Donnerstag, 30. Oktober 2014

Hannah Arendt und der Totalitarismus - Teil 3: Totalitäre Organisation


Hannah Arendt
„Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft“ (1955 auf Deutsch erschienen) ist das vielleicht wichtigste, in jedem Fall umfangreichste Buch von Hannah Arendt. Auf insgesamt 1015 Seiten rekonstruiert sie einerseits die Entwicklung des Antisemitismus im 18. und 19. Jahrhundert sowie das Aufkommen des Rassismus und des Imperialismus im 19. und frühen 20. Jahrhundert, andererseits entwirft sie eine umfassende Theorie des Totalitarismus, aufbauend auf den beiden historischen Formen totaler Herrschaft, dem Nationalsozialismus und dem Stalinismus. Dabei widmet sie sich auch der Frage totalitärer Organisationsformen zu.

Auch wenn Organisation und Propaganda letztlich zwei Seiten der gleichen Medaille seien, so sind die Organisationsformen totalitärer Bewegungen im Gegensatz zu den ideologischen Gehalten und den Propagandaschlagworten „von einer beispiellosen Originalität. Sie haben die Aufgabe, die zentrale ideologische Fiktion (die Verschwörung der Juden, der Trotzkisten, der Dreihundert Familien), um die das Lügengespinst der Propaganda jeweils neu gewoben wird, in die Wirklichkeit umzusetzen und in der noch nicht totalitären Welt Menschen so zu organisieren, dass sie sich nach den Gesetzen dieser fiktiven Wirklichkeit bewegen“ (766).

Bei der Organisation ihrer Anhängerschaft vor der Machtergreifung fällt zunächst „die Schaffung von Frontorganisationen und die Unterscheidung zwischen Parteimitgliedern und Sympathisierenden als wesentlich neues und originales Organisationsmittel auf. Dieser Erfindung gegenüber sind andere Phänomene, die wir heute gewöhnlich als typisch totalitär ansehen, wie die Ernennung aller Funktionäre von oben und die schließliche Monopolisierung aller Ernennungen durch einen Mann – das sogenannte Führerprinzip -, von sekundärer Bedeutung“ (767).

Plakat der Internationalen Arbeiterhilfe (IAH)
Die ersten organisierten Sympathisierenden- gruppen wurden von den kommunistischen Parteien  in den zwanziger Jahren ins Leben gerufen; sie waren jedoch vorerst nichts anderen als Zusammenfassungen von mehr oder minder vage sympathisierenden Freunden zwecks finanzieller oder anderer Hilfe.

Aber auch Hitler schlug bereits in Mein Kampf vor, die durch Propaganda gewonnenen Massen in Sympathisierende und Mitglieder aufzuteilen. Dabei kam es ihm darauf an, „in die Sympathisierendengruppen möglichst so viele Mitläufer wie möglich aufzunehmen, während die Parteimitgliedschaft als solche nach Möglichkeiten begrenzt wurde“ (769).

So benutzt die totalitäre Bewegung die Frontorganisationen „als einen Schutzwall, der die Mitgliedschaft, ihren fanatischen Glauben an die ideologische Fiktion und ihre `revolutionäre´ Moral gegen den Schock einer noch intakten Außenwelt schützt.“ Zugleich dient die Frontorganisation der Mitgliedschaft „als eine genau überwachte Brücke in die Normalität zurück“ (770). So wird die die deutliche Differenz zwischen seiner eigenen Haltung und der eines Sympathisierenden den Parteinazi oder den Parteibolschewisten „in seinem Glauben an die ideologisch-fiktive Erklärung von Welt und Geschichte gerade darum bestärken, weil der Sympathisierende ähnliche Meinungen in einer noch `normalen´ Form hegt“ (ebd.).

Wirklichkeitsersatz
Weil durch die Frontorganisationen der Sympathisierenden hindurch die Welt als voll von geheimen Verbündeten erscheint, sind die Frontorganisationen die von den totalitären Bewegungen eigens errichtete Fassade einer nichttotalitären Außenwelt. Es ist „der Ersatz der Wirklichkeit, der am wirksamsten vor der Wirklichkeit schützt“ (ebd.).

Schließlich ist der Gleichschaltungsprozess nach Hitlers Machtergreifung „ein Schulbeispiel der eminenten Bedeutung der paraprofessionellen Frontorganisationen.“ Dass die Nazis sofort imstande waren, nicht nur die politische Macht zu übernehmen, sondern das gesamte Gesicht der Gesellschaft buchstäblich von einem Tag zum anderen zu verändern, ist letztlich den Frontorganisationen zu verdanken: „Die im Schoße der nichttotalitären Gesellschaft gebildete totalitäre Gegengesellschaft war so genau dem Model der Wirklichkeit nachgebildet, dass es nicht eine Berufs-oder Standesgruppe in Deutschland gab, die nicht von einem Tag zum anderen übernommen und gleichgeschaltete werden konnte. Die einzige Organisation, die nicht direkt zu übernehmen war, war die Armee“ (781).

