Donnerstag, 24. Mai 2018

Immanuel Kant und der Wohlfahrtsstaat


Kant teilte das Credo des klassischen Liberalen, demzufolge die Herrschaft des Gesetzes garantiert, dass die Freiheit des einen neben der Freiheit des anderen bestehen könne. Wie die rechtschaffenen Bürger ihr eigenes Glück besorgen, gehe den Staat jedoch nichts an.

Immanuel Kant
„Im Staatsrecht ist nicht das Glück der Bürger (denn das mögen sie selbst besorgen) sondern das Recht derselben, was das Prinzip der Verfassung ausmacht. Der Wohlstand des Ganzen ist nur das Mittel, ihr Recht zu sichern und sie dadurch in den Stand zu setzen, sich selbst auf alle Weise glücklich zu machen. Daher müssen sie auch die Armen selbst versorgen, Schulen unterhalten und ihre Kinder selbst erziehen, aber auch die Freiheit dazu haben, ihre Religion selbst bestimmen, aber nur durch Einstimmung sie verändern.“ (AA XIX, S. 560 Reflexionen 7938)

Der Staat sei also nicht dazu da, seine Bürger glücklich zu machen, ihre Wohlfahrt zu besorgen. Und jeder Versuch, es doch zu sein, ist im Ansatz despotisch:

„Eine Regierung, die auf dem Prinzip des Wohlwollens gegen das Volk als eines Vaters gegen seine Kinder errichtet wäre, d. i. eine väterliche Regierung (imperium paternale), wo also die Untertanen als unmündige Kinder, die nicht unterscheiden können, was ihnen wahrhaftig nützlich oder schädlich ist, sich bloß passiv zu verhalten genötigt sind, um, wie sie glücklich sein sollen, bloß von dem Urteile des Staatsoberhaupts, und, daß dieser es auch wolle, bloß von seiner Gütigkeit zu erwarten: ist der größte denkbare Despotismus (Verfassung, die alle Freiheit der Untertanen, die alsdann gar keine Rechte haben, aufhebt).“ (WA 9, S. 146).

Kant wendet sich gegen den paternalistischen Wohlfahrtsstaat. Mit dem heutigen fraternalistischen Wohlfahrtsstaat hat dieser allerdings wenig gemein. Was beide eint, ist gleichwohl die Tendenz, die individuelle Freiheit zu zerstören.

Rebellion als Mittel gegen den Souverän schließt Kant jedoch aus. Er schreibt klipp und klar:

„Daß alle Widersetzlichkeit gegen die oberste gesetzgebende Macht, alle Aufwiegelung, um Unzufriedenheit der Untertanen tätlich werden zu lassen, aller Aufstand, der in Rebellion ausbricht, das höchste und strafbarste Verbrechen im gemeinen Wesen ist; weil es dessen Grundfeste zerstört.“ (WA 9, S. 155 f.)

Mit der Freiheit der Feder ... gegen Paternalismus!
Kant schweben nur friedliche Mittel gegen den paternalistischen Wohl-fahrtsstaat vor, genauer gesagt ein friedliches Mittel: Redefreiheit, die Freiheit der Feder.

„Also ist die Freiheit der Feder – in den Schranken der Hochachtung und Liebe für die Verfassung worin man lebt, durch die liberale Denkungsart der Untertanen, die jene noch dazu selbst einflößt, gehalten (und dahin beschränken sich auch die Federn einander von selbst, damit sie nicht ihre Freiheit verlieren) – das einzige Palladium der Volksrechte. (WA 9, S. 161)

Wie gesagt, Kant sah im paternalistischen Wohlfahrtsstaat eine Gefahr für die Freiheit der Bürger. Der fraternalistische Wohlfahrtsstaat, der später mit Bismarck die Bühne betrat, konnte noch nicht sein Thema sein. Gleichwohl ist in diesem Zusammenhang interessant, wie Kant das Armenproblem behandelt, auch wenn er dies nur am Rande tut. Er plädiert klar für eine Mindestabsicherung durch den Staat. Kant begründet seine Auffassung nicht mit dem Recht der Armen als Bürger, sondern mit den Bedürfnissen der Armen als Menschen, ganz gleich ob deren Situation selbst verschuldet ist oder nicht. (AA XIX, S. 578 f.)

