Donnerstag, 24. September 2020

Euripides und die Troerinnen


Die Eroberung von der Kykladeninsel Melos wäre ein Randereignis des Peloponnesischen Krieges geblieben, hätte der griechische Historiker Thukydides nicht die Verhandlungen zwischen Athenern und Meliern in Form eines Dialogs wiedergegeben, der – in seinen Zentralaussagen bis heute gültig – das Wesen von Machtpolitik bloßlegt.

 

„Die Verhandlungen […] scheiterten, und so begann im Sommer 416 die Belagerung. Im folgenden Winter zwangen Hunger und Verrat die Melier schließlich zur bedingungslosen Kapitulation. Die Athener töteten alle erwachsenen Männer, verkauften Kinder und Frauen in die Sklaverei und schickten später 500 Siedler auf die entvölkerte Insel."

 

Euripides (ca. 484 - 406 v. Chr.)


Bei Thukydides sind die Athener der festen Überzeugung, dass  „allein die Macht [zähle]. Der Überlegene setze durch, was ihm beliebe, Recht sei eine Konvention, die nur dort greife, wo sich gleich starke Kräfte neutralisierten und auf einen Kompromiss einigen müßten."


Thukydides schrieb sein Werk bekanntlich nach der Beendigung des Peloponnesischen Krieges, d.h. nach der völligen Niederlage Athens. „Er bietet […] weit mehr als nur eine Analyse der athenischen Expansionspolitik. Der Historiker sucht das Wesen der Macht zu ergründen, der Dialog handelt scheinbar vom Peloponnesischen Krieg, tatsächlich aber von allen Kriegen."

 

Für Thukydides ist eines klar: „Alle sind dem Nómos unterworfen, der sie nicht anders handeln läßt, als sie handeln. Deswegen verzichten die thukydideischen Athener auf schöne Worte, um das zu sagen, was diese verbrämen.“ Thukydides zieht hier […] allgemeine Lehren vom Wesen des Krieges überhaupt: „Im Melier-Dialog sind die Athener nur noch eine Chiffre. Sie stehen für die Tragik der Großmächte. Um nicht zu kollabieren, müssen diese sich ausdehnen. Nur Ausgreifen sichert das Überleben, dem Ende der Expansion aber folgt der Zusammenbruch. Thukydides hat so etwas wie Mitleid mit den Großmächten: Ihre Verbrechen sind vergebens, denn ihr Untergang ist so zwangsläufig wie der von Melos."

 

Welche Resonanz die Ereignisse von Melos in der athenischen Gesellschaft fanden, ist natürlich heute schwer zu sagen. Es gibt gleichwohl ein zeitgenössisches Zeugnis, das deutlich macht, daß nicht alle Athener die Eroberung von Melos als Sieg verstanden: Die Tragödie Die Troerinnen von Euripides.

 

Euripides, der bis weit über den Sizilienfeldzug hinaus loyal zu seiner Heimatstadt Athen stand, nahm Stellung an dem Ort, den er beherrschte, d.h. auf der attischen Bühne. Auch wenn der Name Melos an keiner Stelle des Stückes genannt wird, so ist der Bezug allen Zuschauern mehr als klar gewesen.

 

Die Troerinnen ist das Schlussstück einer Tetralogie, deren andere Teile - Alexandros und Palamedes sowie das Satyrspiel Sisyphos – verloren gegangen sind. Sie wurde im Frühjahr 415 aufgeführt. „Die attische Flotte war siegreich von Melos zurückgekehrt, Athen schickte sich an, gegen Sizilien zu segeln, alle Gespräche drehten sich nur noch um die Reichtümer der großen Insel.

 

Dieser Euphorie stellt Euripides seine Tetralogie entgegen: Troia als Beispiel einer Stadt, die auf der Höhe ihrer Macht stürzt. Das Ausschlagen einer göttlichen Warnung, die Hybris der Menschen, führt Troia in den Untergang."

 

Die Troerinnen in der Verfilmung von Michalis Cacoyiannis
(mit Audrey Hepburn und Vanessa Redgrave)

Die Troerinnen setzen zu einem Zeitpunkt ein, an dem die Kampf um Troia bereits beendet ist. Die Stadt steht in Flammen, „es ist nicht mehr die mächtige Stadt am Ausgang des Hellespont, sondern eine entvölkerte Ruine. Die Sieger haben ihr Zeltlager bereits verlassen, die Besiegten sind dort eingezogen und warten auf ihr weiteres Schicksal, auf die Deportation.

 

Es sind nur mehr Frauen, die troianischen Männer sind gefallen, in den Tod geflüchtet. Sie haben mehr Glück gehabt, das Los der Sklavinnen ist schlimmer: `Doch Sterben ist besser noch als Leben voller Jammer. Den Toten kümmert’s nicht, wenn er ein Leid erfuhr´, sagt Andromache, Witwe Hektors. Die Griechen sind keine strahlenden Sieger, sondern Mörder: `Barbarengreuel dachtet ihr euch aus, ihr Griechen.´ Ihnen winkt keine Zukunft, sie werden erleiden, was die Troer erlitten und die Troerinnen noch erleiden. Selbst die Götter haben sich von ihnen abgewandt, wenn auch nicht wegen der Taten, zu denen auch sie fähig sind, sondern weil sie beleidigt sind."

 

Schon der Anfang des Stückes weist über das Ende hinaus. Der Sieg wird keine Früchte tragen. „Poseidon prophezeit es in seinem Prolog: `Ein Narr ist jeder Mensch, der Städte auslöscht, Tempel und Gräber, Heiligtümer der Entschlafenen, veröden läßt und selbst danach zugrunde geht!´."

