Donnerstag, 5. Mai 2022

Die Nürnberger Kriegsverbrecherprozesse und der "Schlussstrich" - Teil 2


Im März 1949 hatte der US-Oberkommandierende General Clay alle Todesurteile gegen die Angeklagten des sog. Einsatzgruppenprozesses bestätigt, auch das gegen Ohlendorf. „Doch die Vollstreckung am Landsberger Galgen wurde aufgeschoben. Das hatte zunächst eher bürokratische Gründe: Clays Amtszeit lief ab, und sein Nachfolger John McCloy, ein Jurist, ehemals Wallstreet-Anwalt, hatte sich die Entscheidung über Revisionsanträge der Todeskandidaten in Landsberg vorbehalten (…) Clay war ein Haudrauf, ein Militär eben; McCloy war ein Strippenzieher, ein Lobbyist und Spindoktor der amerikanischen Nachkriegspolitik. Er fand, dass man die Spitzen-kräfte des untergegangenen Reiches nicht einfach aufhängen konnte. Vielleicht brauchte man sie ja noch.“ 

John McCloy (1945 auf dem Weg zur Potsdamer Konferenz)

„Im Land der Täter hatte eine bleierne Zeit begonnen. Der Blitzschlag von Nürnberg, die Verheißungen eines neuen Rechts des Friedens und der Menschlich-keit hatten ganz gegensätzliche Folgen: Die Deutschen fühlten sich in ihrer Mehrheit gekränkt und missverstanden. `Die Zeit war noch nicht reif für die Erkenntnis, dass den Deutschen durch die Nürnberger Verfahren ein großer Dienst erwiesen wurde´“. 

Stattdessen begann eine beispiellose Strategie der Verharmlosung, Leugnung und Irreführung, die am Ende selbst ruchlosesten NS-Verbrechern zur Freiheit verhalf. Natürlich waren nicht alle Deutschen alte Nazis. Aber ein gemeinschaftliches Grund-gefühl einte die Besiegten: dass die Deutschen, als Nation, nun genug gelitten hätten. Ein Schlussstrich musste her!

Im „Heidelberger Kreis“ schlossen sich die Nürnberg-Verteidiger, sowie einfluss-reiche Juristen zusammen, um sich für eine Rehabilitierung der in Nürnberg Verurteilten stark zu machen, die mittlerweile im War Criminal Prison No. 1 in Landberg am Lech auf die Vollstreckung der Urteile warteten. Offizielles Ziel des Kreises war, „`die Auswirkungen der Kriegsverbrecherprozesse sowohl auf die unmittelbar Betroffenen wie auf das deutsche Volk insgesamt zu erkennen und zu begrenzen´. Erkennen und Begrenzen: Delegierte des Kreises, unter ihnen der Dönitzverteidiger und ehemalige Kriegsrichter Otto Kranzbühler, saßen des Öfteren beim Bundeskanzler Konrad Adenauer, um zu besprechen, was das heißen konnte.“

Mitglieder des Heidelberger Juristenkreises (Quelle: Wikipedia)

Auch die Kirchen in Deutschland machten sich zu heftigen Fürsprechern der gefangenen Nazis. „Schon im September 1946 hatte der Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche in Deutschland, Bischof Theophil Wurm, einen Brief voll scheinheiliger Sorge an den Vorsitzenden des International Military Tribunal Lawrence geschrieben: `Es wäre etwas Furchtbares, wenn durch das Nürnberger Urteil die Meinung bestärkt würde, dass es auf Erden kein Recht mehr gibt, sondern dass das Recht nur von der Macht diktiert wird.´ (…) Fürsprache fanden die Massenmörder in der Landsberger Haft auch bei dem evangelischen Bischof Otto Dibelius, der in einem Appell an die Alliierten `Gnade für diejenigen´ forderte, `die mit dem Brandmal des Kriegsverbrechens gestempelt in Gefangenschaft gehalten werden´.“

Wie die junge deutsche Republik ihre Vergangenheit zu bewältigen suchte, lässt sich gut an den ersten Gesetzes des neu konstituierten Deutschen Bundestages ablesen, darunter das „Straffreiheitsgesetz“, „das, mit großer Mehrheit im Eilverfahren verabschiedet, eine Generalamnestie für alle kleineren Delikte versprach, für Schwarzmarktvergehen nicht anders als für die minderschweren Fälle der NS-Kriminalität. (…)

Dass man die Vergangenheit lieber ruhen lassen sollte, bekräftigte der Bundestag ebenfalls nahezu einstimmig, als es 1951 darum ging, Hunderttausende deutscher Beamter, die wegen ihrer Naziverstrickung von den Alliierten aus dem Amt entfernt worden waren, wieder in ihre Rechte einzusetzen. Das Gesetz zur `Bereinigung der Rechtsverhältnisse von Personen, die am 8. Mai 1945 im öffentlichen Dienst standen´ kam einem Staatsstreich gleich: Der Beamtenapparat des Naziregimes durfte weitermachen, als wäre nichts geschehen. (…)

In die obersten deutschen Gerichte zogen wieder die Spitzenjuristen der NS-Zeit ein, in Geheimdienst, Polizei, Auswärtiges Amt. Alte Naziseilschaften gaben überall den Ton an. Hans Globke war einst im NS-Innenministerium der Mitverfasser eines Kommentars zu den Nürnberger Rassengesetzen gewesen. Schwamm drüber, nun leitete er Konrad Adenauers Kanzleramt.“

Hinzu kam die Erkenntnis, dass der gerade eben begonnene Kalte Krieg ganz schnell heiß werden könnte und man Westdeutschland dann als Partner eines Waffenganges gegen den Kommunismus an der Sollbruchstelle der neuen Blöcke unbedingt brauchen würde. So konnte Adenauer zum Kanzler der Westbindung werden, stets bemüht, den westlichen Siegern deutlich zu machen, dass alles seinen Preis hatte: „Wer die neue Bundesrepublik als militärischen Partner haben wollte, musste sie zunächst wieder in die Runde gleichberechtigter souveräner Staaten aufnehmen. Eine Wiederbewaffnung Deutschlands würde eine parlamentarische Mehrheit nur finden, so Adenauer zu McCloy, wenn zugleich das Besatzungsstatut abgelöst würde. Wenn aber die Westmächte ihre Kontrolle über die Bundesrepublik aufgaben – was sollte dann mit den Männern im War Criminal Prison No. 1 geschehen? Man konnte sie doch nicht einfach freilassen.“

Auch McCloy war von der Notwendigkeit einer Waffenbrüderschaft mit den Deutschen gegen den Kommunismus überzeugt. Nicht zuletzt hatte er alles vermieden, was die Stimmung der Deutschen gegen die US-amerikanischen Gerichtsherren von Nürnberg verschlechtern konnte. „Zunächst setzte der Hochkommissar auf Minimierung in Landsberg: Nach und nach sorgte er dafür, dass die Häftlinge mit Gefängnisstrafen lautlos entlassen wurden. Dann wandelte er einundzwanzig Todesurteile in Haftstrafen um. Sieben Männer allerdings – unter ihnen Otto Ohlendorf – mussten hängen. Mit der Vollstreckung am Galgen am 7. Juni 1951 war auch dieses Problem keines mehr, über das man weiter diskutieren konnte (…) 

Bis 1958 war der letzte in Nürnberg verurteilte Häftling wieder in Freiheit.“

Das Mahnmal an der KZ-Gedenkstätte in Dachau

Zitate aus: Thomas Darnstädt, Nürnberg. Menschheitsverbrechen vor Gericht 1945, München 2015 (piper)