerechte Gesellschaft? Eine philosophische Grundlegung. München 2013 (C.H. Beck)  -  

Donnerstag, 16. Oktober 2014

Hannah Arendt und der Totalitarismus - Teil 2: Totalitäre Propaganda

In ihrem Hauptwerk „Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft“ (1955 auf Deutsch erschienen) rekonstruiert Hannah Arendt die Entwicklung des Antisemitismus im 18. und 19. Jahrhundert sowie das Aufkommen des Rassismus und des Imperialismus im 19. und frühen 20. Jahrhundert. Aber das Buch enthält nicht nur reine Geschichtsschreibung. Vielmehr entwirft auch eine umfassende Theorie des Totalitarismus, aufbauend auf den beiden historischen Formen totaler Herrschaft, dem Nationalsozialismus und dem Stalinismus.

Die Massen müssen durch
Propaganda gewonnen werden
Sobald die totalitären Diktaturen „fest im Sattel sitzen, benutzen sie Terror, um ihre ideologischen Doktrinen und die aus ihnen folgenden praktischen Lügen mit Gewalt in die Wirklichkeit umzusetzen: Terror wird zu der spezifischen Regierungsform“ (727).

Weil aber totalitäre Bewegungen zunächst in einer Welt existieren, die selbst nicht totalitär ist, ist Propaganda ein unabdingbarer Bestandteil des Totalitarismus, denn „die Massen können nur durch Propaganda gewonnen werden“ (726).

Im Gegensatz zu älteren Formen politischer Propaganda, die dazu neigte, sich auf die Vergangenheit zu berufen, um Gegenwärtiges zu rechtfertigen, wendet totalitäre Propaganda „wissenschaftliche“ Methoden an, um die eigene Zukunft zu prophezeien: „Niemals zeigt sich deutlicher, wie sehr gerade auf den Ideologien – Sozialismus oder Rassendoktrinen – die eigentliche Anziehungskraft der Bewegungen beruht, als wenn die Massenredner, anstatt zu sagen, was sie konkret zu tun gedenken, unter ungeheurem Beifall auseinandersetzen, dass sie die verborgenen Kräfte entdeckt haben, welche ihnen und allen, die mit ihnen gehen, unweigerlich Glück bringen werden in der voraussagbaren und durchschaubaren Kette des Geschicks (…)

Propaganda und Prophetie
Tocqueville kannte bereits die große abergläubische Kraft, die von `absoluten Systemen´ ausgeht, `die alle Ereignisse der Geschichte von primären großen Ursachen abhängig machen und sie so in eine Kette der Notwendigkeit binden, die es erlaubt, die Menschen gleichsam aus der Geschichte des Menschengeschlechts zu eliminieren´“ (734).

Natürlich könne man die Techniken der totalitären Propaganda mit den Techniken der Massenreklame vergleichen, die schließlich auch mit pseudowissenschaftlichen Argumenten und umfangreichen Laborergebnissen zu beweisen versucht, dass „diese Seife die beste Seife der Welt“ sei. Dennoch sei die Pseudowissenschaftlichkeit der Massenpropaganda viel ernsterer Natur, weil sie in sehr exakterer Weise den eigentlichen Wünschen der Massen entspricht, als die Massenreklame. (734)

Die „demagogische Seite aller ideologisch-wissenschaftlichen Massenpropaganda“ ist natürlich nicht von den totalitären Bewegungen erfunden, „wohl aber technisch verbessert worden. Man kann natürlich eine außerordentlich große Durchschlagskraft trotz größter inhaltlicher Absurdität erreichen, sobald man ein Argument prinzipiell und in voller Konsequenz der Kontrolle durch Gegenwart wie Vergangenheit entzieht und behauptet, dass nur eine unbestimmt gehaltene Zukunft seine Richtigkeit beweisen kann.“ (735)

Für Arendt beruht der Erfolg der totalitären Propaganda aber nicht so sehr auf ihrer Demagogie sondern darauf, dass sie versteht, dass Interessen sich als eine kollektive Kraft nur geltend machen können in einer gruppenmäßig geordneten, also nicht vermassten Gesellschaft. Sobald aber stabile, soziale Gemeinschaften nicht mehr existieren, verschwinden mit ihnen auch die „Übertragungsbänder …, die individuelle Interessen in Gruppen- und Kollektivinteressen transformieren.“ (739)

