Donnerstag, 18. April 2024

Hannah Arendt und die Revolution

Im Februar 1965 beginnt die amerikanische Luftwaffe mit der Bombardierung von Nordvietnam. In den USA formiert sich langsam und öffentlich ein breiter Widerstand gegen den Krieg in Asien. An vielen Universitäten wird der Protest zum Widerstand. In Berkeley, wo die ersten Unruhen ausbrechen, hindern Studenten einen Zug mit Soldaten an der Weiterfahrt.

Doch die Kritik an der amerikanischen Politik in Vietnam ist nicht der einzige Grund für die Studentenunruhen. Es geht auch um Mitbestimmung an den Universitäten und um einen Protest gegen die Benachteiligung schwarzer Studenten.

Hannah Arendt (1906 - 1975)

Hannah Arendt, die seit 1955 mit Lehraufträgen in Berkeley betraut, verfolgt die Vorgänge in der Universätit mit großem Interesse. „In Berkeley“, so schreibt sie an ihren Freund und Mentor Karl Jaspers, „haben sie alles durchgesetzt, was sie wollten  – und können und wollen nun nicht abblasen; nicht aus Bosheit oder Verhetztheit, sondern einfach, weil sie Blut geleckt haben, was es heißt, wirklich zu handeln, und nun, da die Ziele erreicht sind, nicht wieder nach Hause wollen. Das ist sehr gefährlich, gerade weil es sich um etwas ganz Echtes handelt.“

Was dieses „ganz Echte“ ist und warum es auch „gefährlich“ sein kann, das hat Hannah Arendt in ihrem Buch „Über die Revolution“ beschrieben, das bereits 1963 erschien, also noch vor den Unruhen in Berkeley und anderen amerikanischen Universitäten.

Das Buch knüpft an ihr Werk „Vita activa oder: Vom tätigenLeben“ an. In diesem Werk ging es darum, was eigentlich Handeln bedeutet – im Gegensatz zum Arbeiten und Herstellen. Handeln ist für Arendt zuerst die Initiative zu ergreifen, zusammen mit anderen etwas Neues beginnen.

In ihrem Buch über Revolution führt sie den Gedanken weiter: Revolution ist gewissermaßen Handeln im großen Maßstab, das Ereignis, mit dem in der Geschichte eine alte Ordnung über Bord geworfen und ein neuer Anfang gewagt wird. Der Mut und die Begeisterung, etwas Neues anzufangen, wobei man eigentlich keine rechte Vorstellung davon hat, was dabei herauskommt, das ist für Hannah Arendt etwas Mitreißendes, dieses „ganz Echte“, eine elementare Erfahrung von Freiheit.

Arendt interessiert sich vor allem für die Frage, was aus diesem ersten spontanen Impuls wird. D.h., es geht darum, wie man verhindern kann, dass der revolutionäre Anfang in Chaos und Gewalt endet. Anders formuliert: Wie kann man Einrichtungen und Absicherungen schaffen, um diesen Impuls zu erhalten und ihn zu stabilisieren?

„Hannah Arendt beantwortet diese Fragen anhand der zwei wohl bekanntesten Revolutionen in der Geschichte: der Französischen Revolution und der Amerikanischen Revolution. Diese zwei historischen Ereignisse sind für sie Musterbeispiele dafür, wann eine Revolution glücken kann und wann sie missglücken muss.“

Für Arendt ist offensichtlich, dass die Französische Revolution einen Verlauf zeige, der ab einem bestimmten Punkt von der ursprünglichen Richtung abweicht. „Dieser Punkt war erreicht, als es den gemäßigten Girondisten nicht gelang, eine neue Verfassung durchzusetzen, und die radikalen Jakobiner die Befreiung der Massen von Not und Leid zum obersten Ziel machten. „Die Republik? Die Monarchie? Ich kenne nur die soziale Frage“, rief Robespierre aus.

„Eben mit dieser neuen Fragestellung, so Hannah Arendt, habe sich die Revolution zum Scheitern verurteilt. Jetzt wurde das Mitleid mit dem Volk, mit den Unglücklichen und Notleidenden zur politischen Tugend.“ Mitleid aber ist für Hannah Arendt jedoch nur gegenüber einem einzelnen Menschen möglich. Gegenüber einer Masse wird es abstrakt und wirkt sich politisch verheerend aus. „Das Elend eines ganzen Volkes sprengt sozusagen das Fassungsvermögen des Mitleids und es neigt dann dazu, dieses maßlose Unglück auch mit maßlosen Mitteln abschaffen zu wollen, sprich mit Gewalt.“ So kommt es zu dem merkwürdigen Paradox, dass jemand aus Menschenliebe und Mitleid bereit ist, über Leichen zu gehen.