 

Eigentlich hat das Stück keine eigentliche Handlung, sondern besteht aus locker miteinander verbundenen Szenen, „zusammengehalten von der Figur der Hekabe, Gattin des Priamos und Königin von Troia, die von Anfang bis Ende auf der Bühne präsent ist und in der sich alles Leid der troianischen Frauen bündelt.

 

Nach dem einleitenden Auftritt der Götter auf dem Theologeion, dem Kulissendach, erhebt sich die bis dahin am Boden kauernde Hekabe zu ihrer ersten Klage. Ab jetzt beherrschen Frauen die Bühne, die griechischen Helden werden zu Statisten degradiert, der wichtigste Mann des Stückes ist Talthybios, der Herold der Griechen, ein Subalterner und Befehlsempfänger."

 

„Durch die beiden Párodoi ziehen die Halbchöre der Troerinnen ein. Die versklavten Frauen erwarten ihr Los, fürchten die Orte, an die die Griechen sie verschleppen werden: Athen, Sparta, Thessalien oder Sizilien. Hekabe ahnt Schlimmes, doch es wird noch schlimmer kommen. Jeder Auftritt des griechischen Herolds steigert das Leid, das über die troianischen Frauen kommt. Wenn Hekabe glaubt, die Grenze des Erträglichen sei erreicht, überbringt Talthybios neue Hiobsbotschaften. Dieser selbst ist sich keines Unrechts bewußt, er überbringt die Befehle der Mächtigen, ob er sie gutheißt oder nicht, wird sie nicht ändern. Er fügt sich, und die anderen müssen sich fügen. Er schaudert nicht vor den Verbrechen zurück, er fürchtet nur, es könne sich nicht reibungslos vollziehen, was ohnehin geschehen muß."

 

Die Troerinnen von Cacoyannis (1971)

Die Griechen teilen die Beute unter sich auf, werfen das Los über die Troerinnen: „Hekabe fällt an Odysseus (das schlimmste Los), die Töchter Kassandra und Andromache werden an Agamemnon und Neoptolemos verteilt. Polyxene wird an Achills Grab geopfert werden. Talthybios beschwichtigt und mahnt zur Ruhe: der Reihe nach, jeder das Ihre.

 

Es folgt der Höhepunkt des ersten Epeisodion. Mit der Fackel, der Hochzeits-, nicht der Brandfackel, stürmt Kassandra aus dem Zelt. Sie kennt die Zukunft und wird daher nicht von der Angst der Ungewißheit niedergedrückt. Sie weiß, daß sie in Mykene sterben wird, aber sie kennt auch das Schicksal des Agamemnon und prophezeit den Untergang des Atridenhauses. Die Besiegte erhebt sich über die, die sich für Sieger halten."

 

Allen Zuschauern im Theater wird es allmählich dämmern, dass die Griechen in einen ungerechten Krieg gezogen sind, dass sie für die falschen Ziele entweder in der Fremde am dem Schlachtfeld umgekommen sind oder nach ihrer Rückkehr einen trostlosen Tod erleiden werden. „Die Zeit wird kommen, in der sie die geschlagenen Troier beneiden werden. Kassandra wiederholt, was schon Athene und Poseidon voraussagten: Es gibt keine Sieger."

 

Am Schluss des Stückes stürzt das brennende Troia in sich zusammen. „Talthybios gibt die letzten Befehle. Er hat die Klagen der Frauen satt: `Führt sie ab, zeigt keine Schonung.´ Die Soldaten treiben die Frauen zu den abfahrbereiten Schiffen. Aber auch den Siegern droht das Verhängnis. Der Zuschauer, der das Theater verläßt, weiß: Die griechische Flotte fährt in ihren Untergang. Binnen sieben Jahren werden sich die Prophezeiungen Kassandras erfüllt haben. Dann sind die Sieger in Meeresstrudeln ertrunken, von Kyklopen gefressen, an Felsen zerschmettert, von Mördern erschlagen, dem Wahnsinn verfallen, haben den Freitod gesucht oder irren noch auf dem Meer umher."

 

Wie bereits erwähnt, sind direkte Anspielungen auf das Schicksal von Melos bei Euripides nicht zu finden. Aber das war auch nicht nötig. „Das ganze Stück […] spielt im Schatten von Melos. Das Ereignis war zu frisch in Erinnerung, um aus ihr verdrängt werden zu können."

 

Massaker hatte es auch schon früher in der Geschichte der Griechen gegeben, auch Angriffe in Zeiten des Friedens waren nicht neu und auch nicht die Tatsache, dass Melos eine neutrale Polis war – das, was die Ereignisse um Melos heraushob, war etwas anderes:

 

„Der Feldzug gegen die Insel war das Präludium zu einer weit größeren Invasion. Die Dionysien, an denen die Dramen aufgeführt wurden, fielen in die Zeit zwischen Melos und Sizilien. Mit den Troerinnen verurteilt Euripides die athenische Aggressionspolitik und warnt vor ihrer Fortsetzung. Der militärische Erfolg von Melos, der den meisten Athenern Hoffnung auf noch einträglichere Siege machte, ist für Euripides ein Menetekel. Er erkennt die athenische Hybris, und er weiß, auch wenn er nicht an die alten Götter glaubt, daß der Überhebung unweigerlich der Sturz folgt."

