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Donnerstag, 14. April 2022

Robert H. Jackson und die Einleitung eines unrechtmäßigen Krieges


Der gelernte Rechtsanwalt Robert H. Jackson aus der Kleinstadt Jamestown konnte so gut reden, dass man irgendwann in New York auf den Provinzanwalt aufmerksam wurde. Seiner Nähe zur Demokratischen Partei war es wohl zu verdanken, dass er 1934 Chefjustiziar der New Yorker Finanzbehörde wurde. „Sein bestechendes Auftreten, sein Selbstbewusstsein – manche sagten: seine Eitelkeit – brachten ihm schnell die Sympathie der Politprominenz ein. Franklin D. Roosevelt und Henry Morgenthau wurden seine Förderer. 1938 war er schon Generalstaatsanwalt und 1940 Justizminister der USA, 1941 Richter am Supreme Court.“ Höher kann man als Jurist in den USA nicht kommen.

Robert H. Jackson (1892 - 1954)

Trotzdem hat Jackson die Welt verändert, denn ihm allein ist es zu verdanken, dass am 1. Oktober 1946 Hermann Göring zusammen mit achtzehn anderen führenden Mitgliedern des Hitlerregimes als Verantwortlicher eines verbrecherischen Staats- und Kriegsapparates verurteilt wurde. 

Mit diesem Prozess wurde die bisher gültige juristische Weltordnung geradezu aus den Angeln gehoben, denn das Nürnberger Urteil bedeutete beschrieb eine radikale Wende „eines jahrhundertealten unmenschlichen Völkerrechts, das den Staaten das Recht garantierte, Kriege zu führen, und das Staatsführer und Kriegsherren freistellte von jeder Verantwortung für das Unheil, das sie über die Menschen gebracht hatten.“

Das Urteil von Nürnberg erschütterte diese alte Staatenordnung, die seit dem Ende des Dreißigjährigen Krieges 1648 den staatlichen Souveränen des Recht gab, das eigene Volk straflos zu unterdrücken oder sogar zu vernichten – wie eine deutsche Regierung es mit den Juden tat.

„Die Erklärung der Menschenrechte, das Gewaltverbot der Vereinten Nationen, die weltweite Ächtung des Völkermordes als Verbrechen: Ohne diesen unglaublich ehrgeizigen und eloquenten Provinzanwalt aus Jamestown wäre es so weit nie gekommen.“

„Dreh- und Angelpunkt für Jacksons Neuordnung der Welt war ein Straftatbestand, den das Völkerrecht bislang nicht kannte: `Das Verbrechen, welches alle geringeren Verbrechen einschließt´, sei die `Einleitung eines unrechtmäßigen Krieges´.“ Das war die Grundidee: „`Angriffskriege sind Bürgerkriege gegen die internationale Völkergemeinschaft´, hatte er schon im März 1941 in öffentlichen Reden erklärt. Und diese Idee war geeignet, ein völlig neues Kriegsrecht zu begründen.“

In der bisherigen Rechtstradition war es immer nur um das Recht im Kriege, das `ius in bello´ gegangen – also im Wesentlichen um jene humanitären völker-rechtlichen Verträge, die zwischen zwölf Staaten zuerst 1864 in Genf `betreffend die Linderung des Loses der verwundeten Militärpersonen´ geschlossen worden waren. „Dieses Kriegsrecht, das Disziplinlosigkeiten und Übertreibungen beim Geschäft des organisierten Tötens zur Strafsache machte, sollte dafür sorgen, dass es korrekt zuging im Krieg.“

Jackson als Hauptankläger in Nürnberg

Doch nun sollte Jackson zufolge alles anders werden. Nun wurde das `ius ad bellum´ in Frage gestellt, also das Recht, Kriege überhaupt führen zu dürfen. „Die `seltene Gelegenheit´ für den Umsturz der seit Generationen geltenden völkerrechtlichen Regel, am Ende eines Krieges zwischen Siegern und Besiegten `immerwährendes Vergessen und Amnestie´ zu gewähren, war tatsächlich der Zweite Weltkrieg. 

Noch Hitler hatte am Vorabend des Überfalls auf Polen 1939 tönen können: `Bei Beginn und Führung des Krieges kommt es nicht auf das Recht an.´ Doch was dann geschah, hatte nichts mehr von den Sitten und Gebräuchen des guten alten Krieges nach westfälischem Muster übrig gelassen, die eine Unterscheidung zwischen `Kriegskunst´ und Mord erlaubt hätten. Hitlers Krieg sollte im immerwährenden Gedächtnis der Menschheit bleiben: als mörderisches Verbrechen. `Aggression´ wurde zum Codewort für Jacksons Kriegsrecht: das Verbrechen des Angriffskrieges.“

„`Die Amerikaner´, so resümierte viel später der US-Politologe Samuel Huntington, `neigen dazu, die Ideale ihrer Innenpolitik auf die Außenpolitik zu übertragen´, auf die Außenpolitik der ganzen Welt natürlich. Frieden durch Recht: So gesehen war das eine total amerikanische Idee. Die Weltpolitik sollte zur Rechtssache nach dem Selbstbild des Rechtsstaates Amerika werden, der ja auch in seinem Inneren die Definition von Gut und Böse unabhängigen Gerichten überließ.“

`Das Prinzip der Rechtsstaatlichkeit zwischen den Nationen´, hatte Jackson gefordert, „müsse an die Stelle des alten westfälischen Gewaltprinzips der Fortsetzung der Politik mit den Mitteln des Krieges treten – und dazu gehöre auch, dass man die Verantwortlichen des besiegten Gegners vor ein faires Gericht stelle.“

Jacksons Idee bestand darin, persönliche Verantwortlichkeit für staatliches Unrecht statuieren. Das implizierte, die diese Verantwortlichkeit im Einzelfall auch beweisen zu können: `Gerichte sprechen Recht über Fälle, aber Fälle richten auch Gerichte.´ „Doch könnte ein Gericht über die Besiegten glaubwürdig und rechtsstaatlich handeln, das aus den Siegern eines Krieges besteht?"