... jederzeit zum Opfertod bereit!
Erst damit wird der Massenmensch zu jener fanatischen und jederzeit zum Opfertod bereiten Ergebenheit fähig, die sich so deutlich von der Loyalität der treuesten Mitglieder normaler Parteien unterscheidet. „Die Nazis haben bewiesen, dass man ein ganzes Volk mit dem Schlagwort `Sieg oder Untergang´ in den Krieg führen kann – ein Schlagwort, dass die Kriegspropaganda des Ersten Weltkrieges sorgsam vermieden hat.“ (739)

Der Führer der Massen ist natürlich unfehlbar und darf niemals einen – auch noch so kleinen - Irrtum zugeben. Diese Unfehlbarkeit gilt aber nicht so sehr als ein Zeichen einer überlegenen Intelligenz als vielmehr eines Bündnisses mit den unfehlbar verlässlichen Kräften der Geschichte oder der Natur.

Arendt zufolge besteht die Hauptschwierigkeit totalitärer Propaganda darin, dass sie die Sehnsucht der Massen nach einem völlig in sich konsequenten, verständlichen und voraussagbaren Geschehen nicht erfüllen kann, ohne mit dem gesunden Menschenverstand in Konflikt zu geraten: „Die Revolte der Massen gegen den Wirklichkeitssinn des gesunden Menschenverstands und das, was ihm im Lauf der Welt plausibel erscheint, ist das Resultat einer Atomisierung, durch die sie nicht nur ihren Stand in der Gesellschaft verloren, sondern mit ihm die ganze Sphäre gemeinschaftlicher Beziehungen, in deren Rahmen der gesunde Menschenverstand allein sinngemäß funktionieren kann (…) (747).

Dies lässt sich Arendt zufolge sehr gut am Beispiel des Antisemitismus belegen: „Bekanntlich wurde die Fabel von einer jüdischen Weltverschwörung zur wirksamsten Fiktion der Nazipropaganda vor der Machtergreifung. Antisemitismus hatte sich seit dem letzten Drittel des 19. Jahrhunderts als die wirksamste Waffe demagogischer Propaganda bewährt und bildete auch ohne jeden Einfluss von seitens der Nazis in den zwanziger Jahren in Deutschland und Österreich einen der mächtigsten Faktoren der öffentlichen Meinung“ (749f).



"Nur wo der gesunde Menschenverstand seinen Sinn verloren hat,
kann ihm totalitäre Propaganda ungestraft ins Gesicht schlagen.“ (Hannah Arendt, 747)
Die Themen der antisemitischen Nachkriegspropaganda waren also weder originell noch ein Monopol der Nazis. Vielmehr entwickelte die Propaganda der Nazis inmitten einer Unzahl antisemitischer Gruppen und in einer mit Antisemitismus geschwängerten Atmosphäre eine Methode, die sich von allen anderen unterschied und allen anderen überlegen war.

Entscheidend war nämlich, „NSDAP sich nicht damit begnügte, Juden von der Mitgliedschaft auszuschließen, sondern von vornherein den Nachweis nichtjüdischer Abstammung verlangte und dass sie … sich nur undeutlich drohend über die Maßnahmen gegen Juden nach der Machtergreifung äußerte. Innerhalb der Nazipropaganda war Antisemitismus nicht mehr eine Frage einer Meinung über ein Volk, die Juden, sondern wurde zu einer inneren Angelegenheit jedes Mitglieds, zu einer Frage seiner persönlichen Existenz“ (752f).

So lag die eigentliche Originalität der Nazis nicht in der Erfindung neuer, sondern in der Benutzung alter und bereits bewährter Schlagworte, beginnend mit dem eigenen Namen der Partei: In einer Zeit, in der Nationalismus und Sozialismus die populären Brennpunkte des politischen Fanatismus darstellten, warfen sie Nazis „eine Synthese auf den Wortmarkt, die nationale Einheit versprach.“ Nur begnügte sie sich nicht damit, sondern weil sie ihrem Namen „zur Sicherung noch die (rechte) Handelsmarke „deutsch“ und die (linke) „Arbeiter“ anheftete, stahl die Bewegung allen anderen Parteien ihre politischen Gehalte und prätendierte, sie alle in sich zu verkörpern“ (754f).