 

Die Troerinnen in einer modernen Aufführung des The Sheldon Vexler Theatre

Die Troerinnen ist das politisch aktuellste Drama des Euripides. Die Athener von 415 konnten das Stück nur aus der Perspektive von Melos verstehen. Mit dem Angriff auf die Insel und der Zerstörung von Melos geht der kurze Friede des Nikias im Peloponnesischen Krieg zu Ende. „Nie war auf der attischen Bühne eine Mythenadaption leichter zu enträtseln gewesen. Das Drama spielte auf drei Zeitebenen und trug gleichsam drei Titel. Die `Troerinnen´ waren die Vergangenheit, die `Melierinnen´ die Gegenwart, die `Athenerinnen´ die Zukunft."

 

 

Zitate aus: Wolfgang Will: Athen oder Sparta. Die Geschichte des Peloponnesischen Krieges, München 2019 (C.H.Beck)

Donnerstag, 17. September 2020

Thukydides und der Melierdialog


Die Eroberung von der Kykladeninsel Melos wäre ein Randereignis des Peloponnesischen Krieges geblieben, hätte der griechische Historiker Thukydides nicht die Verhandlungen zwischen Athenern und Meliern in Form eines Dialogs wiedergegeben, der – in seinen Zentralaussagen bis heute gültig – das Wesen von Machtpolitik bloßlegt.


Melos war eine Gründung der Spartaner. Bodenschätze und die geschützte Lage machten Melos so wohlhabend und selbstbewusst, dass die Insel die Aufnahme in den von Athen dominierten Attischen Seebund verweigerte und für sich Neutralität reklamierte.


Die Kykladeninsel Melos im Spannungsfeld der Großmächte Athen und Sparta

 


Schon im Jahre 426 unternahmen die Athener deshalb einen ersten Versuch, die Insel in ihr Herrschaftssystem einzubinden. Obwohl die Athener die Insel nicht erobern konnten, erklärten sie sie einfach für erobert und verpflichteten sie zu jährlichen Tributzahlungen zugunsten des Tempelschatzes der Athena. Natürlich weigerten sich die Melier, diese Zahlungen zu entrichten.

 

Zehn Jahre verstrichen bis erneut eine Flotte der Athener gegen Melos aufbrach. Die Melier waren ahnungslos, es herrschte Frieden, nichts ließ einen athenischen Angriff erwarten, nichts rechtfertigte ihn. Thukydides’ Text spiegelt die Überraschung wider. „Der Historiker leitet den Bericht nicht ein, kennt keine Zusammenhänge und nennt – vielleicht weil sie ihm zu selbstverständlich waren – keine Motive.“

 

Im Gegensatz zum ersten Eroberungsversuch setzten die Athener zunächst auf Verhandlungen. Ein gegenseitiges Abkommen sollte Athen die gewaltigen Kosten einer mehrmonatigen Belagerung ersparen. Die athenischen Truppen konnten zwar leicht die Insel besetzen und abriegeln, die befestigte Stadt Melos zu erobern waren sie aber nicht in der Lage. Einziges Mittel, ummauerte Poleis zu erobern, war damals Aushungern oder Verrat.

 

„Die Verhandlungen, die Thukydides im sogenannten Melier-Dialog verdichtet, scheiterten, und so begann im Sommer 416 die Belagerung. Im folgenden Winter zwangen Hunger und Verrat die Melier schließlich zur bedingungslosen Kapitulation. Die Athener töteten alle erwachsenen Männer, verkauften Kinder und Frauen in die Sklaverei und schickten später 500 Siedler auf die entvölkerte Insel.“

 

Das Unternehmen gegen Melos war nicht die erste fragwürdige Eroberung der Athener. Vorher hatten sie bereits die Bewohner von eroberten Poléis – Histiaia, Aigina, Torone oder Skione, um nur einige zu nennen – ausgelöscht. Die Eroberung von Melos war gleichwohl deshalb besonders schändlich, weil Athen in Friedenszeiten eine griechische Stadt angriff und unerbittlich auslöschte.

 

„Das Wort vom `Limos Meliaios´, vom melischen Hunger, kursierte schon bald nach dem Ende der Belagerung in ganz Griechenland, Aristophanes gebraucht es 414, also nur zwei Jahre nach der Eroberung von Melos, in seiner Komödie Die Vögel. Noch fast anderthalbtausend Jahre erläutert die Glosse eines byzantinischen Lexikons den `Hunger von Melos´ „sprichwörtlich für eine aussichtslose Lage.“

 

Ob Thukydides über die Verhandlungen auf Melos aus erster Hand informiert wurde, ob er sogar die beteiligten Strategen befragt hat, bleibt im Unklaren. Es ist letztlich auch nicht relevant, „denn was die Athener im Dialog des Thukydides sagen, haben sie vor dem Rat der Melier sicherlich nicht gesagt. Sie sprechen bei Thukydides vielmehr das aus, was sie – nach Meinung des Historikers – aller Wahrscheinlichkeit nach gedacht haben, aber realiter zweifelsohne hinter diplomatischen Floskeln verbargen.“


Thukydides (454 - 399 v. Chr.)