Kant dürfte in dem, was er „allgemeine Ungerechtigkeit“ nennt, ein Motiv für staatliche Armenfürsorge gesehen haben. Dieses Motiv bekommt durch das Streben des Menschen nach Glück eine interessante Wende; eine Wende, die staatliche Armenfürsorge und individuelle Freiheit ohne gegenseitige Beeinträchtigung nebeneinander bestehen lässt.

Wer nämlich einem Elenden eine Wohltat erzeiget, um in Kants Worten zu sprechen, trägt damit nur seinen Teil der Schuld an der allgemeinen Ungerechtigkeit ab, die er trotz aller Rechtschaffenheit auf sich geladen hat:

„Man kann mit Anteil haben an der allgemeinen Ungerechtigkeit, wenn man auch nach den bürgerlichen Gesetzen und Einrichtungen kein Unrecht thut. Wenn man nun einem Elenden eine Wohltat erzeiget, so hat man ihm nichts umsonst gegeben, sondern man hat ihm das gegeben, was man ihm durch eine allgemeine Ungerechtigkeit hat entziehen helfen. Denn wenn keiner die Güter des Lebens mehr an sich ziehen möchte, als der andre, so wären keine Reiche aber auch keine Arme.“ (AA XVII, S. 416)

Wenn man nun einem Elenden eine Wohltat erzeiget,
so hat man ihm nichts umsonst gegeben ...

Es liegt auf der Hand, dass derjenige, der die ungleiche Güterverteilung nicht als allgemeine Ungerechtigkeit und Armenfürsorge nicht als Beförderung seines Glückes versteht, Kant nicht folgen kann. Er kann das Muss zur Armenfürsorge nicht als ein selbstbestimmtes Muss, das seiner freien Entscheidung entspringt, verstehen. Er kann es nur als eine Beschneidung der Freiheit sehen, was es in seinem Fall auch ist. Das Gleiche gilt für die Unterhaltung von Schulen und die Erziehung von Kindern.

Nur gewollt – wobei die Motive, es zu wollen, unterschiedlich sein können – sind sie mit Freiheit vereinbar.


Zitate aus: Kant’s Gesammelte Schriften, „Akademieausgabe“ (AA), Königlich Preußische Akademie der Wissenschaften, Berlin 1900ff   -   Immanuel Kant, Werkausgabe (WA), hg. von Wilhelm Weischedel, 1977ff   -   Weitere Literatur: Hardy Bouillon (Hrsg.): Freiheit, Vernunft und Aufklärung. Ein Immanuel-Kant-Brevier. Zürich 2015 (Verlag Neue Zürcher Zeitung)


Donnerstag, 17. Mai 2018

Leonardo da Vinci und die Naturphilosophie - Teil 2


Leonardo da Vinci
Von Leonardo da Vinci sind über 6000 Blätter voller Zeichnungen und Notizen erhalten, mit denen er versuchte, Naturgesetzen auf die Spur zu kommen und so zu erkennen, was die Welt „im Innersten zusammenhält“.

Mit Leonardo beginnt eine neue Weise, die Welt zu sehen. Er verließ sich nicht auf althergebrachtes Wissen, sondern versuchte die Welt vom Anbeginn an neu und analytisch zu erfassen. Ihm reichte es nicht, einfach nur irgendwo hinzuschauen sondern er war der Überzeugung, dass es notwendig ist, systematische Experimente machen. Diese Experimente macht er sowohl in der Natur selbst als auch im Bereich der Zeichnung.

So hat Leonardo zwischen seiner Kunst einerseits und seiner Wissenschaft andererseits überhaupt nicht getrennt.

„Wenn Du die wunderbaren Werke der Natur gesehen hast, und Du es eine abscheuliche Tat findest, sie zu zerstören, dann überlege Dir, wie unendlich abscheulich es ist, einem Menschen sein Leben zu nehmen“ (Leonardo Da Vinci).