Rechte und linke "Handelsmarken" vereint
So bediente sich die Nazipropaganda ungeniert überall dort, wo es sich um Ideologien und ideologische Schlagworte handelte und vermied es zugleich misstrauisch, sich jemals auf eine Diskussion bestimmter Regierungsformen einzulassen oder eine Stellung in dem Kampf zwischen Anhängern monarchischer oder republikanischer Staatsformen zu beziehen. „Es ist, als hätten die Nazis von Anfang an gewusst, dass sie in diesem einen Punkt absolut originell sein würden“ (755).

Arendt nach hat totalitäre Propaganda ihr Ziel nicht erreicht, wenn sie überzeugt, sondern wenn sie organisiert, d.h. sie ist „die Kunst der Machtbildung ohne den Besitz der Machtmittel“ (762): „Totalitäre Führer sind keine Demagogen im gewöhnlichen Sinne, und sicher keine `charismatischen´ Führer im Sinne Max Webers. Was sie auszeichnet, ist die unbeirrbare Sicherheit, mit der sie sich aus bestehenden Ideologien die Elemente heraussuchen, die sich für die Etablierung einer den Tatsachen entgegengesetzten, ganz und gar fiktiven Welt eignen“ (763).

Die Kunst des totalitären Führers besteht nun darin, „in der erfahrbaren Realität geeignete Elemente für seine Fiktion herauszufinden und sie so zu verwenden, dass sie fortan von aller überprüfbaren Erfahrung getrennt bleiben. (…) Dadurch wird eine Konsequenz und Stimmigkeit erreicht, mit der die wirkliche Welt und die nicht verabsolutierte Erfahrung nie und nimmer in Konkurrenz treten können.

Die Hartnäckigkeit, mit der totalitäre Führer an den ursprünglichen Lügen, welche die Bewegung zur Macht gebracht haben, selbst dann festhalten, wenn ihre Absurdität voll erwiesen ist, hat wenig mit der bekannten Psychologie des Lügners zu tun.“ (763)

Der „Vorteil“ dieser Methode besteht gerade darin, dass, sobald die Lügen der Propaganda sich in einer ´lebendigen Organisation´ verkörpert haben, sie nicht mehr eliminiert werden können, ohne das ganze Gebäude der Organisation selbst zu gefährden: Deshalb handelten die Nazis wirklich so, „als ob die Welt von Juden beherrscht sei und einer Gegenverschwörung bedürfe, um gerettet zu werden. Die Rassedoktrinen waren nicht mehr eine Theorie höchst zweifelhaften wissenschaftlichen Wertes, sondern wurden jeden Tag innerhalb einer funktionierenden Welt realisiert, in deren Rahmen es höchst `unrealistisch´ gewesen wäre, ihren Realitätswert zu bezweifeln“ (764).

So ist der wahre Grund für die unabwendbare, prinzipielle Überlegenheit aller totalitären Propaganda über die Propaganda aller anderen Parteien oder Regierungen, vor allem der, dass ihr Inhalt nichts mehr mit Meinungen zu tun hat, über die man streiten könnte, sondern zu einem ebenso unangreifbar realen Element ihres täglichen Lebens geworden ist, wie die Tatsache, dass zwei mal zwei vier ist.

So ist für Arendt die totalitäre Propaganda keine Propaganda im üblichen Sinn und kann daher auch nicht durch Gegenpropaganda widerlegt oder bekämpft werden. Sie ist vielmehr Teil der totalitären Welt und wird nur mit ihr zusammen untergehen: „Erst im Moment der Niederlage macht sich die wesentliche Schwäche totalitärer Propaganda geltend. Bricht die Bewegung aus gleich welchen äußeren Gründen zusammen und ist die `Gewalt der Organisation´ verschwunden, so hören ihre Anhänger von einem Tag zum anderen auf, an ein Dogma und eine Fiktion zu glauben, der ihr Leben zu opfern sie gestern noch bereit waren. Mit dem Zusammenbruch ihrer fiktiven Heimat kehren die Massen wieder in die Welt zurück, vor deren Realität die Bewegung sie geschützt hatte, werden wieder zu den isolierten Individuen, als die sie sich massenhaft zusammengefunden hatten, und übernehmen entweder neue Aufgaben in einer veränderten Welt oder fallen in die verzweifelte Überflüssigkeit zurück, vor der die Fiktion sie für einen Moment erlöst hatte“ (765).