Französische Revolution: Der Terror als Herrschaftsmittel

„`Immer wieder´, schreibt Hannah Arendt, `war es die Maßlosigkeit ihrer Emotionen, welche die Revolutionäre so seltsam unempfindlich für das faktisch Reale und vor allem für die Wirklichkeit von Menschen machte, die sie immer bereit waren, für die Sache oder den Gang der Geschichte zu opfern.´“ Diese „emotionsgeladene Unempfindlichkeitentsteht dann, wenn das Handeln von Wut geleitet wird und wenn das Ziel nicht mehr Freiheit ist, sondern „die schiere Wohlfahrt und das Glück“ .

Die Amerikanische Revolution dagegen ist in den Augen von Arendt ganz verlaufen. In ihr spielte die soziale Frage so gut wie keine Rolle, weil das Land reich war und eine Massenarmut und wirkliches Elend wie in Frankreich nicht kannte. „Der `Fluch der Armut´, so Hannah Arendt, lag für die amerikanischen Revolutionäre nicht nur in der materiellen Not, sondern auch in der `Dunkelheit´, nämlich darin, dass man `von dem Licht der Öffentlichkeit ausgeschlossen ist´“.

Dementsprechend lag den Gründervätern der USA alles daran, Einrichtungen zu schaffen, die es so vielen wie möglich erlauben sollten, an der Meinungsbildung mitzuwirken. „Statt dem ominösen `Willen des Volkes´, auf den sich die französischen Revolutionäre beriefen und der im Grunde nur ein Freibrief für Willkür war, gab es in Amerika Versammlungsstätten wie die `townhall meetings´, wo die einfachen Leute wirklich ihre Meinung äußern konnten. Statt Gewalt bildete sich auf diese Weise Macht, die auf einem gemeinsamen Willen beruhte.“

Das Aushandeln der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung (John Trumbull) 

Nach Arendt war dabei eben der Grundgedanke, den revolutionären Aufbruch sozusagen immer wieder zu wiederholen. „Und das hing in erster Linie davon ab, ob und in welcher Weise es gelang, den Einfluss der Bürger auf die Politik zu erhalten. Die Repräsentation durch Abgeordnete sollte nicht nur ein bloßer Ersatz für die direkte Teilnahme des Volkes sein. Im Hinblick auf die weitere Entwicklung schreibt Hannah Arendt: `Für eine vernünftige Meinungsbildung bedarf es des Meinungsaustauschs; um sich eine Meinung zu bilden, muss man dabei sein; und wer nicht dabei ist, hat entweder – im günstigsten Fall – gar keine Meinung oder er macht sich in den Massengesellschaften des neunzehnten und zwanzigsten Jahrhunderts aus allen möglichen, konkret nicht mehr gebundenen Ideologien einen Meinungsersatz zurecht.´“

Im Rahmen der Studentenproteste an den amerikanischen Universitäten kommt es zu Sit-ins und Teach-ins und auch Vorlesungen werden bestreikt. Hannah Arendt sympathisiert mit den Studenten, bleibt aber auch skeptisch. Für sie ist wichtig, dass der Protest nicht ausufert und nicht der `Mob´ die Führung übernimmt. Nach einer Veranstaltung gegen den Vietnam-Krieg, an der sie teilgenommen hat, schreibt sie an Karl Jaspers: “Alles außerordentlich vernünftig und unfanatisch. So überfüllt, dass man kaum durchkam. Niemand schrie, niemand hielt Reden, und das in einer Art Massenveranstaltung. Wirkliche Diskussion und auch Information. Sehr angenehm.” – eben ganz in der Tradition der amerikanischen Revolution bzw. ganz im Stile der Townhalls!

 

Zitate aus: Alois Prinz: Hannah Arendt oder die Liebe zur Welt, Weinheim 2013 (Insel)

Donnerstag, 11. April 2024

Michael Lüders und die Gefahr des betreuten Denkens - Teil 7

Fortsetzung vom 04.04.2024

„Der Moralismus ist das Schwert der Unvernunft, das die Welt in Gut und Böse teilt.“ So lautet eine der zentralen Thesen des langjährigen Nahost-Redakteurs der ZEIT, Michael Lüders, die er in seinem Buch „Moral über alles? Warum sich Werte und nationale Interessen selten vertragen.“ ausführt. 