Im Vordergrund der Reden der historischen Athener in Melos standen zweifelsohne ihre tatsächlichen Verdienste für die Insel. „Ein paar Jahrzehnte zuvor hatte Herodot die Athener als `Retter Griechenlands´ geadelt: `Wer nun also sagt, die Athener seien die Retter von Hellas geworden, der wird das Wahre kaum verfehlen. Denn auf welche Seite die Athener sich schlugen, da mußte die Waage sinken. Sie aber wählten Hellas’ Überleben in Freiheit, und so sind sie es gewesen, die das ganze restliche Griechenland – soweit es nicht persisch gesinnt war – aufrüttelten und den König (nächst den Göttern) zurückschlugen.“

 

Die Athener waren überzeugt davon, dass sie es waren, „die einst die Griechen vor den Barbaren gerettet hatten und sie nun weiterhin vor ihnen beschützten: Nur die athenische Flotte schrecke den Großkörnig vor einer neuerlichen Invasion ab. Und nicht allein dies. Die Präsenz athenischer Patrouillenschiffe in der Ägäis garantiere die von Seeräubern stets bedrohte Sicherheit des Meeres, den ungehinderten Handel unter den Städten und den Inseln der Ägäis sowie die lebenswichtige Versorgung mit Getreide in den periodisch wiederkehrenden Notzeiten.“

 

In Athen war man sich einig, dass dieser Schutz Geld kostete. „In der Schifffahrtsperiode zwischen März und Oktober waren ständig 60 Trieren unterwegs, die ausgerüstet und gewartet werden mußten. Allein der Lohn für die Besatzungen betrug fast ein Talent pro Tag. So war für die Athener ein Anspruch auf Entschädigung selbstverständlich, die Phoroi waren im Verständnis der Athener keine Tribute, sondern Beitrage zur Sicherheit und Wohlfahrt der Bündner und aller Griechen, die Seefahrt betrieben.“

 

Im Gegensatz zu diesen Gründen, die die historischen Athener in Melos vermutlich mit Recht für sich beanspruchen können, bezeichnen die Athener des Thukydides diese Argumente allerdings als kalà onómata, als `schöne Worte´. Bei Thukydides sind die Athener der festen Überzeugung: „Im menschlichen Denken, nicht freilich in der öffentlichen Bekundung, zähle allein die Macht. Der Überlegene setze durch, was ihm beliebe, Recht sei eine Konvention, die nur dort greife, wo sich gleich starke Kräfte neutralisierten und auf einen Kompromiss einigen müßten.“

 

Für die Athener des Dialogs steht die Unterwerfung von Melos außer Diskussion. „So machen sie einen Vorschlag, bei dem sie – mit Blick auf das Ende durchaus zu Recht – Vorteile für beide Seiten sehen. Die Kapitulation der Insel er- spare ihnen, den Athenern, Verluste an Soldaten und Trieren, Kosten und Zeit, die Melier aber kämen mit dem Leben davon und blieben als Untertanen im Besitz ihres Territoriums.“

 

Die Melier dagegen hoffen auf das Kriegsglück, auf die Götter und die Spartaner. Für die Athener freilich ist auch Hoffnung nur ein schönes Wort, das Schwache - wie die Melier - ins Verderben führt. „Am Wohlwollen der Götter, erklären sie, zweifelten sie nicht, und die Truppen der Spartaner fürchteten sie nicht. Für die Athener (und für Thukydides) gilt der Nómos, der das Leben der Menschen bestimmt, auch für die Götter: Wie jene stünden diese unter demselben Gesetz der Macht, dem zufolge der Stärkere über den Schwächeren obsiege.“

 

Die Verhandlungen scheitern, es kommt zu keiner Einigung. Der Erfolg von 426 hatte die Melier ermutigt, und so hofften sie, sich auch jetzt behaupten zu können. „Wer im blinden Vertrauen sich seinen Hoffnungen ganz ausliefere, werde auch alles verlieren, läßt Thukydides die Athener sagen und verzichtet auf einen Kommentar. Zwei Sätze genügen ihm, um nun die Kampfhandlungen beginnen zu lassen, sieben weitere, um den Untergang von Melos zu besiegeln.“

 

Athenische Hoplitenfalange bei Kampfübungen


Der Vernichtung von Melos ist der Wendepunkt in der Geschichte der Großmacht Athen. „Expressis verbis formuliert hat es der Historiker nicht, doch er hat die Melier zu Titelhelden jenes kleinen Textes gemacht, der zu den wichtigen der Weltliteratur zählt und nach knapp zweieinhalbtausend Jahren noch keine Altersspuren zeigt – ebendieses `furchtbaren Gesprächs´, wie Friedrich Nietzsche sagen wird, zwischen ihnen und den Athenern.“


Thukydides schrieb sein Werk und damit auch den Dialog zwischen Athenern und Meliern nach dem Ende des Peloponnesischen Krieges, d.h. nach dem Untergang des athenischen Reiches. „Er bietet die Summe seiner Erfahrungen und weit mehr als nur eine Analyse der athenischen Expansionspolitik. Der Historiker sucht das Wesen der Macht zu ergründen, der Dialog handelt scheinbar vom Peloponnesischen Krieg, tatsächlich aber von allen Kriegen. Er bildet den inhalt-lichen Mittelpunkt des Werkes […]. Athener und Melier sprechen unkommentiert, und Thukydides sagt nicht, welche Argumente er billigt und welche er verurteilt, ob er das Geschehen als kriegsnotwendig akzeptiert oder kritisiert, ob er die Partei der Unterlegenen ergreift oder sich seiner Heimatstadt verpflichtet sieht. Der Historiker berichtet knapp, kühl, meidet jeglichen Affekt und verzichtet auf apologetische Erklärungen. Alles, was als Partei- oder Stellungnahme gelten könnte, ist aus dem Text getilgt. Thukydides schweigt hörbar, sagt Wolfgang Schade- waldt.“