Der Zusammenbruch der fiktiven Heimat ist nahe ...!

Die sei auch der Grund dafür, dass die Alliierten nach der Niederlage von Nazideutschland vergeblich nach einem einzigen überzeugten Nazi in der Bevölkerung fahndeten, und dies besage nichts gegen die Tatsache, dass vermutlich achtzig Prozent des deutschen Volkes irgendwann einmal überzeugte Nazis gewesen waren: „Der Nazismus als eine Ideologie war so vollständig in der Organisation der Bewegung und des Reiches `realisiert´ worden, dass von seinem Inhalt als einem System bestimmter Doktrinen mit einer von der Realität unabhängigen geistigen Existenz nichts übriggeblieben war. Die Zerstörung der Nazifiktion in der Wirklichkeit hinterließ buchstäblich nichts, nicht einmal den Fanatismus des Aberglaubens“ (765f).

(Fortsetzung folgt)


Zitate aus: Hannah Arendt: Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft, München 2009 (piper)


Donnerstag, 9. Oktober 2014

Norbert Hoerster und die notwendigen Grundrechte

Unter Grundrechten werden die Rechtsnormen zusammengefasst, die im Prinzip für jedes Mitglied der Gesellschaft von fundamentaler Bedeutung sind. Man kann bei den Grundrechten unterscheiden zwischen Abwehrrechten und Anspruchsrechten.

Die Abwehrrechte dienen ausschließlich der Abwehr oder Verhinderung von schädigenden Angriffen auf einen Menschen. Diese Normen verpflichten also nicht zu einem bestimmten Handeln, wohl aber zu einem bestimmten Unterlassen.

Im Anschluss an den liberalen Denker Robert Nozick (1938 – 2002) geht auch Norbert Hoerster in seinem Buch „Was ist eine gerechte Gesellschaft? Eine philosophische Grundlegung“ von vier zentralen Abwehrrechten aus: Dem Recht auf Leben, dem Recht auf körperliche Unversehrtheit, dem Recht auf Freiheit und dem Recht auf Schutz des Eigentums. 


Liegen praktisch im Interesse eines jeden Menschen: Das Recht auf Leben, das Recht auf körperliche Unversehrtheit, das Recht auf Freiheit und das Recht auf Schutz des Eigentums 


Bereits John Locke (1632 - 1704) hatte den Anspruch der Individuen auf bestimmte Grundrechte in seiner Zweiten Abhandlung über die Regierung (§87) durch den Begriff des "Eigentums" - property - beschrieben, mit dem Locke den Anspruch auf die drei anderen Rechte, Leben, Freiheit und Besitz - life, freedom, estate - zusammenfasst.

Begründen lassen sich diese vier Rechtsnormen dadurch, dass jeder Mensch im Grunde von ihnen profitiert. Der Schutz, den sie propagieren, liegt insofern „im allgemeinen subjektiven – und damit im intersubjektiven – Interesse praktisch aller Bürger“ (43).

Diese Grundrechte können gleichwohl in Konflikt miteinander geraten. Wenn ich ein Kind nur dadurch aus einer brennenden Wohnung retten kann, indem ich die Tür einschlage, so ist die Verletzung des Eigentumsrechtes in diesem Fall offensichtlich gerechtfertigt.

Diese Beobachtung führt gleichwohl zu der Erkenntnis, dass die Grundrechte nicht eine absolute Gültigkeit besitzen, sondern als prima facie Rechte (lat. „auf den ersten Blick“, „bis auf Widerruf“, „solange sich keine gegenteiligen Evidenzen einstellen“) zu verstehen sind, d.h. sie sind  prinzipiell zu befolgen, aber nicht unter allen Umständen.