Gerade um den Vorwurf der `Siegerjustiz´ zu vermeiden, bestand Jackson darauf, dass so ein Gerichtsverfahren keinesfalls zu einem Schauprozess verkommen dürfe: `Man soll keinen Menschen vor einer Institution, die sich Gericht nennt, unter Anklage stellen und das Ganze ein rechtsstaatliches Gerichtsverfahren nennen, sofern man nicht gewillt ist, ihn freizusprechen, wenn seine Schuld nicht erwiesen ist.´

Acht der 24 Hauptangeklagten in Nürnberg: Göring, Heß, von Ribbentrop, Keitel (vorne), Dönitz, Raeder, von Schirach, Sauckel (hinten)

Natürlich war sich auch Jackson bewusst, dass einer wie Göring niemals freigesprochen werden könnte. „Doch seine Reden vom Rechtsstaat zeugten von Prinzipienfestigkeit – und sie überzeugten den soeben ins Amt gekommenen Präsidenten Harry S. Truman.

Für Truman war schnell klar, dass Jackson der richtige Mann für die Rolle als Hauptankläger war, um „die Naziführung anzuklagen `wegen der Einleitung eines Angriffskrieges´ und `der kriminellen Verschwörung´. Am 27. April 1945 notiert Robert Jackson in seinem Tagebuch: `Außerordentlich erfreut über das Angebot und herausgefordert von der Schwierigkeit der Aufgabe habe ich die Sache in meine Obhut genommen.´“

Jackson bekam von Truman persönlich freie Hand, sich die besten Juristen Amerikas für die Aufgabe auszusuchen. Die waren auch nötig. Denn nun ging es darum, ein Anklagekonzept zu entwickeln, das völkerrechtlich tragfähig war – und von den drei anderen Alliierten akzeptiert wurde.


Zitate aus: Thomas Darnstädt, Nürnberg. Menschheitsverbrechen vor Gericht 1945, München 2015 (piper)


Donnerstag, 17. September 2020

Thukydides und der Melierdialog


Die Eroberung von der Kykladeninsel Melos wäre ein Randereignis des Peloponnesischen Krieges geblieben, hätte der griechische Historiker Thukydides nicht die Verhandlungen zwischen Athenern und Meliern in Form eines Dialogs wiedergegeben, der – in seinen Zentralaussagen bis heute gültig – das Wesen von Machtpolitik bloßlegt.


Melos war eine Gründung der Spartaner. Bodenschätze und die geschützte Lage machten Melos so wohlhabend und selbstbewusst, dass die Insel die Aufnahme in den von Athen dominierten Attischen Seebund verweigerte und für sich Neutralität reklamierte.


Die Kykladeninsel Melos im Spannungsfeld der Großmächte Athen und Sparta

 


Schon im Jahre 426 unternahmen die Athener deshalb einen ersten Versuch, die Insel in ihr Herrschaftssystem einzubinden. Obwohl die Athener die Insel nicht erobern konnten, erklärten sie sie einfach für erobert und verpflichteten sie zu jährlichen Tributzahlungen zugunsten des Tempelschatzes der Athena. Natürlich weigerten sich die Melier, diese Zahlungen zu entrichten.

 

Zehn Jahre verstrichen bis erneut eine Flotte der Athener gegen Melos aufbrach. Die Melier waren ahnungslos, es herrschte Frieden, nichts ließ einen athenischen Angriff erwarten, nichts rechtfertigte ihn. Thukydides’ Text spiegelt die Überraschung wider. „Der Historiker leitet den Bericht nicht ein, kennt keine Zusammenhänge und nennt – vielleicht weil sie ihm zu selbstverständlich waren – keine Motive.“

 

Im Gegensatz zum ersten Eroberungsversuch setzten die Athener zunächst auf Verhandlungen. Ein gegenseitiges Abkommen sollte Athen die gewaltigen Kosten einer mehrmonatigen Belagerung ersparen. Die athenischen Truppen konnten zwar leicht die Insel besetzen und abriegeln, die befestigte Stadt Melos zu erobern waren sie aber nicht in der Lage. Einziges Mittel, ummauerte Poleis zu erobern, war damals Aushungern oder Verrat.

 

„Die Verhandlungen, die Thukydides im sogenannten Melier-Dialog verdichtet, scheiterten, und so begann im Sommer 416 die Belagerung. Im folgenden Winter zwangen Hunger und Verrat die Melier schließlich zur bedingungslosen Kapitulation. Die Athener töteten alle erwachsenen Männer, verkauften Kinder und Frauen in die Sklaverei und schickten später 500 Siedler auf die entvölkerte Insel.“

 

Das Unternehmen gegen Melos war nicht die erste fragwürdige Eroberung der Athener. Vorher hatten sie bereits die Bewohner von eroberten Poléis – Histiaia, Aigina, Torone oder Skione, um nur einige zu nennen – ausgelöscht. Die Eroberung von Melos war gleichwohl deshalb besonders schändlich, weil Athen in Friedenszeiten eine griechische Stadt angriff und unerbittlich auslöschte.

 

„Das Wort vom `Limos Meliaios´, vom melischen Hunger, kursierte schon bald nach dem Ende der Belagerung in ganz Griechenland, Aristophanes gebraucht es 414, also nur zwei Jahre nach der Eroberung von Melos, in seiner Komödie Die Vögel. Noch fast anderthalbtausend Jahre erläutert die Glosse eines byzantinischen Lexikons den `Hunger von Melos´ „sprichwörtlich für eine aussichtslose Lage.“

 

Ob Thukydides über die Verhandlungen auf Melos aus erster Hand informiert wurde, ob er sogar die beteiligten Strategen befragt hat, bleibt im Unklaren. Es ist letztlich auch nicht relevant, „denn was die Athener im Dialog des Thukydides sagen, haben sie vor dem Rat der Melier sicherlich nicht gesagt. Sie sprechen bei Thukydides vielmehr das aus, was sie – nach Meinung des Historikers – aller Wahrscheinlichkeit nach gedacht haben, aber realiter zweifelsohne hinter diplomatischen Floskeln verbargen.“


Thukydides (454 - 399 v. Chr.)