"Die Identitätspolitik ist dabei das Schwert der Moral, die Ikone des Moralismus wider die Vernunft. Sie bietet ihren Anhängern Orientierung und Sinn, natürlich auch Jobs, etwa mit Hilfe von Quotenregelungen (…), und vor allem einfache Antworten auf schwierige Fragen.

In Verbindung mit transatlantischer Werteorientierung (Freiheit, Demokratie, Menschenrechte) entsteht hier ein wirkmächtiges gesellschaftliches Amalgam, der Anti-Machiavelli schlechthin. Nicht die Staatsräson zählt, nicht das nationale Interesse, auch keine `diskursive Ethik´– es gilt allein die eigene, zutiefst verinnerlichte, absolutistisch gesetzte Moral.

Diese Dynamik lässt sich Lüders zufolge vor allem bei den Grünen beobachten. „Die Grünen mögen sich als `postmaterialistisch´ verstehen, tatsächlich aber gehören sie zu den Bessergestellten und Privilegierten. Ihren Wohlstand missverstehen sie offenbar als quasi gottgegeben, als Lohn des eigenen, im Grundsatz richtig geführten Lebens, auf den man fast schon einen Rechtsanspruch zu haben glaubt. Doch über Geld zu verfügen, beantwortet nicht die Sinnfrage, die sich dem Einzelnen wie auch jeder Gruppe stellt. (…)

Die Grünen - Von friedensbewegten Idealisten zu Panzer-Fans (Der Spiegel)

Das Bekenntnis zur »Ökologie« reicht dafür nicht aus. Auf gesellschaftlicher Ebene gehen der digitale Wandel, die Globalisierung, die fortschreitende Individualisierung der Arbeitswelt (Homeoffice) einher mit dem Bedeutungs-verlust traditioneller identitätsstiftender Bezugsrahmen, darunter etwa Parteien, Gewerkschaften, Kirchen, Vereine. Begriffe wie `Nation´ oder `Religion´ erzielen in höhergestellten sozialen Milieus kaum noch Bindungswirkung. Auch die klassische Familie aus Vater, Mutter, Kind ist nur noch bedingt Refugium; sie konkurriert mit gender- und queerorientierten Lebensformen.

Gehen aber Gewissheiten verloren, ist das Tattoo am Ende identitätsprägender als jede überlieferte Bindung, offenbart sich darin ebenso ein Höchstmaß an Freiheit wie auch ein Krisensymptom. Eine Gesellschaft ohne kollektives Ich, ohne verlässliche Erzählungen, ohne Mythen, läuft Gefahr sich zu verlieren. Konsumismus und Hedonismus sind lediglich Ersatzhandlungen, Lückenfüller.

Hier nun kommt die Moral ins Spiel, wenn auch keine ethisch fundierte, sondern eine subjektiv begründete. Die berühmte Liedzeile `Erst kommt das Fressen, dann die Moral´ aus Brechts Dreigroschenoper könnte richtiger kaum sein. Das Wissen darum ist lediglich in den Hintergrund gerückt im (noch) reichen Deutschland. Wer im Schatten des Wohlstands lebt, erst recht in ärmeren Teilen der Welt, wird dagegen lauthals mitsingen.

Den Grünen ist das bemerkenswerte Kunststück gelungen, den emotional ansprechenden Begriff `Moral´ politisch umfassend zu besetzen und damit ein Angebot zur Identifikation in einer postmodernen Gesellschaft anzubieten, die sich ihrer selbst längst nicht mehr sicher ist. Praktischerweise gibt es hier kein Copyright – jeder kann unter `Moral´ verstehen, was er mag, wie es gerade gefällt oder nützlich erscheint.

Moral ist massentauglich. Wird sie dann noch in einen größeren Zusammenhang überführt, jenen der `Werte´, wird aus dem von Race & Gender inspirierten Gutmenschen leichtfüßig ein Ideologe, der sich eingebettet weiß in einen größeren, ebenfalls heiligen Gral aus Freiheit und Demokratie. (…)

Wir sind die Guten! Das ist das Angebot der Grünen an die Gesellschaft wie auch an sich selbst, darin überflügeln sie jede Konkurrenz. (…)

Die emotionale Selbstvergewisserung, die mit der Absage an das Böse einhergeht, ist nicht zu unterschätzen. Auch ich bin ein Guter! Mit diesem Kick stelle ich mich nach außen dar, gelingt mir der Brückenschlag zu Gleich-gesinnten, erfahre ich Anerkennung und Wohlwollen. Im Beruf, im Alltag, in den sozialen Medien.