Neben den Abwehrrechten gibt es die Grundrechte auch in Form von Anspruchsrechten. Dabei ist die „mit einem Anspruchsrecht verbundene Pflicht … zu einem bestimmten Handeln … in der Regel viel anspruchsvoller als die mit einem Abwehrrecht verbundene Pflicht … zu einem bestimmten Unterlassen“ (47).

Nach Ansicht Hoersters gibt es drei zentrale Anspruchsrechte:

Das Recht auf Erfüllung eines geschlossenen Vertrages gibt kaum Anlass zu Diskussionen, denn auch hier ist offenkundig, dass jeder aufs Ganze gesehen von diesem Recht profitiert.

Schwieriger hingegen verhält es sich mit dem „Anspruchsrecht auf Leben.“  Hoerster versteht darunter das Recht, „mit jeden Grundgütern versorgt zu werden, die für jeden Menschen die notwendige Voraussetzung eines gelungenen, glücklichen Lebens sind, dass heißt also mit einer ausreichenden Ernährung, mit einer erträglichen Unterkunft und mit einer im Notfall zur Verfügung stehenden medizinischen Versorgung“ (49).


Grundsicherung - ein Recht für jeden Bürger?
(Foto: Karl-Josef Hildenbrand/DPA)

Dieses Recht sollte Hoerster zufolge gleichwohl nur ganz bestimmten Menschen zugestanden werden, den "unfreiwillig Armen“, also denen, die "aus nachvollziehbaren Gründen nicht dazu in der Lage sind, sich diese Grundgüter selber zu beschaffen.“

Es gibt also prinzipiell keinen Grund, „wirklich jedem Bürger ein Recht auf Leben im Sinne der genannten Grundgüter“ einzuräumen: „Warum soll jemand, der diese Grundgüter bereits besitzt bzw. sich mit seinem vorhandenen Vermögen oder durch seiner Hände Arbeit problemlos beschaffen kann, aber vielleicht zu faul zum Arbeiten ist, derart von der Gesellschaft, also seinen Mitbürgern versorgt werden?“ (ebd.).

In der Sichtweise Hoersters ist das Anspruchsrecht auf Leben oder Grundversorgung also keine Forderung der Verteilungsgerechtigkeit, sondern der Grundgerechtigkeit, denn hier geht es ja gerade nicht darum, „irgendwelche Unterschiede in der Gesellschaft auszugleichen, sondern darum, jedem Bürger, der über eine bestimmte relevante Eigenschaft – die unfreiwillige Armut – verfügt, einen bestimmten Anspruch zu gewähren.

Auch das dritte Anspruchsrecht, das sich in der Forderung nach einem allgemeinen Recht auf Chancengleichheit ausdrückt, wird von Hoerster als unbegründet und utopisch zurückgewiesen.

Chancengleichheit: utopisch und unbegründbar

Diese Forderung wird meist so verstanden, dass „allen Menschen bzw. Bürgern im Sinn der Verteilungsgerechtigkeit gleiche Chancen im Sinne gleicher Ausgangsbedingungen für ein erfolgreiches Leben bereitgestellt werden“ (54).

Für Hoerster aber gibt es überhaupt keinen Grund, warum beispielsweise die von der Natur Bevorteilten auf ihre Erfolgschancen zugunsten der Benachteiligten freiwillig verzichten sollten. Vielmehr kann zwischen Menschen mit unterschiedlichen natürlichen Begabungen und Fähigkeiten in der Regel auf eine realistische wie legitime Art und Weise keine Chancengleichheit hergestellt werden.

Wolle man dagegen Chancengleichheit in dem Sinn herstellen, dass alle Menschen nicht nur die naturgegebenen, auch die gleichen sozialen Möglichkeiten zur Ausbildung ihrer Fähigkeiten – und damit die gleichen realen Erfolgsaussichten – haben, müsse man gezwungenermaßen „alle Menschen einer Gesellschaft in den gleichen sozialen Verhältnissen aufwachsen lassen. Zu diesem Zweck müsste man alle Kinder unmittelbar nach der Geburt ihren Eltern dauerhaft wegnehmen, sie über ihre Herkunft in Unkenntnis lassen und sie in staatlichen Anstalten, die alle gleich ausgestattet sind, aufziehen und unterrichten.“ – Eine Horrorvorstellung …

Der tyrannische Herrscher ("Allegorien auf die gute und schlechte Regierungen"
von
Ambrogio Lorenzetti, Wandmalerei im Rathaus von Sienna)

Völlig anders sieht dagegen die Beurteilung Hoersters aus, wenn es um die Forderung nach dem Recht auf eine gewisse Erziehung und Ausbildung geht.