Im Vordergrund der Reden der historischen Athener in Melos standen zweifelsohne ihre tatsächlichen Verdienste für die Insel. „Ein paar Jahrzehnte zuvor hatte Herodot die Athener als `Retter Griechenlands´ geadelt: `Wer nun also sagt, die Athener seien die Retter von Hellas geworden, der wird das Wahre kaum verfehlen. Denn auf welche Seite die Athener sich schlugen, da mußte die Waage sinken. Sie aber wählten Hellas’ Überleben in Freiheit, und so sind sie es gewesen, die das ganze restliche Griechenland – soweit es nicht persisch gesinnt war – aufrüttelten und den König (nächst den Göttern) zurückschlugen.“

 

Die Athener waren überzeugt davon, dass sie es waren, „die einst die Griechen vor den Barbaren gerettet hatten und sie nun weiterhin vor ihnen beschützten: Nur die athenische Flotte schrecke den Großkörnig vor einer neuerlichen Invasion ab. Und nicht allein dies. Die Präsenz athenischer Patrouillenschiffe in der Ägäis garantiere die von Seeräubern stets bedrohte Sicherheit des Meeres, den ungehinderten Handel unter den Städten und den Inseln der Ägäis sowie die lebenswichtige Versorgung mit Getreide in den periodisch wiederkehrenden Notzeiten.“

 

In Athen war man sich einig, dass dieser Schutz Geld kostete. „In der Schifffahrtsperiode zwischen März und Oktober waren ständig 60 Trieren unterwegs, die ausgerüstet und gewartet werden mußten. Allein der Lohn für die Besatzungen betrug fast ein Talent pro Tag. So war für die Athener ein Anspruch auf Entschädigung selbstverständlich, die Phoroi waren im Verständnis der Athener keine Tribute, sondern Beitrage zur Sicherheit und Wohlfahrt der Bündner und aller Griechen, die Seefahrt betrieben.“

 

Im Gegensatz zu diesen Gründen, die die historischen Athener in Melos vermutlich mit Recht für sich beanspruchen können, bezeichnen die Athener des Thukydides diese Argumente allerdings als kalà onómata, als `schöne Worte´. Bei Thukydides sind die Athener der festen Überzeugung: „Im menschlichen Denken, nicht freilich in der öffentlichen Bekundung, zähle allein die Macht. Der Überlegene setze durch, was ihm beliebe, Recht sei eine Konvention, die nur dort greife, wo sich gleich starke Kräfte neutralisierten und auf einen Kompromiss einigen müßten.“

 

Für die Athener des Dialogs steht die Unterwerfung von Melos außer Diskussion. „So machen sie einen Vorschlag, bei dem sie – mit Blick auf das Ende durchaus zu Recht – Vorteile für beide Seiten sehen. Die Kapitulation der Insel er- spare ihnen, den Athenern, Verluste an Soldaten und Trieren, Kosten und Zeit, die Melier aber kämen mit dem Leben davon und blieben als Untertanen im Besitz ihres Territoriums.“

 

Die Melier dagegen hoffen auf das Kriegsglück, auf die Götter und die Spartaner. Für die Athener freilich ist auch Hoffnung nur ein schönes Wort, das Schwache - wie die Melier - ins Verderben führt. „Am Wohlwollen der Götter, erklären sie, zweifelten sie nicht, und die Truppen der Spartaner fürchteten sie nicht. Für die Athener (und für Thukydides) gilt der Nómos, der das Leben der Menschen bestimmt, auch für die Götter: Wie jene stünden diese unter demselben Gesetz der Macht, dem zufolge der Stärkere über den Schwächeren obsiege.“

 

Die Verhandlungen scheitern, es kommt zu keiner Einigung. Der Erfolg von 426 hatte die Melier ermutigt, und so hofften sie, sich auch jetzt behaupten zu können. „Wer im blinden Vertrauen sich seinen Hoffnungen ganz ausliefere, werde auch alles verlieren, läßt Thukydides die Athener sagen und verzichtet auf einen Kommentar. Zwei Sätze genügen ihm, um nun die Kampfhandlungen beginnen zu lassen, sieben weitere, um den Untergang von Melos zu besiegeln.“

 

Athenische Hoplitenfalange bei Kampfübungen


Der Vernichtung von Melos ist der Wendepunkt in der Geschichte der Großmacht Athen. „Expressis verbis formuliert hat es der Historiker nicht, doch er hat die Melier zu Titelhelden jenes kleinen Textes gemacht, der zu den wichtigen der Weltliteratur zählt und nach knapp zweieinhalbtausend Jahren noch keine Altersspuren zeigt – ebendieses `furchtbaren Gesprächs´, wie Friedrich Nietzsche sagen wird, zwischen ihnen und den Athenern.“


Thukydides schrieb sein Werk und damit auch den Dialog zwischen Athenern und Meliern nach dem Ende des Peloponnesischen Krieges, d.h. nach dem Untergang des athenischen Reiches. „Er bietet die Summe seiner Erfahrungen und weit mehr als nur eine Analyse der athenischen Expansionspolitik. Der Historiker sucht das Wesen der Macht zu ergründen, der Dialog handelt scheinbar vom Peloponnesischen Krieg, tatsächlich aber von allen Kriegen. Er bildet den inhalt-lichen Mittelpunkt des Werkes […]. Athener und Melier sprechen unkommentiert, und Thukydides sagt nicht, welche Argumente er billigt und welche er verurteilt, ob er das Geschehen als kriegsnotwendig akzeptiert oder kritisiert, ob er die Partei der Unterlegenen ergreift oder sich seiner Heimatstadt verpflichtet sieht. Der Historiker berichtet knapp, kühl, meidet jeglichen Affekt und verzichtet auf apologetische Erklärungen. Alles, was als Partei- oder Stellungnahme gelten könnte, ist aus dem Text getilgt. Thukydides schweigt hörbar, sagt Wolfgang Schade- waldt.“

