„Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft“ (1955 auf
Deutsch erschienen) ist das vielleicht wichtigste, in jedem Fall umfangreichste
Buch von Hannah Arendt. Auf insgesamt 1015 Seiten rekonstruiert sie einerseits die
Entwicklung des Antisemitismus im 18. und 19. Jahrhundert sowie das Aufkommen
des Rassismus und des Imperialismus im 19. und frühen 20. Jahrhundert,
andererseits entwirft sie eine umfassende Theorie des Totalitarismus, aufbauend
auf den beiden historischen Formen totaler Herrschaft, dem Nationalsozialismus
und dem Stalinismus.
Arendt geht davon aus, dass totalitäre Herrschaft ohne
Unterstützung durch eine Massenbewegung möglich ist: „Totalitäre Bewegungen
sind Massenbewegungen, und sie sind bis heute die einzige Organisationsform,
welche die modernen Massen gefunden haben und die ihnen adäquat scheint.“ (663)
„Ohne den Führer sind die Massen ein Haufen, ohne die Massen ist der Führer ein Nichts“ (Hannah Arendt) |
So seien totalitäre Bewegungen überall da möglich, wo Massen
existieren, die „aus gleich welchen Gründen“ nach politischer Organisation
verlangen. Das Entscheidende ist, dass die Massen nicht von gemeinsamen
Interessen zusammengehalten werden, ihnen somit auch jedes spezifische
Klassenbewusstsein fehlt, das sich bestimmte, begrenzte und erreichbare Ziele
setzt.
Vielmehr ist der Ausdruck `Masse´ „überall da zutreffend,
und nur da, wo wir es mit Gruppen zu tun haben, die sich, entweder, weil sie zu
zahlreich oder weil sie zu gleichgültig für öffentliche Angelegenheiten sind,
in keiner Organisation strukturieren lassen, die auf gemeinsamen Interessen an
einer gemein erfahrenen und verwalteten Welt beruht, als in keinen Parteien,
keinen Interessenverbänden, keinen lokalen Selbstverwaltungen, keinen
Gewerkschaften, keinen Berufsvereinen“ (668).
Totale Herrschaft setzt also die allmähliche Zerstörung des
politischen Raums und die Entfremdung des Individuums in der Massengesellschaft
voraus. Mit dem Wegfall der Klassenstruktur und dem Zusammenbruch des
Parteiensystems nun verwandelten sich Arendt zufolge die apathischen
Mehrheiten, die bisher hinter jeder Parteien gestanden hatten, in „eine
unorganisierte, unstrukturierte Masse verzweifelter und hasserfüllter
Individuen, die nicht verband außer der allen gemeinsamen Einsicht, dass die
Hoffnungen der Parteimitglieder auf die Wiederkehr der guten alten Zeit sich
nicht erfüllen und dass sie jedenfalls diese Wiederkehr schwerlich erleben
würden und dass daher diejenigen, welche bisher die Gemeinschaft vertraten … in
Wahrheit Narren waren, die sich mit den bestehenden Mächten verbündeten, um
alle übrigen entweder aus schierer Dummheit oder aus schwindelhafter Gemeinheit
in den Abgrund zu führen“ (677f).
Das Erstaunliche nun ist, dass die politischen Eliten
Europas „mindestens seit Jakob Burckhardt und Nietzsche“ auf das Emporkommen
von Demagogen und Militärdiktaturen, auf die Verbreitung von Aberglauben,
Leichtgläubigkeit, Dummheit und Brutalität vorbereitet waren. Es war daher
schon unverzeihlich, dass sich viele Intellektuelle „in den Zeiten der Prüfung" von den Versprechungen des Kommunismus und Nationalsozialismus haben betören lassen.
Schlimmer jedoch war, dass sie kaum die Folgen dieses
Phänomens eines radikalen Selbstverlusts vorausgesehen oder richtig eingeschätzt
haben, „diese zynische oder gelangweilte Gleichgültigkeit, mit der die Massen
dem eigenen Tod begegneten oder anderen persönlichen Katastrophen, und ihre
überraschende Neigung für die abstraktesten Vorstellungen, diese
leidenschaftliche Vorliebe, ihr Leben nach sinnlosen Begriffen zu gestalten,
wenn sie dadurch nur dem Alltag und dem gesunden Menschenverstand, den sie mehr
verachteten als irgend etwas sonst, entgehen konnten.“ (680)
Arendt verdeutlicht diese Beobachtung an den Moskauer
Prozessen und der Liquidierung der Röhm-Fraktion. Beide wären nicht möglich
gewesen, „wenn nicht gerade die Massen hinter Stalin und Hitler gestanden
hätten“ (659).
Totalitäre Führer sind eben nicht nur Demagogen, und das
Beunruhigende ihres Erfolges liegt nicht allein darin, dass sie an pöbelhafte
Instinkte appellieren. Was die modernen Massen beispielsweise vom Mob
unterscheidet, ist die Selbstlosigkeit und Desinteressiertheit am eigenen
Wohlergehen, die sich so auffallend in den modernen totalitären Massenorganisationen
manifestiert. Dass Mitglieder totalitärer Bewegungen sich nicht über Verbrechen
gegen Gegner ihrer Ideologie aufregen, ist selbstverständlich. Aber keineswegs
selbstverständlich ist, „dass wir die gleiche Bewunderung für das Verbrechen,
oder doch zumindest die gleiche Indifferenz, auch dann antreffen, wenn die
Betroffenen Mitglieder der eigenen Bewegung sind, und dass schließlich, wie wir
aus zahllosen Beispielen aus der kommunistischen Partei wissen, die Anhänger
auch dann nicht in ihren Überzeugungen zu erschüttern sind, wenn sie selbst die
Opfer werden“ (660).