Auch hier – wie schon beim Anspruchsrecht auf eine Grundversorgung – geht es schließlich nicht darum, „irgendwelche Menschen bzw. Gruppen von Menschen anderen Menschen gleichzustellen, sondern in erster Linie darum, allen Bürgern der eigenen Gesellschaft, soweit möglich, eine reelle Chance zu geben, auf der Basis ihrer gegebenen Fähigkeiten und Lebensumstände ein sinnvolles Leben zu führen“ (59).

Ob mit diesem Recht auch der Anspruch verbunden ist, Begabten aus der Unterschicht neben der Schul- auch eine Universitätsausbildung einschließlich Lebensunterhalt zu finanzieren, oder ob die Geförderten diese Kosten später wieder erstatten sollten, sind Fragen, die auch in Abhängigkeit vom Gesamtwohlstand der jeweiligen Gesellschaft beantwortet werden müssen.

Das Ziel jedenfalls, „allen Menschen ein gleichermaßen gelungenes, erfülltes Leben zu verschaffen, ist weder begründbar noch unter Wahrung der  vier oben genannten Abwehrrechte auch nur ansatzweise erreichbar“ (62).

Zitate aus: Norbert Hoerster: Was ist eine gerechte Gesellschaft? Eine philosophische Grundlegung. München 2013 (C.H. Beck)  -  John Locke: Zweite Abhandlung über die Regierung, Frankfurt am Main 2007 (Suhrkamp Studienbibliothek) 

Zur Frage der Menschenrechte siehe auch: Noberto Bobbio: Das Zeitalter der Menschenrechte. Ist Toleranz durchsetzbar?, Berlin 2007 (Wagenbach)

Donnerstag, 2. Oktober 2014

Hannah Arendt und der Totalitarismus - Teil 1: Die Massen

„Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft“ (1955 auf Deutsch erschienen) ist das vielleicht wichtigste, in jedem Fall umfangreichste Buch von Hannah Arendt. Auf insgesamt 1015 Seiten rekonstruiert sie einerseits die Entwicklung des Antisemitismus im 18. und 19. Jahrhundert sowie das Aufkommen des Rassismus und des Imperialismus im 19. und frühen 20. Jahrhundert, andererseits entwirft sie eine umfassende Theorie des Totalitarismus, aufbauend auf den beiden historischen Formen totaler Herrschaft, dem Nationalsozialismus und dem Stalinismus.

Arendt geht davon aus, dass totalitäre Herrschaft ohne Unterstützung durch eine Massenbewegung möglich ist: „Totalitäre Bewegungen sind Massenbewegungen, und sie sind bis heute die einzige Organisationsform, welche die modernen Massen gefunden haben und die ihnen adäquat scheint.“ (663)

„Ohne den Führer sind die Massen ein Haufen,
ohne die Massen ist der Führer ein Nichts“ (Hannah Arendt)

So seien totalitäre Bewegungen überall da möglich, wo Massen existieren, die „aus gleich welchen Gründen“ nach politischer Organisation verlangen. Das Entscheidende ist, dass die Massen nicht von gemeinsamen Interessen zusammengehalten werden, ihnen somit auch jedes spezifische Klassenbewusstsein fehlt, das sich bestimmte, begrenzte und erreichbare Ziele setzt.

Vielmehr ist der Ausdruck `Masse´ „überall da zutreffend, und nur da, wo wir es mit Gruppen zu tun haben, die sich, entweder, weil sie zu zahlreich oder weil sie zu gleichgültig für öffentliche Angelegenheiten sind, in keiner Organisation strukturieren lassen, die auf gemeinsamen Interessen an einer gemein erfahrenen und verwalteten Welt beruht, als in keinen Parteien, keinen Interessenverbänden, keinen lokalen Selbstverwaltungen, keinen Gewerkschaften, keinen Berufsvereinen“ (668).