 

Man könnte nach der Lektüre des Dialogs meinen, Thukydides stünde auf der Seite der unglücklichen Melier. „Der Leser traue, schreibt Jacob Burckhardt `den inneren Schauder, welchen er bei dem so völlig objektiven Bericht empfindet´, unwillkürlich auch dem Geschichtsschreiber zu. Doch nichts ist im Melier-Dialog so, wie es scheint. Letztlich bleibt unklar, wer agiert und wer reagiert; Täter und Opfer sind austauschbar, alle spielen nur Rollen: Wären die Melier in der Lage der Athener, verhielten sie sich wie diese. Die Tat, die die Athener begehen, ist eine, die jeder begeht, mehr noch – begehen muß. Die Melier hindert (für den Augenblick) nicht die Moral, sondern ihre militärische Schwäche.

 

Alle sind dem Nómos unterworfen, der sie nicht anders handeln läßt, als sie handeln. Deswegen verzichten die thukydideischen Athener auf schöne Worte, um das zu sagen, was diese verbrämen.“ Thukydides zieht hier, vor dem Hintergrund des bereits beendeten Krieges und der damit verbundenen athenischen Niederlage, verallgemeinerbare Lehren vom Wesen des Krieges überhaupt: „Im Melier-Dialog sind die Athener nur noch eine Chiffre. Sie stehen für die Tragik der Großmächte. Um nicht zu kollabieren, müssen diese sich ausdehnen. Nur Ausgreifen sichert das Überleben, dem Ende der Expansion aber folgt der Zusammenbruch. Thukydides hat so etwas wie Mitleid mit den Großmächten: Ihre Verbrechen sind vergebens, denn ihr Untergang ist so zwangsläufig wie der von Melos.“

 

 

Zitate aus: Wolfgang Will: Athen oder Sparta. Die Geschichte des Peloponnesischen Krieges, München 2019 (C.H.Beck) – Thukydides: Der Peloponnesische Krieg, Düsseldorf 2006 (Artemis und Winkler)

 

Donnerstag, 23. Juli 2020

Rainer Volk und der Krieg unter Tage

Seit der Antike bekriegt sich die Menschheit nicht nur über, sondern auch unter der Erde, in Stollen, Schächten und Tunneln. Im Dunkeln, in Panik schürender Enge, ständig in Gefahr zu ersticken, lebendig begraben oder aus gegnerischen Tunneln heraus überraschend angegriffen zu werden.

Grundsätzlich kann man davon ausgehen, so Rainer Volk in seinem Beitrag für den SWR 2, dass ab jenem Zeitpunkt, wo es Stadtmauern gab, die Leute auf der anderen Seite versucht haben, diese zu überwinden – oder, wenn das nicht möglich war, zu "unterwinden". Gelang es dem Angreifer sich unterirdisch an die Festung heran zu graben und eine Bresche zu sprengen, war der Weg ins Festungsinnere zumeist frei.

In früheren Jahrhunderten besaßen vor allem Bergknappen das für militärischen Tunnelbau nötige Wissen. Sie waren die harte Arbeit unter Tage in Erz-, Salz- oder Kohleminen gewohnt und erfahren darin, Stollen zu hauen und mit Balkenwerk abzustützen. Im Kriegsfall waren sie als Spezialisten hoch begehrt, hoch bezahlt – und hochgefährdet.

Bergbau im Mittelalter

Die "Mineure", so der militärische Terminus für diese Bergleute, hatten eines der gefährlichsten Kriegshandwerke überhaupt inne. Sie hatten bei der Arbeit kaum Sauerstoff und, vor allem bei langen Tunnelsystemen, war es nicht immer möglich, genügend Sauerstoff in die Tunnel zu bringen. Häufig musste man, um Sauerstoff zu sparen, dann auch noch auf Licht verzichten. Die Mineure arbeiteten vielfach also im Stockdunkeln. Man kann sich nur schwer die starke psychische Belastung ausmalen, der diese Menschen ausgesetzt waren.

Bereits in der Antike hackten und gruben sich Mineure in monatelanger Arbeit unter gegnerischen Festungsmauern hindurch. Häufig legten sie in ihren mühsam gegrabenen Stollen Feuer, um sie zum Einsturz zu bringen – und mit ihnen die Mauern darüber. Hinlänglich bekannt ist der Einsturz der Mauern von Jericho – erzählt im Alten Testament im Buch Josua im Kapitel 6. Da man damals noch keine Wurfgeschosse kannte, liegt eigentlich die Vermutung nahe, dass man die Mauern durch ihr Untergraben zum Einsturz gebracht hat.

Im Geschichtswerk "Ab urbe condita" des Titus Livius finden sich im IV. Buch im 22. Kapitel weitere konkrete Hinweise auf den antiken Tunnelkrieg. Bei der Eroberung der Latinerstadt Fidena im Jahre 426 v. Chr. wurden die Stadtmauern von den römischen Belagerern zielgerichtet untergraben. Titus Livius schreibt: „Weil er (gemeint ist der römische Feldherr Quinctus Servilius Prictus) keine Hoffnung hatte, die Stadt durch einen Angriff zu nehmen, oder sie zur Kapitulation zu zwingen, entschloss er sich, eine Mine unter die Festung zu graben – auf der gegenüber liegenden Seite der Stadt, wo man wegen des natürlichen Schutzes am wenigsten wachsam war. 