 

Man könnte nach der Lektüre des Dialogs meinen, Thukydides stünde auf der Seite der unglücklichen Melier. „Der Leser traue, schreibt Jacob Burckhardt `den inneren Schauder, welchen er bei dem so völlig objektiven Bericht empfindet´, unwillkürlich auch dem Geschichtsschreiber zu. Doch nichts ist im Melier-Dialog so, wie es scheint. Letztlich bleibt unklar, wer agiert und wer reagiert; Täter und Opfer sind austauschbar, alle spielen nur Rollen: Wären die Melier in der Lage der Athener, verhielten sie sich wie diese. Die Tat, die die Athener begehen, ist eine, die jeder begeht, mehr noch – begehen muß. Die Melier hindert (für den Augenblick) nicht die Moral, sondern ihre militärische Schwäche.

 

Alle sind dem Nómos unterworfen, der sie nicht anders handeln läßt, als sie handeln. Deswegen verzichten die thukydideischen Athener auf schöne Worte, um das zu sagen, was diese verbrämen.“ Thukydides zieht hier, vor dem Hintergrund des bereits beendeten Krieges und der damit verbundenen athenischen Niederlage, verallgemeinerbare Lehren vom Wesen des Krieges überhaupt: „Im Melier-Dialog sind die Athener nur noch eine Chiffre. Sie stehen für die Tragik der Großmächte. Um nicht zu kollabieren, müssen diese sich ausdehnen. Nur Ausgreifen sichert das Überleben, dem Ende der Expansion aber folgt der Zusammenbruch. Thukydides hat so etwas wie Mitleid mit den Großmächten: Ihre Verbrechen sind vergebens, denn ihr Untergang ist so zwangsläufig wie der von Melos.“

 

 

Zitate aus: Wolfgang Will: Athen oder Sparta. Die Geschichte des Peloponnesischen Krieges, München 2019 (C.H.Beck) – Thukydides: Der Peloponnesische Krieg, Düsseldorf 2006 (Artemis und Winkler)

 

Donnerstag, 10. September 2020

Levent Tezcan und die Maßlosigkeit in der Rassismusdebatte


Am 28. Juli 2020 erschien in der tageszeitung ein bemerkenswerter Kommentar von Levent Tezcan mit dem programmatischen Titel „Gefährliche Wendung. Selbst Liberale und Linke sind nicht mehr davor gefeit, als Rassisten gebrandmarkt zu werden. Das ist eine neuartige Maßlosigkeit.

Levent Tezcan
Levent Tezcan wurde 1961 in Havza, einer anatolischen Kleinstadt, geboren. Er kam 1988 als politischer Flüchtling nach Deutschland und ist heute Professor am Institut für Soziologie an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster.

In beeindruckender Weise demaskiert Tezcan die gegenwärtige Rassismus-debatte und ihre vehementen Vertreter. Tezcan stellt fest, dass die gesamte Debatte über Rassismus mittlerweile eine gefährliche Wendung angenommen habe. Letztlich, so eine seiner zentralen Thesen, führe die Rassismuskritik nicht mehr zu neuer Solidarität, sondern diene dem Zelebrieren eines affirmierten Opferstatus und drohe zur Selbstbestätigung auszuarten: 

„Menschen mit Migrationshintergrund melden sich zu Wort. Sie sind gebildet, wortgewandt. Sie sollen den Rassismus anprangern, nicht mehr nur den Rassismus, der von faschistischen Parteien unverblümt propagiert wird; auch nicht den, der noch in den Gesetzen und Institutionen steckt. Sie wollen ihn aus den entlegensten Ecken der Sprache, Kultur, Erinnerung herauszerren. Sie initiieren #MeTwo-Debatten.“

Das Problem dabei ist: „Mit einem quasireli­giö­sen Furor will eine neue Generation People of ­Color jede auch noch so verborgene rassistische Regung in der Seele ausrotten. Selbst die Liberalen, gar die Linken, die immer schon ein sicherer Hafen für die Fremden im Lande waren, sind nicht mehr davor gefeit, als Rassisten gebrandmarkt zu werden.

Kürzlich sagte in einem Spiegel-Interview die Erziehungswissenschaftlerin DiAngelo, dass sich „mit Liberalen am schwersten reden“ lasse. Sie würden nicht akzeptieren, dass sie rassistisch sind. Rassismus habe nichts mit Intentionen zu tun, heißt es. Er sei bereits in die Strukturen eingebaut. Wer nicht Schwarz/PoC ist (und also automatisch „weiß“), ist demnach unvermeidlich ein Rassist aufgrund seiner privilegierten Geburt.“

Tezcan kritisiert dieses Auftreten mit deutlichen Worten: „Gewappnet mit dem moralischen Panzer des Minderheitenstatus, sind diese neuen Minderheits-vertreter immer schon im Recht, sprechen sie doch aus Diskrimminierungserfahrung (…), diese scheinbar unbestreitbare Erfahrung, stattet ihre Sprecher gleich mit dem moralischen Anspruch aus, bereits dadurch im Besitz der Wahrheit zu sein. Unablässig prangern sie das rassistische Ressentiment an, sind aber selbst voll Ressentiments gegenüber denjenigen, die sie für die Dominanten halten.“