Leider kann das süchtig machen: die Jagd nach solchen Glücksmomenten, nach Bestätigung. Die meisten Moralisten, einmal auf den Geschmack gekommen, suchen unbewusst den fortwährenden Applaus und landen früher oder später in einer narzisstisch umrandeten `Selbstbestätigungsfalle´.” (…)

Leider interessieren sich grüne Moralisten nur wenig für diejenigen, die den Preis für ihre Weltenrettung zu bezahlen haben. Grün zu sein, sich grün zu verorten bedeutet (noch), zu den Privilegierten zu gehören. In dem Maß, wie die gesellschaftlichen Verwerfungen in Deutschland zunehmen, dürften Kulturfragen mehr und mehr zum Gradmesser von `links´ oder `rechts´, von `oben´ oder `unten´ werden – wie in den USA seit langem schon zu beobachten. Plakativ gesagt: Der urbane Mittelstand wird auch weiterhin Lastenfahrrad fahren, sich gesund ernähren und auf seine Work-Life-Balance achten. Und gleichzeitig herabsehen auf die Malocher, die zu viel duschen, mehr Fleisch statt Gemüse essen, zu dick sind, sich zu wenig bewegen, die falschen Autos fahren und einfach nicht verstehen wollen, dass in der Ukraine auch unsere Freiheit verteidigt wird.”

“In letzter Konsequenz läuft das hinaus auf einen Klassenkampf der Besitzenden gegen die Habenichtse, die wirtschaftlich immer größere Mühe haben, sich über Wasser zu halten. Hier das privilegierte, autoritär-ökologisch gestimmte Oben, dort ein (Sub-)Proletariat, dem die `Stoppt das Russenzeugs´-Regierungslinie als Erstes um die Ohren fliegt. Je mehr Menschen arbeitslos werden und sich um ihre Zukunft betrogen sehen, nicht mehr wissen, wie sie über die Runden kommen sollen, umso größer die Wut, umso stärker die Gegenbewegung. Menschen, die ihre Lebensweise brutal abgewertet sehen oder sich zu Recht als Verlierer einer Entwicklung begreifen, auf die sie keinen Einfluss haben, orientieren sich erfahrungsgemäß in Richtung Rechtspopulismus.

In den USA und einer Vielzahl europäischer Länder ist das längst geschehen, treten rechtspopulistische Volksparteien auf den Plan oder sind bereits an der Macht. In Deutschland vor allem wohl deswegen (noch) nicht, weil es diesem Land bislang, alles in allem, gut ergangen ist. Doch diese Zeiten sind vorbei, unwiderruflich wohl.

Nutznießer dieser Entwicklung muss nicht zwangsläufig die AfD sein. Gut vorstellbar, dass neue, ganz andere Bewegungen entstehen, auch ultra-nationalistische oder gewaltbereite im Stil der `Proud Boys´, die bei der Erstürmung des Kapitols in Washington im Januar 2021 eine führende Rolle spielten. Noch fehlt den `Patrioten´ hierzulande eine charismatische Führungspersönlichkeit à la Jörg Haider. Sobald ein solcher Anti-Habeck die Bühne betritt, wird die Zweiteilung der Gesellschaft zügig voranschreiten. Daran zu zweifeln besteht wenig Anlass. Entzünden dürfte sich die Auseinandersetzung auch und vor allem entlang kultureller Symbole, an den `unten´ zutiefst verhassten identitätspolitischen Glaubensgewissheiten, allen voran die Gendersprache.

Die herrschende Moralpolitik ist eine gefährliche Ideologie, weil die “Zweifel weder kennt noch zulässt – stehen die eigenen Gewissheiten doch für `42´, bekanntlich die Antwort auf alle großen Fragen der Menschheit in Douglas Adams’ Kultbuch Per Anhalter durch die Galaxis.

