Donnerstag, 9. Oktober 2014

Norbert Hoerster und die notwendigen Grundrechte

Unter Grundrechten werden die Rechtsnormen zusammengefasst, die im Prinzip für jedes Mitglied der Gesellschaft von fundamentaler Bedeutung sind. Man kann bei den Grundrechten unterscheiden zwischen Abwehrrechten und Anspruchsrechten.

Die Abwehrrechte dienen ausschließlich der Abwehr oder Verhinderung von schädigenden Angriffen auf einen Menschen. Diese Normen verpflichten also nicht zu einem bestimmten Handeln, wohl aber zu einem bestimmten Unterlassen.

Im Anschluss an den liberalen Denker Robert Nozick (1938 – 2002) geht auch Norbert Hoerster in seinem Buch „Was ist eine gerechte Gesellschaft? Eine philosophische Grundlegung“ von vier zentralen Abwehrrechten aus: Dem Recht auf Leben, dem Recht auf körperliche Unversehrtheit, dem Recht auf Freiheit und dem Recht auf Schutz des Eigentums. 


Liegen praktisch im Interesse eines jeden Menschen: Das Recht auf Leben, das Recht auf körperliche Unversehrtheit, das Recht auf Freiheit und das Recht auf Schutz des Eigentums 


Bereits John Locke (1632 - 1704) hatte den Anspruch der Individuen auf bestimmte Grundrechte in seiner Zweiten Abhandlung über die Regierung (§87) durch den Begriff des "Eigentums" - property - beschrieben, mit dem Locke den Anspruch auf die drei anderen Rechte, Leben, Freiheit und Besitz - life, freedom, estate - zusammenfasst.

Begründen lassen sich diese vier Rechtsnormen dadurch, dass jeder Mensch im Grunde von ihnen profitiert. Der Schutz, den sie propagieren, liegt insofern „im allgemeinen subjektiven – und damit im intersubjektiven – Interesse praktisch aller Bürger“ (43).

Diese Grundrechte können gleichwohl in Konflikt miteinander geraten. Wenn ich ein Kind nur dadurch aus einer brennenden Wohnung retten kann, indem ich die Tür einschlage, so ist die Verletzung des Eigentumsrechtes in diesem Fall offensichtlich gerechtfertigt.

Diese Beobachtung führt gleichwohl zu der Erkenntnis, dass die Grundrechte nicht eine absolute Gültigkeit besitzen, sondern als prima facie Rechte (lat. „auf den ersten Blick“, „bis auf Widerruf“, „solange sich keine gegenteiligen Evidenzen einstellen“) zu verstehen sind, d.h. sie sind  prinzipiell zu befolgen, aber nicht unter allen Umständen.

Neben den Abwehrrechten gibt es die Grundrechte auch in Form von Anspruchsrechten. Dabei ist die „mit einem Anspruchsrecht verbundene Pflicht … zu einem bestimmten Handeln … in der Regel viel anspruchsvoller als die mit einem Abwehrrecht verbundene Pflicht … zu einem bestimmten Unterlassen“ (47).

Nach Ansicht Hoersters gibt es drei zentrale Anspruchsrechte:

Das Recht auf Erfüllung eines geschlossenen Vertrages gibt kaum Anlass zu Diskussionen, denn auch hier ist offenkundig, dass jeder aufs Ganze gesehen von diesem Recht profitiert.

Schwieriger hingegen verhält es sich mit dem „Anspruchsrecht auf Leben.“  Hoerster versteht darunter das Recht, „mit jeden Grundgütern versorgt zu werden, die für jeden Menschen die notwendige Voraussetzung eines gelungenen, glücklichen Lebens sind, dass heißt also mit einer ausreichenden Ernährung, mit einer erträglichen Unterkunft und mit einer im Notfall zur Verfügung stehenden medizinischen Versorgung“ (49).


Grundsicherung - ein Recht für jeden Bürger?
(Foto: Karl-Josef Hildenbrand/DPA)

Dieses Recht sollte Hoerster zufolge gleichwohl nur ganz bestimmten Menschen zugestanden werden, den "unfreiwillig Armen“, also denen, die "aus nachvollziehbaren Gründen nicht dazu in der Lage sind, sich diese Grundgüter selber zu beschaffen.“

Es gibt also prinzipiell keinen Grund, „wirklich jedem Bürger ein Recht auf Leben im Sinne der genannten Grundgüter“ einzuräumen: „Warum soll jemand, der diese Grundgüter bereits besitzt bzw. sich mit seinem vorhandenen Vermögen oder durch seiner Hände Arbeit problemlos beschaffen kann, aber vielleicht zu faul zum Arbeiten ist, derart von der Gesellschaft, also seinen Mitbürgern versorgt werden?“ (ebd.).