Totale Herrschaft setzt also die allmähliche Zerstörung des politischen Raums und die Entfremdung des Individuums in der Massengesellschaft voraus. Mit dem Wegfall der Klassenstruktur und dem Zusammenbruch des Parteiensystems nun verwandelten sich Arendt zufolge die apathischen Mehrheiten, die bisher hinter jeder Parteien gestanden hatten, in „eine unorganisierte, unstrukturierte Masse verzweifelter und hasserfüllter Individuen, die nicht verband außer der allen gemeinsamen Einsicht, dass die Hoffnungen der Parteimitglieder auf die Wiederkehr der guten alten Zeit sich nicht erfüllen und dass sie jedenfalls diese Wiederkehr schwerlich erleben würden und dass daher diejenigen, welche bisher die Gemeinschaft vertraten … in Wahrheit Narren waren, die sich mit den bestehenden Mächten verbündeten, um alle übrigen entweder aus schierer Dummheit oder aus schwindelhafter Gemeinheit in den Abgrund zu führen“ (677f).
 
NSDAP - Reichsparteitag in Nürnberg (1936)

Das Erstaunliche nun ist, dass die politischen Eliten Europas „mindestens seit Jakob Burckhardt und Nietzsche“ auf das Emporkommen von Demagogen und Militärdiktaturen, auf die Verbreitung von Aberglauben, Leichtgläubigkeit, Dummheit und Brutalität vorbereitet waren. Es war daher schon unverzeihlich, dass sich viele Intellektuelle „in den Zeiten der Prüfung" von den Versprechungen des Kommunismus und Nationalsozialismus haben betören lassen.

Schlimmer jedoch war, dass sie kaum die Folgen dieses Phänomens eines radikalen Selbstverlusts vorausgesehen oder richtig eingeschätzt haben, „diese zynische oder gelangweilte Gleichgültigkeit, mit der die Massen dem eigenen Tod begegneten oder anderen persönlichen Katastrophen, und ihre überraschende Neigung für die abstraktesten Vorstellungen, diese leidenschaftliche Vorliebe, ihr Leben nach sinnlosen Begriffen zu gestalten, wenn sie dadurch nur dem Alltag und dem gesunden Menschenverstand, den sie mehr verachteten als irgend etwas sonst, entgehen konnten.“ (680)

Arendt verdeutlicht diese Beobachtung an den Moskauer Prozessen und der Liquidierung der Röhm-Fraktion. Beide wären nicht möglich gewesen, „wenn nicht gerade die Massen hinter Stalin und Hitler gestanden hätten“ (659).

Totalitäre Führer sind eben nicht nur Demagogen, und das Beunruhigende ihres Erfolges liegt nicht allein darin, dass sie an pöbelhafte Instinkte appellieren. Was die modernen Massen beispielsweise vom Mob unterscheidet, ist die Selbstlosigkeit und Desinteressiertheit am eigenen Wohlergehen, die sich so auffallend in den modernen totalitären Massenorganisationen manifestiert. Dass Mitglieder totalitärer Bewegungen sich nicht über Verbrechen gegen Gegner ihrer Ideologie aufregen, ist selbstverständlich. Aber keineswegs selbstverständlich ist, „dass wir die gleiche Bewunderung für das Verbrechen, oder doch zumindest die gleiche Indifferenz, auch dann antreffen, wenn die Betroffenen Mitglieder der eigenen Bewegung sind, und dass schließlich, wie wir aus zahllosen Beispielen aus der kommunistischen Partei wissen, die Anhänger auch dann nicht in ihren Überzeugungen zu erschüttern sind, wenn sie selbst die Opfer werden“ (660).
 
Das Selbstbild der Führer des Totalitarismus

Das war es auch, was die gesamte zivilisierte Welt an den Moskauer Prozessen so erschütterte und verwirrte: „Dass die Opfer als die willigen Helfershelfer der Ankläger erschienen und in ihren `Geständnissen´ die freien Erfindungen der Staatsanwaltschaft eher noch überboten. Die Parteidisziplin, der sie sich unterstellt hatten, als sie in die Bewegung eintraten … hielt allen Proben stand (…) Das Argument, dem sie sich alle beugten, lautete: `Wenn du wirklich, wie du behauptest, für die Sowjetunion bist, dann kannst du es augenblicklich nur dadurch beweisen, dass du die Geständnisse ablegst, die die Regierung von dir verlangt, weil sie in diesem Zeitpunkt solche Geständnisse braucht´“. Sie blieben, mit anderen Worten, auch auf der Anklagebank noch Funktionäre der Partei und bemühten sich … eifrig, das Beweismaterial für ihre eigenen Todesurteile … herbeizuschaffen“ (660f).

