Hannah Arendt |
„Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft“ (1955 auf Deutsch
erschienen) ist das vielleicht wichtigste, in jedem Fall umfangreichste Buch
von Hannah Arendt. Auf insgesamt 1015 Seiten rekonstruiert sie einerseits die
Entwicklung des Antisemitismus im 18. und 19. Jahrhundert sowie das Aufkommen
des Rassismus und des Imperialismus im 19. und frühen 20. Jahrhundert,
andererseits entwirft sie eine umfassende Theorie des Totalitarismus, aufbauend
auf den beiden historischen Formen totaler Herrschaft, dem Nationalsozialismus
und dem Stalinismus. Dabei widmet sie sich auch der Frage totalitärer
Organisationsformen zu.
Auch wenn Organisation und Propaganda letztlich zwei Seiten
der gleichen Medaille seien, so sind die Organisationsformen totalitärer
Bewegungen im Gegensatz zu den ideologischen Gehalten und den
Propagandaschlagworten „von einer
beispiellosen Originalität. Sie haben die Aufgabe, die zentrale ideologische
Fiktion (die Verschwörung der Juden, der Trotzkisten, der Dreihundert
Familien), um die das Lügengespinst der Propaganda jeweils neu gewoben wird, in
die Wirklichkeit umzusetzen und in der noch nicht totalitären Welt Menschen so
zu organisieren, dass sie sich nach den Gesetzen dieser fiktiven Wirklichkeit
bewegen“ (766).
Bei der Organisation ihrer Anhängerschaft vor der
Machtergreifung fällt zunächst „die Schaffung von Frontorganisationen und die
Unterscheidung zwischen Parteimitgliedern und Sympathisierenden als wesentlich
neues und originales Organisationsmittel auf. Dieser Erfindung gegenüber sind
andere Phänomene, die wir heute gewöhnlich als typisch totalitär ansehen, wie
die Ernennung aller Funktionäre von oben und die schließliche Monopolisierung
aller Ernennungen durch einen Mann – das sogenannte Führerprinzip -, von
sekundärer Bedeutung“ (767).
Plakat der Internationalen Arbeiterhilfe (IAH) |
Die ersten organisierten Sympathisierenden- gruppen wurden von
den kommunistischen Parteien in den zwanziger Jahren ins Leben gerufen; sie
waren jedoch vorerst nichts anderen als Zusammenfassungen von mehr oder minder
vage sympathisierenden Freunden zwecks finanzieller oder anderer Hilfe.
Aber auch Hitler schlug bereits in Mein Kampf vor, die durch Propaganda gewonnenen Massen in
Sympathisierende und Mitglieder aufzuteilen. Dabei kam es ihm darauf an, „in
die Sympathisierendengruppen möglichst so viele Mitläufer wie möglich
aufzunehmen, während die Parteimitgliedschaft als solche nach Möglichkeiten
begrenzt wurde“ (769).
So benutzt die totalitäre Bewegung die Frontorganisationen „als
einen Schutzwall, der die Mitgliedschaft, ihren fanatischen Glauben an die
ideologische Fiktion und ihre `revolutionäre´ Moral gegen den Schock einer noch
intakten Außenwelt schützt.“ Zugleich dient die Frontorganisation der
Mitgliedschaft „als eine genau überwachte Brücke in die Normalität zurück“
(770). So wird die die deutliche Differenz zwischen seiner eigenen Haltung und
der eines Sympathisierenden den Parteinazi oder den Parteibolschewisten „in
seinem Glauben an die ideologisch-fiktive Erklärung von Welt und Geschichte
gerade darum bestärken, weil der Sympathisierende ähnliche Meinungen in einer
noch `normalen´ Form hegt“ (ebd.).
Wirklichkeitsersatz |
Weil durch die Frontorganisationen der Sympathisierenden
hindurch die Welt als voll von geheimen Verbündeten erscheint, sind die Frontorganisationen
die von den totalitären Bewegungen eigens errichtete Fassade einer
nichttotalitären Außenwelt. Es ist „der Ersatz der Wirklichkeit, der am
wirksamsten vor der Wirklichkeit schützt“ (ebd.).
Schließlich ist der Gleichschaltungsprozess nach Hitlers
Machtergreifung „ein Schulbeispiel der eminenten Bedeutung der
paraprofessionellen Frontorganisationen.“ Dass die Nazis sofort imstande waren,
nicht nur die politische Macht zu übernehmen, sondern das gesamte Gesicht der
Gesellschaft buchstäblich von einem Tag zum anderen zu verändern, ist letztlich
den Frontorganisationen zu verdanken: „Die im Schoße der nichttotalitären
Gesellschaft gebildete totalitäre Gegengesellschaft war so genau dem Model der
Wirklichkeit nachgebildet, dass es nicht eine Berufs-oder Standesgruppe in
Deutschland gab, die nicht von einem Tag zum anderen übernommen und
gleichgeschaltete werden konnte. Die einzige Organisation, die nicht direkt zu
übernehmen war, war die Armee“ (781).