So war nach Arendt die Technik der Gleichschaltung war „erfinderisch neu und unwiderstehlich, wie der Verfall der beruflichen Standards in allen Gruppen rapid und radikal war, ein Verfall, der sich naturgemäß auf dem Gebiet der Kriegsführung unmittelbarer zeigte als in anderen Gebieten und der in Sowjetrussland, wo die totalitäre Regierungsform mehr Zeit gehabt hat, sich zu etablieren, und weniger feste berufliche Traditionen vorgefunden

Ein weiteres Merkmal der totalitären Organisationsformen besteht Arendt zufolge darin, dass die totalitäre Bewegung als Ganzes bereits vor der Machtergreifung so etwas wie eine eigene geschlossene Welt darstellen kann, in welcher Abstufungen und Differenzierungen die von den Eliteformationen gesicherte radikale Folgerichtigkeit der zentralen Fiktion nicht nur mildern, sondern auch gewissermaßen echte Meinungsverschiedenheiten ersetzen.

Auf diese Weise ist die Einfügung immer neuer Schichten mit erneuten Radikalitätsstufungen in unendlicher Wiederholbarkeit möglich und verhindert das Erstarren des Parteiapparats durch Bürokratisierung. So war die SA, 1922 gegründet, die erste Formation, „die bestimmt war, radikaler zu sein als die Partei selbst. Die SS wurde im Jahre 1926 als Eliteformation, das heißt als der militante Flügel der SA, gegründet. Drei Jahre später wurde die SS unter Himmlers Kommando von der SA getrennt, und in wenigen Jahren begann das gleiche Spiel, nun innerhalb der SS. Nacheinander, und sich an Radikalität ständig überbietend, traten aus der Allgemeinen SS, deren Mitglieder bis auf das höhere Führerkorps in ihren zivilen Berufen blieben, erst die Verfügungstruppen heraus, dann die Totenkopfverbände, die `Bewachungsmannschaften der Konzentrationslager´, schließlich der Sicherheitsdienst, der `weltanschauliche Nachrichtendienst der Partei´, dem die Ausführung der `negativen Bevölkerungspolitik´ unterstand, und das Rasse- und Siedlungswesen, dessen Aufgaben `positiver Art´ waren“ (774).

Der rein militärische Wert totalitärer Eliteformationen ist natürlich höchst zweifelhafter Natur, selbst wenn sie so militärisch organisiert werden, wie es bei der SA und SS der Fall war. Wichtiger war, dass die SA, wie andere paramilitärische faschistische Verbände, ein Instrument zur Vertretung und Stärkung des Weltanschauungskampfes des Bewegung´ war: „Für totalitäre Zwecke war es viel wichtiger, eine Scheinarmee auf die Beine zu stellen, die eine `kämpferische Haltung´ ausdrückte, als eine Truppe gut ausgebildeter Soldaten zur Verfügung zu haben“ (776f).

Verhaftung von Kommunisten durch SA, Berlin, März 1933
(
Bundesarchiv Bild 102-02920A)

Vor allem aber handelte es sich darum, „das Recht zum Morden sichtbar darzustellen, um die Abschaffung aller sittlichen und moralischen Standards, die gewöhnlich auch im Kriege gelten und die nun als `unkämpferisch´ denunziert wurden. Für Mordpropaganda brauchte man Mord- und Gewalttaten, aber keine militärischen Übungen“ (777).

Die Aufgabe der Eliteformationen und ihrer Morde ist es, die Bewegung in ihrer Gesamtheit schärfer von der Umwelt zu isolieren und jedem ihrer Mitglieder den Rückweg in die Normalität nach Möglichkeit zu versperren: „Hitler hat schon sehr früh, 1923, gemeint, es gäbe nur zwei Dinge, welche Menschen fest verbinden, `gemeinsame Verbrechen und gemeinsame Ideale´“ (783, Anm. 67).

Das Zentrum der Bewegung - Der Führer

Im Zentrum der Bewegung, als der Motor gleichsam, der sie in Bewegung setzt, sitzt natürlich der Führer. „Er lebt innerhalb eines intimen Kreises von Eingeweihten, die ihn von den Eliteformationen trennen und um ihn eine undurchdringliche Aura des Geheimnisses verbreiten“ (784).

Seine oberste Aufgabe ist es, „jene Doppelfunktionen zu personifizieren, die für jede Schichte der Bewegung charakteristisch ist: Er dient als der magische Schutzwall, aber die Bewegung gegen die Außenwelt verteidigt, und er ist gleichzeitig eine Brücke, durch die sie wenigstens scheinbar mit ihre verbunden ist und bleibt“ (787).

Es ist die gleichzeitige Übernahme eines totalen Verantwortungs- und eines totalen Erklärungsmonopols, die es dem totalitären Führer ermöglicht, „innerhalb seiner Bewegung der Radikalste der Radikalen zu sein und nach außen trotzdem in der Maskerade des ehrenwert-naiven Sympathisierenden zu erscheinen“ (789).