Das Renaissance-Italien ist in viele Kleinstaaten zersplittert, es herrscht fast dauernd Krieg. Leonardo entwirft für die Fürsten, die ihn bezahlen, fürchterliche Kriegsmaschinen, mit denen man regelrechte Massaker hätte anrichten können – etwa eine riesige, 40 Meter lange Armbrust auf Rädern. Wie passt das zu seiner Menschenliebe?

Leonardo hat diese Kriegsmaschinen wirklich gezeichnet. Er hat mit diesen Zeichnungen seine Auftraggeber sicher auch beeindruckt. 

Das war genau das, was die von ihm wollten. Dafür waren sie bereit, Leonardo machen zu lassen. Vielleicht waren sie für Leonardo nur „Blendwerk“, nicht wirklich für die Umsetzung gedacht – aber das, was Auftraggeber sehen wollen und wofür Auftraggeber zu bezahlen bereit sind. Es gibt keinen historischen Beweis dafür, dass jemals eine von Leonardo erdachten Kriegsmaschinen gebaut wurde. Man hat im 20. Jahrhundert versucht, einige dieser Konstruktionen nachzubauen – aber sie funktionieren nicht ...

Leonardo da Vinci geht davon aus, dass sich Technik immer an der Natur orientieren müsse: „Der menschliche Schöpfergeist kann verschiedene Erfindungen machen (...), doch nie wird ihm eine gelingen, die schöner, ökonomischer oder geradliniger wäre als die der Natur, denn in ihren Erfindungen fehlt nichts und ist nichts zu viel.“

Leonardo könnte als Mitbegründer der heutigen Bionik gelten, die für technische Probleme Lösungen in der Natur sucht – etwa wenn man die Oberfläche von Taucheranzügen der Haut eines Hais nachbildet.

Ab 1487 entwirft Leonardo zahlreiche Pläne für Flugmaschinen und folgt auch hier der Natur. Leonardo hatte in seinen Zeichnungen das Prinzip eines funktionsfähigen Flügels erfasst. Er hatte nämlich erkannt, dass ein Flügel gewölbt ist. Er hat aber nicht erkannt, warum er gewölbt ist, nämlich wegen der unterschiedlichen Strömungsgeschwindigkeiten an der Ober- und Unterseite, die dann zu einem Unterdruck an der Oberseite führen und das ganze Ding nach oben heben.

Leonardos Flügel ist in sich beweglich, wie der eines Vogels, doch am Ende übertreibt er es mit der Anpassung an die Natur, denn künstliche Flügel, etwa beim Flugzeug, müssen starr sein.

„Man hat vor ganz kurzer Zeit versucht, Leonardos Konstruktionen in die Praxis umzusetzen und damit zu fliegen – und es gelang auch, allerdings mit dem großen Unterschied, dass man sich nicht eins zu eins an seine Konstruktionspläne gehalten hat, sondern eben statt dieser beweglichen Flügel einen starren Flügel hatte. Ansonsten war alles, was Leonardo sonst in diesem Bereich erforscht hatte, korrekt und ein solches Fluggerät konnte dann tatsächlich auch fliegen.

Um 1500 herrschen in den italienischen Kleinstaaten enorme Unruhen, es gibt immer neue Kriege. Für Leonardo beginnt eine Zeit der Wanderschaft. Er lebt in verschiedenen Städten, arbeitet an Gemälden und Fresken, als Ingenieur und Architekt für Cesare Borgia und andere Auftraggeber und Mäzene. Ab 1506 ist er wieder in Mailand. Er seziert Dutzende Leichen, um die Funktionen des menschlichen Körpers zu verstehen, obwohl Sektionen eigentlich verboten sind.