So war nach Arendt die Technik der Gleichschaltung war
„erfinderisch neu und unwiderstehlich, wie der Verfall der beruflichen
Standards in allen Gruppen rapid und radikal war, ein Verfall, der sich
naturgemäß auf dem Gebiet der Kriegsführung unmittelbarer zeigte als in anderen
Gebieten und der in Sowjetrussland, wo die totalitäre Regierungsform mehr Zeit
gehabt hat, sich zu etablieren, und weniger feste berufliche Traditionen
vorgefunden
Ein weiteres Merkmal der totalitären Organisationsformen besteht
Arendt zufolge darin, dass die totalitäre Bewegung als Ganzes bereits vor der
Machtergreifung so etwas wie eine eigene geschlossene Welt darstellen kann, in
welcher Abstufungen und Differenzierungen die von den Eliteformationen
gesicherte radikale Folgerichtigkeit der zentralen Fiktion nicht nur mildern,
sondern auch gewissermaßen echte Meinungsverschiedenheiten ersetzen.
Auf diese Weise ist die Einfügung immer neuer Schichten mit
erneuten Radikalitätsstufungen in unendlicher Wiederholbarkeit möglich und
verhindert das Erstarren des Parteiapparats durch Bürokratisierung. So war die SA, 1922 gegründet, die erste
Formation, „die bestimmt war, radikaler zu sein als die Partei selbst. Die SS
wurde im Jahre 1926 als Eliteformation, das heißt als der militante Flügel der
SA, gegründet. Drei Jahre später wurde die SS unter Himmlers Kommando von der
SA getrennt, und in wenigen Jahren begann das gleiche Spiel, nun innerhalb der
SS. Nacheinander, und sich an Radikalität ständig überbietend, traten aus der
Allgemeinen SS, deren Mitglieder bis auf das höhere Führerkorps in ihren
zivilen Berufen blieben, erst die Verfügungstruppen heraus, dann die
Totenkopfverbände, die `Bewachungsmannschaften der Konzentrationslager´,
schließlich der Sicherheitsdienst, der `weltanschauliche Nachrichtendienst der
Partei´, dem die Ausführung der `negativen Bevölkerungspolitik´ unterstand, und
das Rasse- und Siedlungswesen, dessen Aufgaben `positiver Art´ waren“ (774).
Der rein militärische Wert totalitärer Eliteformationen ist natürlich
höchst zweifelhafter Natur, selbst wenn sie so militärisch organisiert werden,
wie es bei der SA und SS der Fall war. Wichtiger war, dass die SA, wie andere
paramilitärische faschistische Verbände, ein Instrument zur Vertretung und
Stärkung des Weltanschauungskampfes des Bewegung´ war: „Für totalitäre Zwecke
war es viel wichtiger, eine Scheinarmee auf die Beine zu stellen, die eine
`kämpferische Haltung´ ausdrückte, als eine Truppe gut ausgebildeter Soldaten
zur Verfügung zu haben“ (776f).
Verhaftung von Kommunisten durch SA, Berlin, März 1933 (Bundesarchiv Bild 102-02920A) |
Vor allem aber handelte es sich darum, „das Recht zum Morden
sichtbar darzustellen, um die Abschaffung aller sittlichen und moralischen
Standards, die gewöhnlich auch im Kriege gelten und die nun als `unkämpferisch´
denunziert wurden. Für Mordpropaganda brauchte man Mord- und Gewalttaten, aber
keine militärischen Übungen“ (777).
Die Aufgabe der Eliteformationen und ihrer Morde ist es, die
Bewegung in ihrer Gesamtheit schärfer von der Umwelt zu isolieren und jedem
ihrer Mitglieder den Rückweg in die Normalität nach Möglichkeit zu versperren:
„Hitler hat schon sehr früh, 1923, gemeint, es gäbe nur zwei Dinge, welche
Menschen fest verbinden, `gemeinsame Verbrechen und gemeinsame Ideale´“ (783,
Anm. 67).
Das Zentrum der Bewegung - Der Führer |
Im Zentrum der Bewegung, als der Motor gleichsam, der sie in
Bewegung setzt, sitzt natürlich der Führer. „Er lebt innerhalb eines
intimen Kreises von Eingeweihten, die ihn von den Eliteformationen trennen und
um ihn eine undurchdringliche Aura des Geheimnisses verbreiten“ (784).
Seine oberste Aufgabe ist es, „jene Doppelfunktionen zu
personifizieren, die für jede Schichte der Bewegung charakteristisch ist: Er
dient als der magische Schutzwall, aber die Bewegung gegen die Außenwelt
verteidigt, und er ist gleichzeitig eine Brücke, durch die sie wenigstens
scheinbar mit ihre verbunden ist und bleibt“ (787).