Die totalitären Bewegungen sind also „Massenorganisationen atomisierter und isolierter Individuen“, bei denen man eine im Vergleich zu anderen Parteien und Bewegungen, erstaunliche Ergebenheit und `Treue´ beobachten kann:

„Wie sehr die totale Ergebenheit der Mentalität des Massenindividuums entspricht, kann man deutlichst daran ablesen, dass totalitäre Führer und Bewegungen sich auf sie verlassen können, bevor sie die Macht ergriffen und den totalen Terror organisiert haben. Innerhalb der Bewegung genügt die ideologisch begründete Behauptung, dass die Bewegung im Begriff stehe, die gesamte Menschheit zu organisieren, vollkommen, denn wer diese Behauptung ernst nimmt, schließt sich ja von der zukünftigen Menschheit überhaupt aus, wenn er die Forderung der totalen `Treue´ nicht erfüllt“ (697f).
 
"Totalitäre Bewegungen sind Massenorganisationen
atomisierter und isolierter Individuen"

An dieser Stelle gibt Arendt bereits einen Ausblick auf einen der Wesenszüge totaler Herrschaft: Diese gibt sich nämlich niemals damit zufrieden, von außen, durch den Staat und einen Gewaltapparat, zu herrschen, sondern „in der ihr eigentümlichen Ideologie und der Rolle, die ihr in dem Zwangsapparat zugeteilt ist, hat die totale Herrschaft ein Mittel entdeckt, Menschen von innen her zu beherrschen und zu terrorisieren“ (701).

So haben weder der Nationalsozialismus, noch der Bolschewismus jemals eine neue Staatsform proklamiert oder behauptet, dass ihre Ziele mit dem Ergreifen der Macht und des Staatsapparats befriedigt seien. Was die Herrschaft betrifft, so ging es ihnen um etwas, was kein Staat und bloßer Gewaltapparat, sondern nur eine ständig „in Bewegung gehaltene Bewegung“ leisten kann, nämlich die ständige und sich auf alles erstreckende Beherrschung jedes einzelnen Menschen:

„Die Macht als Gewalt ist für die totalitäre Herrschaft niemals ein Ziel, sondern nur ein Mittel, und die Machtergreifung in einem gegebenen Land nur das willkommene Durchgangsstadium, nicht das Ende der Bewegung. Das praktische Ziel der Bewegungen ist, soviel Menschen wie möglich in die Bewegung hineinzuorganisieren und in Schwung zu bekommen; ein politisches Ziel, bei dem die Bewegung an ihr Ende kommen würde, gibt es überhaupt nicht“ (702).

Dazu gehört selbstverständlich auch die Unterdrückung aller höheren Formen geistiger Aktivität. Totale Beherrschung kann daher die freie Initiative in keinem Lebensbereich erlauben, „weil sie kein Handeln zulassen darf, das nicht absolut voraussehbar ist. Die totalitäre Bewegung muss daher, wenn sie erst einmal die Macht in der Hand hat, unerbittlich alle Talente und Begabungen, ohne Rücksicht auf etwaige Sympathien durch Scharlatane und Narren ersetzen; ihre Dummheit und ihr Mangel an Einfällen sind so lange die beste Bürgschaft für die Sicherheit des Regimes, als dieses noch nicht seine eigene Funktionärsschicht herangezogen hat, die selbst gegen die Menschlichkeit der Narrheit und Scharlatanerie gefeit ist“ (724).

(Fortsetzung folgt)


Zitate aus: Hannah Arendt: Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft, München 2009 (piper)   -   Weitere Literatur: Joachim Fest: Bürgerlichkeit als Lebensform. Späte Essays, Hamburg 2008 (Rowohlt)   -   Michael Rohrwasser: Der Stalinismus und die Renegaten, Stuttgart 1991 (Metzler)