DiAngelo: Wer nicht Schwarz/PoC ist, ist unvermeidlich
ein Rassist aufgrund seiner privilegierten Geburt!"
Tezcan geht soweit, im Rassismus die neue „Ursünde“ der modernen Gesellschaft zu sehen. Im Kern geht es dabei um vermeintliche Privilegien der potentiell rassistischen Mehrheits-gesellschaft. So bemerkt Tezcan, dass er als Hochschullehrer zweifellos viele Privilegien genießt, „die die große Mehrheit der Gesellschaft (ob schwarz, weiß oder türkisch) nicht besitzt. Nach der Logik der neuen Rassismuskritiker kann ich aber meinem germanischen Kollegen, einem beschlagenen Soziologen, der sich von einem Drittmittelantrag zum nächsten bis zur Rente durchschlagen muss, jederzeit seine „Privilegien“ vorwerfen und, bei Bedarf, daraus Rassismus ableiten.“

„Man muss sich die perverse Logik genau vor Augen führen, die hier am Werke ist: Selbst wenn ich wollte, könnte ich mich dem neuen kulturellen Paradigma „Gestehe, wie rassistisch du bist“ nicht unterziehen. Während „Weiße“ nicht keine Rassisten sein können, kann ich gar nicht rassistisch sein. Welch ein Glück? Ich fühle mich ganz und gar diskriminiert, wenn mir die Möglichkeit genommen wird, rassistisch sein zu können. Rassistisch sein zu dürfen, ist und bleibt ein „weißes Privileg“!“

Werden politische Positionen nach Herkunft verteilt, würde sich der gesellschaftliche Diskurs in gefährlicher Nähe eines zwar nicht rassistischen, wohl aber eines rassischen Denkens bewegen, so Tezcan.

Die westliche Zivilisation sei wohl die erste, deren Selbstverständnis es nicht nur zulässt, sondern geradezu vorschreibt, dass die Schwachen den Mächtigen vorwerfen dürfen, dass diese eben die Mächtigen sind. „Als Nachfahre von Osmanen, deren Eroberungssinn dem der Europäer lange in nichts nachstand, kann ich mir schwer vorstellen, dass so etwas dort, aber auch bei den Römern, antiken Griechen, Mongolen, in den Hindureichen, um vom Reich der Mitte ganz zu schweigen, je denkbar gewesen wäre.“

Für viele People of Color beginnt, so Tezcan weiter, „die Geschichte mit dem westlichen Kolonialismus und sie wird auch, darin belehren uns täglich die Postkolonialen, nie enden. Umso absurder wird das Bild, wenn immer mehr Nachfahren von Osmanen und Arabern ins Outfit von People of Color schlüpfen und den Kolonialismus als nie enden werdenden Beginn der Geschichte der Ursünde anprangern. Was für eine Allianz!“
 
Absurd, wenn immer mehr Nachfahren von Osmanen und Arabern ins Outfit von People of Color schlüpfen und den Kolonialismus als nie enden werdenden Beginn der Geschichte der Ursünde anprangern.

Dieser Allianz genüge der brutale, menschenverachtende Rassismus der Rassisten nationalsozialistischer Art nicht für einen antirassistischen Kampf. „Schon die erste Regel, die Ausweisung der inzwischen maßlos skandalisierten Frage: „Woher kommst du eigentlich?“ als rassistisch, belegt hinreichend die Maßlosigkeit.

Führt von der Frage nach dem Woher ein direkter oder indirekter Weg zur öffentlichen Ermordung eines Menschen? Lässt sich ein rassistischer Mord, lässt sich der mörderische Rassismus überhaupt auf derartige Fragen zurückführen?“

Im Falle des Rassen-Rassismus ist der Ausgang der Lage ganz klar: mörderisch. Im Falle der Frage nach Herkunft im „alltäglichen Rassismus“ sind Möglichkeiten für einen Ausgang aus der Situation nahezu unendlich …

Zitate aus: Levent Tezcan: Gefährliche Wendung. Selbst Liberale und Linke sind nicht mehr davor gefeit, als Rassisten gebrandmarkt zu werden. Das ist eine neuartige Maßlosigkeit, die tageszeitung, 29.07.2020

Donnerstag, 3. September 2020

Carl Schmitt und das Politische (Teil 2)


(Fortsetzung vom 27.08.2020)


Carl Schmitt
Carl Schmitt (1888 – 1985) gilt gemeinhin als „Kritiker des Parlamentarismus“, als „Theore-tiker des Ausnahmezustands“, schlicht als „Kronjurist des Dritten Reiches“, so Michael Reitz in seinem Beitrag für die Sendereihe SWR-Wissen.

In seiner Schrift "Der Begriff des Politischen" (1927) begründet Schmitt das "Überlebens-rezept des modernen Staates". Mit „Feind“ ist bei Carl Schmitt nicht nur eine fremde Macht gemeint, die die Existenz des Staates und seines Territoriums bedroht. Es geht dabei auch um den inneren Feind, den Umstürzler und Putschisten. 

Dieser Gedanke wurde ab 1948, bei der Ausarbeitung des Grundgesetzes der Bundesrepublik Deutschland, wieder aktuell.Die Frage war, ob eine freiheitlich-demokratische Grundordnung so weit gehen darf, dass sie Parteien erlaubt, die gegen diese Grundordnung arbeiten. Im Grundgesetz, Artikel 21 Absatz 2, heißt es dann auch:

„Parteien, die nach ihren Zielen oder nach dem Verhalten ihrer Anhänger darauf ausgehen, die freiheitlich-demokratische Grundordnung zu beeinträchtigen oder zu beseitigen oder den Bestand der Bundesrepublik Deutschland zu gefährden, sind verfassungswidrig.“

In dieser Passage ist der Einfluss Carl Schmitts zu erkennen – obwohl er definitiv nicht an den Beratungen des Parlamentarischen Rates beteiligt war. Aber die Verfassungsväter und -mütter waren juristisch sehr wohl in den Weimarer Diskussionen geschult worden und hatten natürlich auch Carl Schmitt und andere Autoren rezipiert.