Das war es auch, was die gesamte zivilisierte Welt an den
Moskauer Prozessen so erschütterte und verwirrte: „Dass die Opfer als die
willigen Helfershelfer der Ankläger erschienen und in ihren `Geständnissen´ die
freien Erfindungen der Staatsanwaltschaft eher noch überboten. Die
Parteidisziplin, der sie sich unterstellt hatten, als sie in die Bewegung
eintraten … hielt allen Proben stand (…) Das Argument, dem sie sich alle
beugten, lautete: `Wenn du wirklich, wie du behauptest, für die Sowjetunion
bist, dann kannst du es augenblicklich nur dadurch beweisen, dass du die
Geständnisse ablegst, die die Regierung von dir verlangt, weil sie in diesem
Zeitpunkt solche Geständnisse braucht´“. Sie blieben, mit anderen Worten, auch
auf der Anklagebank noch Funktionäre der Partei und bemühten sich … eifrig, das
Beweismaterial für ihre eigenen Todesurteile … herbeizuschaffen“ (660f).
Die totalitären Bewegungen sind also „Massenorganisationen
atomisierter und isolierter Individuen“, bei denen man eine im Vergleich zu
anderen Parteien und Bewegungen, erstaunliche Ergebenheit und `Treue´
beobachten kann:
„Wie sehr die totale Ergebenheit der Mentalität des
Massenindividuums entspricht, kann man deutlichst daran ablesen, dass
totalitäre Führer und Bewegungen sich auf sie verlassen können, bevor sie die
Macht ergriffen und den totalen Terror organisiert haben. Innerhalb der
Bewegung genügt die ideologisch begründete Behauptung, dass die Bewegung im
Begriff stehe, die gesamte Menschheit zu organisieren, vollkommen, denn wer
diese Behauptung ernst nimmt, schließt sich ja von der zukünftigen Menschheit
überhaupt aus, wenn er die Forderung der totalen `Treue´ nicht erfüllt“ (697f).
An dieser Stelle gibt Arendt bereits einen Ausblick auf
einen der Wesenszüge totaler Herrschaft: Diese gibt sich nämlich niemals damit
zufrieden, von außen, durch den Staat und einen Gewaltapparat, zu herrschen,
sondern „in der ihr eigentümlichen Ideologie und der Rolle, die ihr in dem Zwangsapparat
zugeteilt ist, hat die totale Herrschaft ein Mittel entdeckt, Menschen von
innen her zu beherrschen und zu terrorisieren“ (701).
So haben weder der Nationalsozialismus, noch der
Bolschewismus jemals eine neue Staatsform proklamiert oder behauptet, dass ihre
Ziele mit dem Ergreifen der Macht und des Staatsapparats befriedigt seien. Was
die Herrschaft betrifft, so ging es ihnen um etwas, was kein Staat und bloßer
Gewaltapparat, sondern nur eine ständig „in Bewegung gehaltene Bewegung“
leisten kann, nämlich die ständige und sich auf alles erstreckende Beherrschung
jedes einzelnen Menschen:
„Die Macht als Gewalt ist für die totalitäre Herrschaft
niemals ein Ziel, sondern nur ein Mittel, und die Machtergreifung in einem
gegebenen Land nur das willkommene Durchgangsstadium, nicht das Ende der
Bewegung. Das praktische Ziel der Bewegungen ist, soviel Menschen wie möglich
in die Bewegung hineinzuorganisieren und in Schwung zu bekommen; ein
politisches Ziel, bei dem die Bewegung an ihr Ende kommen würde, gibt es
überhaupt nicht“ (702).
Dazu gehört selbstverständlich auch die Unterdrückung aller
höheren Formen geistiger Aktivität. Totale Beherrschung kann daher die freie
Initiative in keinem Lebensbereich erlauben, „weil sie kein Handeln zulassen
darf, das nicht absolut voraussehbar ist. Die totalitäre Bewegung muss daher,
wenn sie erst einmal die Macht in der Hand hat, unerbittlich alle Talente und
Begabungen, ohne Rücksicht auf etwaige Sympathien durch Scharlatane und Narren
ersetzen; ihre Dummheit und ihr Mangel an Einfällen sind so lange die beste
Bürgschaft für die Sicherheit des Regimes, als dieses noch nicht seine eigene
Funktionärsschicht herangezogen hat, die selbst gegen die Menschlichkeit der
Narrheit und Scharlatanerie gefeit ist“ (724).
(Fortsetzung folgt)
Zitate aus: Hannah Arendt: Elemente und Ursprünge totaler
Herrschaft, München 2009 (piper) - Weitere Literatur: Joachim Fest:
Bürgerlichkeit als Lebensform. Späte Essays, Hamburg 2008 (Rowohlt) -
Michael Rohrwasser: Der Stalinismus und die Renegaten, Stuttgart 1991
(Metzler)
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