In der Sichtweise Hoersters ist das Anspruchsrecht auf Leben oder Grundversorgung also keine Forderung der Verteilungsgerechtigkeit, sondern der Grundgerechtigkeit, denn hier geht es ja gerade nicht darum, „irgendwelche Unterschiede in der Gesellschaft auszugleichen, sondern darum, jedem Bürger, der über eine bestimmte relevante Eigenschaft – die unfreiwillige Armut – verfügt, einen bestimmten Anspruch zu gewähren.

Auch das dritte Anspruchsrecht, das sich in der Forderung nach einem allgemeinen Recht auf Chancengleichheit ausdrückt, wird von Hoerster als unbegründet und utopisch zurückgewiesen.

Chancengleichheit: utopisch und unbegründbar

Diese Forderung wird meist so verstanden, dass „allen Menschen bzw. Bürgern im Sinn der Verteilungsgerechtigkeit gleiche Chancen im Sinne gleicher Ausgangsbedingungen für ein erfolgreiches Leben bereitgestellt werden“ (54).

Für Hoerster aber gibt es überhaupt keinen Grund, warum beispielsweise die von der Natur Bevorteilten auf ihre Erfolgschancen zugunsten der Benachteiligten freiwillig verzichten sollten. Vielmehr kann zwischen Menschen mit unterschiedlichen natürlichen Begabungen und Fähigkeiten in der Regel auf eine realistische wie legitime Art und Weise keine Chancengleichheit hergestellt werden.

Wolle man dagegen Chancengleichheit in dem Sinn herstellen, dass alle Menschen nicht nur die naturgegebenen, auch die gleichen sozialen Möglichkeiten zur Ausbildung ihrer Fähigkeiten – und damit die gleichen realen Erfolgsaussichten – haben, müsse man gezwungenermaßen „alle Menschen einer Gesellschaft in den gleichen sozialen Verhältnissen aufwachsen lassen. Zu diesem Zweck müsste man alle Kinder unmittelbar nach der Geburt ihren Eltern dauerhaft wegnehmen, sie über ihre Herkunft in Unkenntnis lassen und sie in staatlichen Anstalten, die alle gleich ausgestattet sind, aufziehen und unterrichten.“ – Eine Horrorvorstellung …

Der tyrannische Herrscher ("Allegorien auf die gute und schlechte Regierungen"
von
Ambrogio Lorenzetti, Wandmalerei im Rathaus von Sienna)

Völlig anders sieht dagegen die Beurteilung Hoersters aus, wenn es um die Forderung nach dem Recht auf eine gewisse Erziehung und Ausbildung geht.

Auch hier – wie schon beim Anspruchsrecht auf eine Grundversorgung – geht es schließlich nicht darum, „irgendwelche Menschen bzw. Gruppen von Menschen anderen Menschen gleichzustellen, sondern in erster Linie darum, allen Bürgern der eigenen Gesellschaft, soweit möglich, eine reelle Chance zu geben, auf der Basis ihrer gegebenen Fähigkeiten und Lebensumstände ein sinnvolles Leben zu führen“ (59).

Ob mit diesem Recht auch der Anspruch verbunden ist, Begabten aus der Unterschicht neben der Schul- auch eine Universitätsausbildung einschließlich Lebensunterhalt zu finanzieren, oder ob die Geförderten diese Kosten später wieder erstatten sollten, sind Fragen, die auch in Abhängigkeit vom Gesamtwohlstand der jeweiligen Gesellschaft beantwortet werden müssen.

Das Ziel jedenfalls, „allen Menschen ein gleichermaßen gelungenes, erfülltes Leben zu verschaffen, ist weder begründbar noch unter Wahrung der  vier oben genannten Abwehrrechte auch nur ansatzweise erreichbar“ (62).

Zitate aus: Norbert Hoerster: Was ist eine gerechte Gesellschaft? Eine philosophische Grundlegung. München 2013 (C.H. Beck)  -  John Locke: Zweite Abhandlung über die Regierung, Frankfurt am Main 2007 (Suhrkamp Studienbibliothek) 

Zur Frage der Menschenrechte siehe auch: Noberto Bobbio: Das Zeitalter der Menschenrechte. Ist Toleranz durchsetzbar?, Berlin 2007 (Wagenbach)

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