Titus Livius "Ab urbe condita"
Er lenkte seine Gegner so ab, dass sie nie merkten, wie die Arbeit voranschritt. Erst als der Weg durch den Berg vom Lager bis in die Zitadelle fertig gegraben war, stellten die Etrusker fest, dass sich die Stadt in der Hand ihrer Feinde befand.“

Ob Jericho und Fidena allerdings wirklich durch Tunnel erobert wurden, ist angesichts fehlender archäologischer Beweise nicht mit Sicherheit zu sagen. Anders sieht es mit den in der Region südwestlich von Jerusalem entdeckten und sehr gut erhaltenen Tunnelsystemen aus, die die Aufständische der jüdischen "Bar-Kochba-Revolte" im 2. Jahrhundert nach Christus gegen die Römer gegraben hatten. In den Tunneln versteckten sie sich vor der römischen Übermacht, und griffen sie bei günstiger Gelegenheit plötzlich wie aus dem Nichts an.

Diese Gänge waren so eng und niedrig, dass man sich bücken oder sogar kriechen musste. Oft verliefen sie gekrümmt, manche mit bis zu 90 Grad, oder veränderten durch senkrechte Schächte ihr Niveau. Es ist anzunehmen, dass ein Angreifer, der in dieses System eindringen wollte, dessen Labyrinth-Struktur nicht kannte und keine Waffen benutzen konnte, wenn er kroch. Denn er musste eine Lichtquelle in der Hand halten. Dadurch war er im Nachteil gegenüber denen, die im Hinterhalt auf ihn warteten. Die Übermacht einer für den Kampf Mann gegen Mann geschulten militärischen Einheit wurde so aufgehoben.

Im Mittelalter, als langsam wirksame Sprengstoffe aufkamen, wurde die Arbeit der Mineure effizienter, aber auch gefährlicher. 1453 stand der osmanische Sultan Mehmet II. vor den Toren Konstantinopels, die Hauptstadt des oströmischen Reiches, bzw. des griechisch-orthodoxen Byzanz. Er zog mit einem riesigen Heer vor die Stadt, das den Verteidigern zehnfach überlegen war. Doch den Eroberungsgelüsten der Osmanen standen die gewaltigsten Festungsmauern der Alten Welt im Wege: Drei Mauerringe aus römischer Zeit, von denen der innerste 13 Meter hoch und an die vier Meter stark war. Mit großem Getöse feuerten die Osmanen ohne Unterlass schwere Geschütze auf die Mauern, um Breschen zu schlagen. Doch kaum weniger gefährlich waren ihre Angriffsversuche im Verborgenen.

Die Belagerung von Konstantinopel 1453 durch den osmanischen Sultan Mehmet II.
Überwinden der Stadtmauern oder "unterwinden"?

Zur osmanischen Streitmacht zählten Bergleute aus serbischen Silberminen, die in der Nähe des Goldenen Horns begannen, die byzantinischen Mauern zu untergraben. Doch auch die griechischen Verteidiger konnten auf Fachleute wie den schottischen Bergmann John Grant zurückgreifen, der Gegenstollen graben ließ. Es gelang Grant, in den osmanischen Stollen einzudringen und dort Feuer an die hölzernen Abstützpfähle zu legen. Das Dach des Stollens stürzte ein und begrub viele der Bergleute unter sich.

Den Griechen gelang es sogar, einen Offizier der osmanischen Mineure gefangen zu nehmen. Er gestand ihnen unter Folter die genaue Lage anderer Tunnel. John Grant ließ sie mit Rauch füllen, zum Einsturz bringen oder mit Wasser aus den Zisternen Konstantinopels fluten, bis die Osmanen den Tunnelkampf schließlich aufgaben und sich auf das Zerschießen der Mauern beschränkten.

Am Tunnelkampf als heimliche Angriffstechnik hielten osmanische Heere freilich fest, auch als sie 230 Jahre später vor den Toren Wien auftauchten. Unter den etwa 120.000 osmanischen Belagerern sollen 5.000 Mineure und Sklaven gewesen sein, die im Hochsommer 1683 an Dutzenden von Stellen begannen, Tunnel unter die Wiener Befestigungsanlagen zu graben. Immer wieder detonierten gewaltige Sprengladungen direkt unter den Wällen der belagerten Stadt und brachten sie zum Einsturz. In ihrer Verzweiflung sollen die Verteidiger jeden Hausbesitzer verpflichtet haben, einen Mann abzustellen, der im Keller auf verdächtige Grab- und Hackgeräusche horchte.

Die Rettung kam diesmal von einem sächsischen Militäringenieur, den Kaiser Leopold I. als Chef seines Pionier-Korps verpflichtete: Georg Rimpler, der zuvor bereits bei Tunnelkriegen in Osteuropa und auf Kreta mitgekämpft hatte. Für Rimpler waren die vielen Gewölbe-Nischen und Keller Wiens so etwas wie "seismographische Vorposten". Rimpler stellt Wachen ab, die die Aufgabe hatten, darauf zu achten, ob man hört oder durch Erschütterungen merkt, dass sich feindliche Mineure annähern würden. Dazu stelle man entweder Kübel mit Wasser auf oder auch Erbsen in Schalen. Immer dann, wenn sich das Wasser bewegt hat oder die Erbsen begonnen haben zu rollen, war das ein Hinweis darauf, dass möglicherweise in der Nähe gegraben wurde.

Angriff der Türken auf das belagerte Wien
(Radierung von Romeyn de Hooghe, 17. Jh.)

Unter der Leitung Georg Rimplers begannen die Verteidiger nun ihrerseits, Abwehrstollen zu graben, um dem zerstörerischen Werk osmanischer Mineure Einhalt zu gebieten. Wenn sie aufeinander trafen, kam es zum Albtraum vieler Soldaten: Nahkampf, Mann gegen Mann, in der Enge und Dunkelheit der Tunnel.