Carl Schmitts Kritik an der Weimarer Reichsverfassung hat großen Einfluss auf den Parlamentarischen Rat gehabt. Schmitt hatte mehrmals darauf hingewiesen, dass das permanente Abwählen des Reichskanzlers der Weimarer Republik die Funktionsfähigkeit des Staates auf Dauer zerstören würde. Resultat seiner Warnungen ist der Artikel 67 des bundesrepublikanischen Grundgesetzes. Er enthält den Passus des Konstruktiven Misstrauensvotums, nach dem eine Regierung nicht ohne Alternative einfach abgewählt werden kann.

Während der Weimarer Republik machen Carl Schmitts Schriften in den 1920er Jahren Furore. Der Grund dafür ist zum großen Teil sein Plädoyer für einen so genannten Dezisionismus. Damit wird eine juristisch-politische Idee bezeichnet, die nicht die Diskussion, sondern die Entscheidung, das Dekret oder die Verordnung in den Mittelpunkt stellt. Damit findet Carl Schmitt nicht nur bei der autoritären Rechten, sondern auch im linken Spektrum Gehör.

Diese Anziehungskraft besteht bis heute, denn neben den Galionsfiguren der Neuen Rechten – u.a. Alain de Benoist oder Pierre Krebs - sind es auch linke Theoretiker wie Chantal Mouffe und Ernesto Laclau, die Carl Schmitt für sich in Anspruch nehmen. Auf der Seite der Linken überzeugt vor allem die Schmitt´sche Freund-Feind-Unterscheidung, weil auf diese Weise mehr politische Energie mobilisiert werden kann, weil es wieder klare Fronten gibt, statt das Regierungshandeln auf konsensgesteuerte politische Abmachungen zu gründen.

Schmitt geht es darum, in den unsicher werdenden politischen Verhältnissen der Weimarer Republik die Rolle des Staates zu stärken. Seine damalige Treue zur Verfassung geht so weit, dass er 1932 Pläne ausarbeitet, mit denen eine zeitlich begrenzte legale Diktatur des Reichspräsidenten errichtet werden soll. Carl Schmitt argumentiert in der unruhigen Endphase der Weimarer Republik mit dem englischen politischen Philosophen Thomas Hobbes. Der hatte im 17. Jahrhundert in seiner Schrift „Leviathan“ den Grundsatz „Auctoritas, non veritas facit legem“ formuliert: „Autorität, nicht Wahrheit macht die Gesetze, beziehungsweise verschafft ihnen Geltung.“ Konkret bedeutet das für Carl Schmitt, für einen starken Staat einzutreten.

Auctoritas, non veritas facit legem

In den letzten Jahren der Weimarer Republik kann die Geltung staatlicher Gewalt nur noch durch Notverordnungen und vom Reichspräsidenten ernannte Regierungschefs garantiert werden kann. Adolf Hitler wird der letzte in dieser Reihe sein. Diese Zeit zeichnet sich auch dadurch aus, dass der Staat immer hilfloser gegen demokratiefeindliche Kräfte wird. In seinem Buch „Zur geistesgeschichtlichen Lage des heutigen Parlamentarismus“ aus dem Jahr 1923 schreibt Schmitt:

„Die Lage des Parlamentarismus ist heute so kritisch, weil die Entwicklung der modernen Massendemokratie die argumentierende öffentliche Diskussion zu einer leeren Formalität gemacht hat. Manche Normen des heutigen Parlamentsrechtes (...) wirken infolgedessen wie eine überflüssige Dekoration, unnütz und sogar peinlich, als hätte jemand die Heizkörper einer modernen Zentralheizung mit roten Flammen angemalt, um die Illusion eines lodernden Feuers hervorzurufen.“

Am 30. Januar 1933 wird Adolf Hitler zum Reichskanzler ernannt und kommt auf vollkommen legale Weise an die Macht. Schnell zeichnet sich ab, dass die Nationalsozialisten eine diktatorische Alleinherrschaft anstreben. Carl Schmitt hatte bis zum Schluss auf der juristischen Ebene die Weimarer Republik verteidigt und sogar ein Verbot der NSDAP betrieben. Doch nun tritt er nicht nur in Hitlers Partei ein, sondern arbeitet sogar unter anderem mit Hermann Göring zusammen. Der Schlüssel für das Verständnis der Wende in seiner politischen Ausrichtung ist der Begriff der „legalen Revolution“, denn  Carl Schmitt hat den Nationalsozialismus als eine legale Revolution betrachtet, obwohl ihm die Vorbehalte und Einschränkungen bekannt waren. Aber Carl Schmitt gefällt, dass die Nationalsozialisten das erklärte Ziel haben, die parlamentarische Demokratie abzuschaffen. Darüber hinaus sieht er in einer Anbiederung an die Nazis die Möglichkeit eines Karrieresprungs.

Seit dem 24. März 1933 regiert Hitler durch das sogenannte Ermächtigungs-gesetz mit diktatorischen Vollmachten. Viele Oppositionelle sitzen in Konzentrationslagern oder Gefängnissen, die Gewerkschaften sind zerschlagen. Carl Schmitt steht hinter dieser Diktatur: Er war der Auffassung, dass diese Revolution durch die Kanzlerschaft Hitlers eine legale Grundlage hatte. Carl Schmitt glaubte sich als politischer Beamter auf den Boden der Revolution zu stellen.