Es ist die gleichzeitige Übernahme eines totalen
Verantwortungs- und eines totalen Erklärungsmonopols, die es dem totalitären
Führer ermöglicht, „innerhalb seiner Bewegung der Radikalste der Radikalen zu
sein und nach außen trotzdem in der Maskerade des ehrenwert-naiven Sympathisierenden
zu erscheinen“ (789).
Allerdings wird nur von den Sympathisierenden erwartet,
buchstäblich an des Führers Worte zu glauben. „Ihre Aufgabe ist es, die
Bewegung in einen Nebel einfältiger Treuherzigkeit zu hüllen und dem Führer bei
der einen Hälfte seiner Funktion, nämlich der, in der Umwelt Vertrauen zu
erwecken, zu helfen. Von Parteimitgliedern wird nicht erwartet, dass sie
öffentlichen Erklärungen Glauben schenken (…) Als Hitler seinen Legalitätseid
vor dem Reichsgerichtshof der Weimarer Republik schwor, glaubten ihm nur die
Sympathisierenden; die Parteimitglieder wussten, dass es sich um eine Meineid
handelte, und vertrauten ihm desto mehr, weil er offenbar fähig war, die
öffentliche Meinung und die höchsten Instanzen des Staates zu nasführen“
(803f).
Man hat totalitäre Bewegungen mit `Geheimgesellschaften´
verglichen, die sich im vollen Licht der Öffentlichkeit etablieren. Und nach
Arendt weisen totalitäre Bewegungen „in der Tat auffallende Ähnlichkeit mit
gewissen bekannten Charakteristiken von Geheimgesellschaften auf“: Auch hier
gibt es Eingeweihte, „deren Leben nach den Vorschriften einer geheim gehaltenen
Lebenssicht reguliert werden, derzufolge jede Tatsache und jedes Ereignis etwas
anderes `bedeutet´, als was es in Wirklichkeit ist“ (790f).
Vor allem aber ist die Rolle des Rituals in den Bewegungen
für ihre Affinität mit Geheimgesellschaften bezeichnend: „Die Umzüge auf dem
Roten Platz in Moskau sind nicht weniger
charakteristisch als die pompösen Feierlichkeiten der Nürnberger Parteitage. Im
Zentrum des bolschewistischen Rituals ist die mumifizierte Leiche Lenins, wie
im Zentrum des nazistischen Rituals die `Blutfahne´ war (…) Was produziert
wird, ist das Erlebnis einer mysteriösen Handlung, das offenbar als solches
Menschen besser und sicherer aneinanderkettet als das nüchterne Bewusstsein,
ein Geheimnis miteinander zu teilen“ (793f).
Was produziert wird, ist das Erlebnis einer mysteriösen Handlung ... |
Es ist wirklich verblüffend, in dieser wie in so vielen
anderen Beziehungen die Ähnlichkeit zwischen der Nazi- und der bolschewistischen
Bewegung feststellen zu können, vor allem, weil sie von so außerordentlich
verschiedenen geschichtlichen Voraussetzungen ausgehend zu den gleichen
Endresultaten gelangten.
„Die Selbstlosigkeit, ja Selbstauslöschung, auf die
totalitäre Bewegungen bei ihren Anhängern rechnen können, hat wiederum
ihresgleichen nur in Geheimgesellschaften, aber in keinerlei sonstigen politischen
Parteien oder Formationen (…): Selbst vor den berühmten Moskauer Prozessen war Beobachtern aufgefallen, dass Todesurteile von
ehemaligen Angehörigen der Partei und besonders von Mitgliedern der Tscheka mit
merkwürdigem Gleichmut entgegengenommen wurden. Hier bewährt sich eine Organisationsform,
die dafür sorgt, dass keines ihrer Mitglieder sich mehr ein Leben außerhalb
ihrer vorstellen kann, so dass selbst der zum Tode Verurteilte das Spiel
weiterspielt und nicht verrät, im Bewusstsein, noch im Tode zu der auserwählten
Schar der `Eingeweihten´ zu gehören“ (800f).
Was diese Menschen wirklich miteinander verbindet und was
weit über den engstirnigen Fanatismus jeder einzelnen Ideologie oder
Weltanschauung hinausgeht, ist, so Arendt, „die Überzeugung von der Allmacht
des Menschen. Dem moralischen Nihilismus des `Alles ist erlaubt´ haben sie
durch den sehr viel radikaleren Nihilismus eines `Alles ist möglich´ erst seine
wirkliche Grundlage gegeben. Für sie handelt es sich nicht um Wahnideen der
Rasselehre oder der Klassentheoreme, und sie haben es nicht nötig, an die
Verschwörung der Weisen von Zion oder der Wallstreet zu glauben. Ihnen genügt
die Hybris, wirklich zu meinen, dass alles gemacht werden kann, dass alles
Gegebene nur ein zeitweiliges Hindernis ist, das durch überlegene Organisation
überkommen werden kann“ (811).
In einer fiktiven Welt gibt es eben keine Instanz, die
Misserfolge als solche verbuchen könnte.
Zitate aus: Hannah
Arendt: Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft, München 2009 (piper)
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