Leonardo plant einen anatomischen Atlas, in dem er die Prinzipien, die er in der Mechanik erkannt hat, auf den menschlichen Körper überträgt. Er hat also gesehen, dass die Sehnen an der Muskulatur ganz offensichtlich so funktionieren wie Seile, mit denen ein Zug übertragen wird. Dass in Knochen ein Druckprinzip herrscht, dass das funktioniert wie Pfeiler. Dass Gelenke im Körper und in Maschinen ähnliche Funktionen erfüllen und ähnlichen Anforderungen standhalten müssen.

Leonardo hatte eine ganz neuartige Weise, die Funktionsweise des menschlichen Organismus zu analysieren: Er zeichnet zum Beispiel die Knochen des menschlichen Beins nicht nur einmal, in der Ansicht von vorn. Sondern er geht zeichnend quasi um den Knochen herum, stellt ihn aus verschiedenen Perspektiven dar.

Leonardo hatte eine ganz außergewöhnliche visuelle Begabung. Er hat in Bildern und in Formen gedacht und das sieht man in seinen Notizbüchern. Er muss in der Lage gewesen sein, unwahrscheinlich komplizierte Formen in Windeseile mental zu drehen. Er muss ein phantastisches räumliches Denken gehabt haben und das war seine Weise, die Welt zu erfassen. Darin unterschied er sich radikal von den Gelehrten seiner Zeit, die Bücher-Gelehrte waren, deren Medium das Wort war.

Leonardo ist auch der erste, der konsequent Analogieschlüsse nutzt – heute wissenschaftlicher Standard: Leonardo war ein Meister darin, Erkenntnisse, die er auf einem Gebiet gewonnen hat, in ein ganz anderes Gebiet zu übersetzen. Auf virtuose Weise tat er dies in seinen anatomischen Studien.

Anatomische Studien

Leonardo hat sich mit Anatomie Jahrzehnte nachdem er sich mit der Wasserbaukunst auseinander gesetzt hat, befasst – war aber in der Lage, das, was er über den Fluss des Wassers gelernt hatte, auf die Verhältnisse im menschlichen Blutkreislauf zu übersetzen. Und hat sofort gesehen – das ist eine tiefe Einsicht in die Einheit der Natur, das ist eine gewaltige Abstraktionsleistung –, dass die Strömungsverhältnisse beispielsweise im menschlichen Herzen denen in einer Schleusenkammer ähneln können.

Da Vinci geht aber noch weiter. Er zeichnet nicht nur das, was er gesehen hat, sondern beginnt zeichnend zu experimentieren, was in der Natur sein könnte – eine frühe Form virtueller Realität.

Leonardo war ein Pionier der experimentellen Methode Er hat als einer der ersten den Wert der Beobachtung und des systematischen Experiments erkannt.

Leonardo da Vinci war der erste, der so etwas erfunden hat wie künstliche Herzklappen. Leonardo da Vinci hat das Prinzip der Arteriosklerose erkannt. Er hat das nicht so genannt, aber er hat eingesehen, dass durch Verengung der Blutgefäße die Leistung des Herzens so stark geschwächt werden kann, dass ein Mensch sterben kann.

Die rund 6000 Seiten mit Leonardos Zeichnungen zeigen einen Menschen, der sich so vielfältig mit Natur und Kunst beschäftigt hat wie kaum ein anderer. Leonardo begründete, was man heute interdisziplinäre Forschung nennt. Darum sehen ihn immer mehr Wissenschaftler nicht mehr nur als Maler oder Ingenieur oder Anatom, sondern verstehen sein großartiges Werk als Einheit.


Zitate aus: Matthias Kußmann: Leonardo da Vincis Naturphilosophie Zeichnend die Welt verstehen, SWR2 Wissen, Sendung vom 8. Dezember 2017, Redaktion: Ralf Kölbel, Regie: Günter Maurer, Produktion: SWR 2017

Weitere Literatur: Stefan Klein: Da Vincis Vermächtnis oder Wie Leonardo die Welt neu erfand. Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt am Main 2014   -   Thomas Heichele: Die erkenntnistheoretische Rolle der Technik bei Leonardo a Vinci und Galileo Galilei im ideengeschichtlichen Kontext. Aschendorff Verlag, Münster 2016