Wie die Angreifer legten auch die Wiener unterirdische Sprengladungen und versuchten, osmanische Tunnel in die Luft zu jagen, doch ihre Sprengungen waren deutlich weniger effektiv als die der erfahreneren Osmanen. Als das Belagerungsheer nach einer verlorenen Schlacht schließlich abziehen musste, entdeckten die Wiener unter mehreren ihrer Wälle gegnerische Stollen mit fertig platzierten Sprengladungen, die nicht mehr gezündet worden waren.

Wegen der wachsenden Reichweite von Kanonen wurden Befestigungen im Laufe der Neuzeit immer weitläufiger und erhielten vorgeschobene Bastionen. Tunnel mussten also immer länger werden, um Wälle und Kasematten zu untergraben, so geschehen in Petersburg im US-Bundesstaat Virginia im Jahr 1864, gegen Ende des amerikanischen Bürgerkriegs.

Die Stadt war ein wichtiger und stark befestigter Eisenbahn-Knotenpunkt unweit von Richmond, der Hauptstadt der Konföderierten. Sie wurde Monate lang von Unions-Truppen belagert – ohne Erfolg. In den Reihen der Nordstaaten kämpfte Oberstleutnant Henry Pleasants, ein erfahrener Bergmann aus Pennsylvania. Henry Pleasants wurde in Buenos Aires geboren und wanderte als 13-Jähriger mit seinen Eltern in die USA ein. Pleasants war Ingenieur. Bei Beginn des Bürgerkriegs 1861 lebte er in der Kleinstadt Pottsville, Pennsylvania. Das war ein Zentrum des Steinkohlebergbaus in den USA – und Pleasants leitete dort zu Beginn des Bürgerkriegs die Zeche.

Henry Pleasants plante, wie einst die Osmanen vor Wien, einen Tunnel bis unter die Stellungen der Konföderierten zu graben und dort eine riesige Menge Sprengstoff detonieren zu lassen. So wollte er eine Bresche für den entscheidenden Sturmangriff der Unions-Truppen schlagen. Auf die Soldaten seines Regiments konnte Pleasants zählen. Viele von ihnen waren, wie er, Bergleute aus Pennsylvania.

Als sie im Juni 1864 Befehl erhielten zu graben, wussten sie was zu tun war. Sie gruben mit Hacken und Schaufeln und behalfen sich, als sie tiefer gruben, mit einer Art Schlitten aus Munitionskisten, um den Abraum wegzuschaffen. Sie mussten dabei für Frischluft sorgen, je tiefer sie gingen. Letztlich war der Tunnel gut 150 Meter lang und endete unter einer Stellung der Südstaaten. An seinem Ende verzweigte er sich T-förmig in zwei Sprengstoff-Kammern. In der letzten Juliwoche 1864 packten sie dort etwa 3,6 Tonnen Schwarzpulver hinein.

Am 30. Juli 1864, um 4 Uhr 44 morgens erschütterte eine gewaltige Explosion das Schlachtfeld: Der Krater, den sie hinterließ, war über 50 Meter lang, 30 Meter breit und neun Meter tief. Etwa 280 Soldaten der Konföderierten kamen bei der Explosion um. Trotzdem gelang den Unions-Truppen kein Sieg im Battle of the Crater, der "Schlacht um den Krater", wie sie in den USA bis heute genannt wird.

Der Krater in Petersburg heute

Als „Höhepunkt des Minenkriegs“ gilt bis heute der Erste Weltkrieg. Bereits 1914 begannen Deutsche, Franzosen und Briten an der Westfront Tunnel zu graben. Die Hoffnungen auf schnelle Siege hatten sich rasch als Illusion erwiesen, weshalb man unter anderem auf den Kampf unter Tage zurückgriff. Wieder war man auf Spezialisten aus dem zivilen Bergbau angewiesen, Bergleute, die Erfahrungen mitbringen, wie man in einem relativ weichen und feuchten Grund Stollen vortreiben kann, aber auch Techniker, die Entwässerungs- und Kanalsysteme angelegen konnten.

Die verheerendste Tunnelschlacht fand 1917 bei Messines im äußersten Westen Flanderns statt, wo sich der Frontverlauf seit drei Jahren kaum verändert hatte und sich gut Tunnel graben ließen. Auf Seiten der Aliierten trieben Pioniere aus Kanada, Australien und Großbritannien hier 19 Stollen bis zu 45 Meter tief in die Erde, um unter die deutschen Stellungen zu gelangen. Der längste Tunnel maß 660 Meter. Nach zwei Wochen nervenzerreißendem Artilleriebeschuss aus deutschen Schützengräben detonierten am 7. Juni 1917 400 Tonnen Dynamit in unterirdischen Kammern. Es war eine der größten nicht-nuklearen Explosionen der Geschichte.

Die Explosion in Messines soll bis London zu hören gewesen sein.

Der offizielle deutsche Heeresbericht meldete: „Punkt 4 Uhr früh verkünden dumpfe Erschütterungen bis 25 km landeinwärts den Beginn der Schlacht. An 19 Punkten zerreißen Zehntausende von Zentnern Dynamit den Erdboden, schleudern haushohe Wogen von Rauch, Flammen und mächtige Brocken in die Luft. Stark aber, wie jedes elementare Ereignis, war die seelische Wirkung auf unsere aus dem Schlaf gerissenen Truppen. Der weitgetriebene Luftdruck und die ausgestrahlten Hitzewellen verbreiten Verwirrung. Auch die rückwärtigen Besatzungen wissen von dem betäubenden Eindruck der umfassenden Sprengungen zu berichten.“

Die Deutschen beklagten 2.900 Tote, 15.000 Verwundete und fast 8.000 Vermisste – nach britischen Schätzungen war die Zahl der Opfer sogar noch höher. Dennoch wurde der strategische Zweck der Entente-Truppen, die Deutschen zurückzudrängen, nicht erreicht.