In einem Radiogespräch aus dem Jahr 1972 antwortet Carl Schmitt auf die Frage, warum er Hitler und dem Nationalsozialismus gefolgt sei, folgender-maßen:

„Diese Frage ist nicht so schnell zu beantworten, und die steckt hinter der Frage der Legalität der Machtergreifung, und das hängt alles mit diesem unheimlichen Problem des politischen Mehrwertes der rein formal-legalen Macht und des Machtbesitzes zusammen. Das ist der Funktionsmodus, ob Sie das Bürokratie nennen... Was ich hätte tun müssen als Jurist, hab ich auf meine Weise getan – nach dem Ermächtigungsgesetz, aber nicht vorher!
 
Ernst Jünger und Carl Schmitt im Oktober 1941

Carl Schmitt wird zu einer wichtigen Figur im NS-Rechtswesen. Ab dem Wintersemester 1933 ist er als Juraprofessor an der Universität Berlin maßgeblich an der Vertreibung jüdischer Juristen aus dem akademischen Betrieb beteiligt. Darüber hinaus wird er preußischer Staatsrat, Herausgeber der gleichgeschalteten „Deutschen Juristen-Zeitung“ und Mitglied im Führerrat der Akademie für deutsches Recht – um nur einige seiner Funktionen im NS-Staat zu nennen. Er ist kein Mitläufer, sondern ein aktiver Posten der Nazi-Ideologie. Besonders deutlich wird das, als er 1936 eine Tagung mit dem Titel „Das Judentum in der deutschen Rechtswissenschaft“ organisiert. In einem seiner Vorträge sagt er:

„Mit einem nur gefühlsmäßigen Antisemitismus ist es nicht getan; es bedarf einer erkenntnismäßig begründeten Sicherheit. (...) Wir müssen den deutschen Geist von allen Fälschungen befreien.“

In dieser Zeit entsteht bei Carl Schmitt die Theorie des „Ethnopluralismus“, die heute bei den rechtspopulistischen Bewegungen eine große Rolle spielt. In seinem Buch „Der Nomos der Erde“ (1950) hat er den Begriff Nomos, griechisch Gesetz, etymologisch hergeleitet von dem Begriff nemen, das heißt einschränken. Hier lässt sich eine Linie ziehen zur den Theorien des Ethno-Pluralismus der modernen Neuen Rechten, dessen Vertreter von sich selbst behaupten, dass sie keine Rassisten sind. Ihre These lautet: Alle Völker sind gleichwertig, allerdings mögen sie unter sich bleiben und das Unheil komme nach Ansicht der Neuen Rechten von der „Vermischung“ der Völker.

Im Dezember 1936 fällt Carl Schmitt bei den Nazis in Ungnade. In der Zeitschrift „Das schwarze Korps“, dem Zentralorgan der SS, erscheinen mehrere Artikel, die Carl Schmitt als Karrieristen und Opportunisten bezeichnen. Obwohl der alle seine Ämter im NS-Staat verliert, bleibt er in seinen Publikationen der Nazi-Ideologie und dem Antisemitismus weiterhin treu. Vor allem aber gelingt es ihm, den privaten Verehrerkreis um seine Person nicht nur zu erhalten, sondern auch zu vergrößern.

Nach dem Krieg und dem Zusammenbruch des NS-Staates wird Carl Schmitt von den US-amerikanischen Militärbehörden interniert und verhört. Man will ihn vor das Nürnberger Kriegsverbrechertribunal stellen. Dazu kommt es jedoch nicht. Denn Carl Schmitt macht das, was die meisten Nazis vor den alliierten Ermittlungsbehörden machen: Er stellt sich unter Rückgriff auf die Angriffe der SS auf seine Person aus dem Jahr 1936 als Opfer des NS-Regimes dar.

Carl Schmitt weigert sich nach 1945 beharrlich, sich seiner Verantwortung für die Nazi-Diktatur zu stellen. Er wird nicht wie viele seiner Nazi-Kollegen in den juristischen Lehrbetrieb der Bundesrepublik Deutschland übernommen. Es dürfte jedoch kaum einen Denker der Nachkriegszeit geben, der außerhalb des akademischen Betriebs ein so großes Echo erzeugte.

Die Carl-Schmitt-Biographie
von Reinhard Mehring (2009)
In seinem sauerländischen Heimatort Pletten-berg lud er Juristen, aber auch Geisteswissenschaftler und Künstler zu Lehrveranstaltungen ein und gab bis kurz vor seinem Tod im Jahr 1985 mehrtägige Symposien im privaten Kreis. Teilnehmer dieser international besetzten Treffen waren dabei oft nicht nur konservative oder ultrarechte Intellektuelle, sondern auch liberale bis linksliberale. Nach Aussagen vieler, die ihn kannten, war Carl Schmitt ganz eine charismatische Gestalt. Sein Biograph Reinhard Mehring weißt darauf hin, dass er bei der Recherche seiner Biographie häufig Menschen getroffen hat, die gesagt haben: „Ich habe es gemieden, ihm jemals zu begegnen, weil ich gewusst hätte, dass ich ihm verfalle.“

Zitate aus: Michael Reitz: Carl Schmitt. Ein umstrittener Denker, SWR-Wissen, Sendung vom 29. März 2019