Allerdings wird nur von den Sympathisierenden erwartet, buchstäblich an des Führers Worte zu glauben. „Ihre Aufgabe ist es, die Bewegung in einen Nebel einfältiger Treuherzigkeit zu hüllen und dem Führer bei der einen Hälfte seiner Funktion, nämlich der, in der Umwelt Vertrauen zu erwecken, zu helfen. Von Parteimitgliedern wird nicht erwartet, dass sie öffentlichen Erklärungen Glauben schenken (…) Als Hitler seinen Legalitätseid vor dem Reichsgerichtshof der Weimarer Republik schwor, glaubten ihm nur die Sympathisierenden; die Parteimitglieder wussten, dass es sich um eine Meineid handelte, und vertrauten ihm desto mehr, weil er offenbar fähig war, die öffentliche Meinung und die höchsten Instanzen des Staates zu nasführen“ (803f).

Man hat totalitäre Bewegungen mit `Geheimgesellschaften´ verglichen, die sich im vollen Licht der Öffentlichkeit etablieren. Und nach Arendt weisen totalitäre Bewegungen „in der Tat auffallende Ähnlichkeit mit gewissen bekannten Charakteristiken von Geheimgesellschaften auf“: Auch hier gibt es Eingeweihte, „deren Leben nach den Vorschriften einer geheim gehaltenen Lebenssicht reguliert werden, derzufolge jede Tatsache und jedes Ereignis etwas anderes `bedeutet´, als was es in Wirklichkeit ist“ (790f).

Vor allem aber ist die Rolle des Rituals in den Bewegungen für ihre Affinität mit Geheimgesellschaften bezeichnend: „Die Umzüge auf dem Roten Platz in Moskau sind nicht weniger charakteristisch als die pompösen Feierlichkeiten der Nürnberger Parteitage. Im Zentrum des bolschewistischen Rituals ist die mumifizierte Leiche Lenins, wie im Zentrum des nazistischen Rituals die `Blutfahne´ war (…) Was produziert wird, ist das Erlebnis einer mysteriösen Handlung, das offenbar als solches Menschen besser und sicherer aneinanderkettet als das nüchterne Bewusstsein, ein Geheimnis miteinander zu teilen“ (793f).

Was produziert wird, ist das Erlebnis einer mysteriösen Handlung ...

Es ist wirklich verblüffend, in dieser wie in so vielen anderen Beziehungen die Ähnlichkeit zwischen der Nazi- und der bolschewistischen Bewegung feststellen zu können, vor allem, weil sie von so außerordentlich verschiedenen geschichtlichen Voraussetzungen ausgehend zu den gleichen Endresultaten gelangten.

„Die Selbstlosigkeit, ja Selbstauslöschung, auf die totalitäre Bewegungen bei ihren Anhängern rechnen können, hat wiederum ihresgleichen nur in Geheimgesellschaften, aber in keinerlei sonstigen politischen Parteien oder Formationen (…): Selbst vor den berühmten Moskauer Prozessen war Beobachtern aufgefallen, dass Todesurteile von ehemaligen Angehörigen der Partei und besonders von Mitgliedern der Tscheka mit merkwürdigem Gleichmut entgegengenommen wurden. Hier bewährt sich eine Organisationsform, die dafür sorgt, dass keines ihrer Mitglieder sich mehr ein Leben außerhalb ihrer vorstellen kann, so dass selbst der zum Tode Verurteilte das Spiel weiterspielt und nicht verrät, im Bewusstsein, noch im Tode zu der auserwählten Schar der `Eingeweihten´ zu gehören“ (800f).
 
Wyschinski (Mitte) verliest die Anklageschrift im zweiten Moskauer Prozess

Was diese Menschen wirklich miteinander verbindet und was weit über den engstirnigen Fanatismus jeder einzelnen Ideologie oder Weltanschauung hinausgeht, ist, so Arendt, „die Überzeugung von der Allmacht des Menschen. Dem moralischen Nihilismus des `Alles ist erlaubt´ haben sie durch den sehr viel radikaleren Nihilismus eines `Alles ist möglich´ erst seine wirkliche Grundlage gegeben. Für sie handelt es sich nicht um Wahnideen der Rasselehre oder der Klassentheoreme, und sie haben es nicht nötig, an die Verschwörung der Weisen von Zion oder der Wallstreet zu glauben. Ihnen genügt die Hybris, wirklich zu meinen, dass alles gemacht werden kann, dass alles Gegebene nur ein zeitweiliges Hindernis ist, das durch überlegene Organisation überkommen werden kann“ (811).

In einer fiktiven Welt gibt es eben keine Instanz, die Misserfolge als solche verbuchen könnte.

Zitate aus: Hannah Arendt: Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft, München 2009 (piper)



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