Doch der Erste Weltkrieg markiert nicht das Ende des Tunnelkriegs. Der Bau der Maginot-Linie an der Grenze zwischen Frankreich und Deutschland in den 20er Jahren, ein fast 1.000 Kilometer langer, weitgehend unterirdischer Festungsgürtel, konnte die Kapitulation Frankreichs nicht verhindern. „Erfolgreicher“ waren da schon die Kämpfer des Vietminh und Vietcong, die während der Indochina-Kriege Tunnel- und Höhlensysteme mit einer Gesamtlänge von mehreren Zehntausend Kilometern gegraben haben. Sie verfügten über Küchen, Schlafkammern, Lagerräume und Krankenstationen, wie in der Maginot-Linie, über Trinkwasserbrunnen und sogar Munitionsfabriken und Druckereien unter Tage.

Auch in Afghanistan boten Taliban-Kämpfer mit einem System aus Tunneln und Höhlen der hochtechnisierten US-Armee Paroli. Und im Frühjahr 2015 verbreitete der so genannte Islamische Staat, er habe einen Kommando-Komplex der syrischen Luftwaffe in Aleppo mit einer Sprengladung in einem eigens gegrabenen Tunnel zerstört.

Bemerkenswert ist es vielleicht, dass Pioniere der Bundeswehr heutzutage nicht mehr lernen, wie militärische Tunnel gebaut oder zerstört werden. Im Kriegsfall müssten die hochgerüsteten Streitkräfte des Westens also wohl, wie in früheren Jahrhunderten, auf das Wissen ziviler Bergbau-Ingenieure zurückgreifen …


Zitate aus: Rainer Volk, Tunnelkampf – Krieg unter Tage, SWR2 Wissen, Sendung vom 28. Mai 2016


Donnerstag, 1. Juni 2017

Hermann Hesse und der Krieg (Teil 1) - "Die Ideen von 1914"

Hermann Hesse
(ungefähr ein Jahr
vor Ausbruch des 1. Weltkrieges)
Hermann Hesse ist wie viele andere Dichter seiner Generation ein Verfechter der sogenannten „Ideen von 1914“, wie sie bei Kriegsausbruch von einer Reihe deutscher Publizisten vertreten werden.

Besonders die Thesen Werner Sombarts, der der „Krämerseele der angelsächsischen „Händler“ den „Opfermut deutscher Helden“ entgegensetzt, leuchten Hesse ein, aber auch Max Schelers Buch „Der Genius des Krieges und der deutsche Krieg“, in dem der Göttinger Phänomenologe den Krieg enthusiastisch begrüßt und das „geistige Deutschland“ aufruft, sich gegenüber englischem „Materialismus“ und „Imperialismus“ zu behaupten, findet seine Zustimmung. Auch der von Hesse geschätzte protestantische Theologe Ernst Troeltsch sieht in der Kriegseuphorie des August 1914 die Geburtsstunde eines „Glaubens an den Geist“, der über die Dekadenz der materialistischen Epoche triumphiere.

Sie alle stellen die „Ideen von 1914“ bewusst gegen die »Ideen von 1789«, also gegen die seit der Französischen Revolution für gültig erachteten Werte wie individuelle Freiheit, rechtliche Gleichheit und Solidarität der Völker.

Zu den »Ideen von 1914« gehört die Vorstellung des Krieges als einer seelischen Bewährungsprobe und einer grundlegenden Erneuerung.

Statt durch Askese sollen die Völker jetzt durch Kampf und Schmerz aus ihrem „satten Frieden“ herausgerissen werden. So schreibt Hesse im Brief an seinen Vater auch von der „moralischen Aufrüttelung“, die die Opfer bewirkten. Hesse steht ganz auf der Linie Thomas Manns, der während des Ersten Weltkriegs geschrieben hatte, im Krieg erfülle Deutschland eine historische Mission, es stehe für den Sieg der „Kultur“ über die „Zivilisation“, für „Gemeinschaft“ statt „Gesellschaft“, für Gefühl, Haltung und Stil gegenüber Vernunft, Skepsis und Auflösung.

Auch Hesse erwartet vom Krieg die große Läuterung, eine innere Umkehr, die der wilhelminischen Saturiertheit und vor allem dem verhassten, eigentlich ganz „undeutschen“ Kapitalismus ein Ende setzen soll. An einen Zürcher Bekannten schreibt er im Dezember 1914: „Die moralischen Werte des Krieges schätze ich im ganzen sehr hoch ein. Aus dem blöden Kapitalistenfrieden herausgerissen zu werden, tat vielen gut, grade auch in Deutschland, und für einen Künstler, scheint mir, wird ein Volk von Männern wertvoller, das dem Tod gegenübergestanden hat und die Unmittelbarkeit und Frische des Lagerlebens kennt … 

Wenn auch nur bei einem Teil der mitkämpfenden Jugend wirklich das Lebensgefühl vertieft wird, der Sinn fürs Unzerstörbare gestärkt wird, die Freude am Läppischen abnimmt, so ist damit mehr gewonnen als mit einigen Städten und Domen verloren gehen kann (...) Das gefällt mir eigentlich an diesem phantastischen Krieg, dass er gar keinen `Sinn´ zu haben scheint, dass es nicht um irgendeine Wurst geht, sondern dass er die Erschütterung ist, von der ein Wechsel der Atmosphäre begleitet wird. Da unsre Atmosphäre einigermaßen faul war, kann der Wechsel immerhin Gutes bringen. Ob es teuer und etwas allzu teuer erkauft sei, dürfen nicht wir entscheiden. Die Natur verschwendet immer, ihr ist das einzelne Leben nichts wert.“

Kriegsbegeisterung 1914

Hesse ist sich auch nicht zu schade, ein Huldigungsgedicht mit dem Titel „An den Kaiser“ zu verfassen, in dem er Kaiser Wilhelms bekannten Satz bei Kriegsausbruch, er kenne keine Parteien mehr, sondern nur noch Deutsche, lyrisch besingt:

Rings stehen deine tapfern Heere
Ums deutsche Reich auf treuer Wacht
Und tragen unsre deutsche Ehre
Auf blankem Schild von Schlacht zu Schlacht.

Und alle Schranken sind gefallen,
Es gilt nicht Name noch Partei,
Daß ein erneutes Reich uns allen
Als edles Gut gemeinsam sei.

Auf solchen Boden laßt uns bauen
Die Burg der Zukunft hoch und zier,
Ihr fester Grund sei das Vertrauen
Von dir zu uns, von uns zu dir.

Dann wird der deutsche Geist aufs neue
Durch die verklärte Heimat wehn
Und wieder in bescheidner Treue
An stille Friedenswerke gehen.

Und aus der Schlachten wildem Wüten
Sei jeder willig und bereit
Die Frucht zu retten und zu hüten:
Des deutschen Volkes Einigkeit!

Dennoch wird im November 1914 in deutschen Zeitungen eine Pressekampagne gegen Hesse losgetreten. Anlass ist sein Artikel „O Freunde, nicht diese Töne“, der am 3. November in der Neuen Zürcher Zeitung erscheint und Hermann Hesse in Deutschland gleichsam über Nacht zur Persona non grata macht.

Hesse zieht darin einen scharfen Trennstrich zwischen der patriotischen Parteinahme für Deutschland und seiner Liebe zur europäischen Kultur, also auch zu der der Kriegsgegner, der er nicht abzuschwören bereit ist. Wer am Schreibtisch „blutige Schlachtgesänge“ verfasse oder Artikel publiziere, in denen der Hass zwischen den Völkern genährt und die kulturellen Leistungen des Gegners heruntergemacht würden, verrate den Geist, schreibt Hesse und zielt damit auf Journalisten und Literaten beider Seiten. Europa gewinne nichts, wenn Deutsche und Franzosen sich weigerten, die Bücher des jeweils anderen zu lesen, es dürfe nicht so weit kommen, dass Mut dazu gehöre, ein gutes englisches Buch besser zu finden als ein schlechtes deutsches.

Deutsche Kriegspropaganda

Das Echo auf diesen gewagten und mutigen Aufruf ist gewaltig. Hesse wird in zwei Dutzend Blättern als Vaterlandsverräter diffamiert. Alte Freunde sagen sich von ihm los, aus Deutschland wird er mit Hassbriefen überschüttet, deutschnationale Buchhändler boykottieren ihn, der Verkauf seiner Bücher stürzt dramatisch ab.

Dafür gewinnt Hesse in dem französischen Schriftsteller Romain Rolland, der 1915 den Literaturnobelpreis erhält, einen Freund, der seine versöhnliche Haltung überschwänglich lobt. Dem Konstanzer Komponisten Alfred Schlenker gegenüber räumt Hesse seine verfahrene Situation ein, die ihn zwischen Patriotismus und Internationalismus schwanken lässt: 

„Dem Kriege gegenüber bin ich in einer fast peinlichen Lage. Ich fühle ganz für Deutschland und begreife den dort jetzt herrschenden, alles andere überwältigenden Geist von Nationalismus durchaus, kann ihn aber nicht so völlig teilen, wie es für ein vollkommenes Mitleben sein müßte. Ich ... bin durch Herkunft wie durch Gewohnheit so stark international eingestellt, daß ich jetzt in den Augen eines reinen Patrioten gar nicht ganz einwandfrei wäre. Mein Vater war Deutschrusse, Balte, meine Großmutter aus Neuchâtel, mir selber ist von Kind auf die Schweiz die zweite Heimat, freilich nur die deutsche. Dazu kommt mein Bedürfnis am Reisen und am Mitleben mit fremden Literaturen.“

Hermann Hesses Haltung zum Krieg bleibt zwiespältig. Seine Kriegsgedichte werden noch immer in Anthologien aufgenommen, er gehört also keineswegs der Antikriegsbewegung an wie Leonhard Frank, Hugo Ball oder Stefan Zweig, die als Exilanten von der Schweiz aus tätig sind. In einem Vorwort zur Broschüre „Zum Sieg“, die den Soldaten an der Front den geistigen Überbau für ihren Dienst an der Waffe liefern soll, bekräftigt Hesse noch einmal, dass es in diesem Krieg um nichts weniger als die „Weltherrschaft“ gehe, die Deutschland zufallen müsse. Der Soldat habe eine schwere, aber eindeutige Aufgabe: Er habe zu gehorchen und zu siegen.

Doch auch diese nationalistischen Auslassungen machen Hesse nicht unangreifbar, denn im Oktober 1915 ergießt sich erneut eine Flut von Beschimpfungen über Hesse. Weil er in einigen kurzen Bemerkungen in einem Artikel die Vorrangigkeit des Friedens vor dem Krieg behauptet hat und seine Erleichterung darüber ausdrückte, nicht einberufen worden zu sein, schmäht man ihn als „vaterlandslosen Gesellen“, „grinsenden Drückeberger“ und „schlauen Feigling“.

Trotz dieser bösen Erfahrungen mit den Patrioten seiner Heimat legt sich Hesse auch mit den Pazifisten an, die glauben, der in Deutschland Verfemte müsse notwendigerweise nun ihre Partei ergreifen. Hesse weist im November 1915 das Angebot, in pazifistischen Blättern und Organisationen mitzuarbeiten, zurück und provoziert mit der Aussage, der Krieg gehöre zum Leben und könne nicht einfach per Dekret abgeschafft werden. Die Pazifisten seien von der Verwirklichung des Friedens genauso weit entfernt wie ein Wissenschaftlerkongress von der Entdeckung des Steins der Weisen. Damit hat Hesse sich zwischen alle Stühle gesetzt, eine Position, die ganz gut zu seinem Außenseitertum passt.


Zitate aus: Heimo Schwilk: Hermann Hesse. Das Leben eines Glasperlenspielers, München, 2012