Zitate aus: Michael Lüders: Moral über alles?: Warum sich Werte und nationale Interessen selten vertragen. München 2023

 

Donnerstag, 4. April 2024

Michael Lüders und die Gefahr des betreuten Denkens - Teil 6

Fortsetzung vom 28.03.2024

„Der Moralismus ist das Schwert der Unvernunft, das die Welt in Gut und Böse teilt.“ So lautet eine der zentralen Thesen des langjährigen Nahost-Redakteurs der ZEIT, Michael Lüders, die er in seinem Buch „Moral über alles? Warum sich Werte und nationale Interessen selten vertragen.“ ausführt. 

Die politisierte Moral enthält einen totalitären Bodensatz, der letztlich eine Rück-kehr der Stämme in neuem Gewand bedeutet. Insbesondere in jenem der Identitätspolitik, dem neuen Label und Bannerträger eines missionarisch veranlagten Gutmenschentums.

Damit kein Missverständnis aufkommt. Nach Lüders gibt es Identitätspolitik im linken wie im rechten politischen Lager, unter Trump-Anhängern beispielsweise. “Meist ältere heterosexuelle Männer fordern für sich denselben `Milieuschutz´, dieselben Privilegien, die auch Frauen, Latinos, Schwarze oder Schwule für sich in Anspruch nehmen. Was letztendlich das ursprüngliche Anliegen von Identitätspolitik ad absurdum führt, da diese Bevölkerungsgruppe der »White Old Men« ein Hauptadressat ihrer Kritik war und ist. 

Das Pendant in Deutschland ist die »identitäre Bewegung«, ein Sammelbegriff für mehrere aktionistische, völkisch gesinnte Gruppierungen. Sie sehen in der `Islamisierung´ Europas eine Gefahr für die `Identität´ einer als ethnisch homogen wahrgenommenen `europäischen Kultur´.” Dabei ist “Kultur” niemals homogen, insbesondere wenn sie absurderweise auch noch in engen nationalen bzw. nationalstaatlichen Grenzen definiert wird.

Kulturelle Aneignung! - Verbieten oder "Eigne dir etwas an! Aber mach es gut!"  

Am wirkmächtigsten aber ist Identitätspolitik im (vermeintlich) linken Spektrum. “Ihre Bannerträger finden sich etwa in der Wissenschaft, im Kulturbetrieb, in den Medien, im Verlagswesen. Und natürlich in der Politik, in Deutschland am sichtbarsten bei den Grünen. Die Gruppenbildung erfolgt bevorzugt im theoretisierenden Umfeld von Race, Gender und Sexualität und ist hochgradig moralaffin (…) 

Der als progressiv anzusehende Impuls, bislang Marginalisierten Einfluss und Stimme zu verleihen, ist allerdings auf gutem Weg, sich zu überleben: Rassismus und sexuelle Diskriminierung werden in westlichen Gesellschaften längst sanktioniert. Die Gleichberechtigung von Mann und Frau ist bei weitem nicht vollendet, doch schreitet sie unaufhörlich voran. Um nicht perspektivisch der Bedeutungslosigkeit anheimzufallen, bei der Verteilung von Macht und Ressourcen gar ins Hintertreffen zu geraten, erwuchsen der Identitätspolitik zwei neue, zugkräftige Stränge.

Zum einen die Fokussierung auf Gendersprache als Ausdruck korrekter Gesinnung, verbunden mit der Forderung, sie im öffentlichen Raum umfassend, wenn nicht verpflichtend zu verwenden. Und zum anderen die Geburt immer neuer Theorien, meist Sub- und Subsub-Strömungen der genannten Schwerpunkte Race, Gender und Sexualität (…).

Auch wer sich nie mit Identitätspolitik befasst hat, kennt doch ihre unmittelbaren Auswirkungen. In Gestalt von Gendersternchen, von Cancel Culture (Ausgrenzung missliebiger Personen, Gruppen, Fakten oder Meinungen mit dem Ziel, sie öffentlich mundtot zu machen oder zu tabuisieren) und Wokeness (»Wachheit«: im Ergebnis ein inquisitorisches Vorgehen gegenüber politisch als nicht korrekt empfundenen Haltungen, meist im Kontext von Race, Gender und Sexualität).

Auf dem Index hexenjagender Wachheit steht auch die `kulturelle Aneignung´, ein Sub-Thema von Race. Darf ein*e Weiße*r Rasta-Locken tragen oder zeugt das von falschem Bewusstsein und Neokolonialismus? Dürfen deutsche Museen afrikanische Artefakte ausstellen, gar besitzen oder dürfen das nur afrikanische Museen? Gegenfrage: Dürfen Deutsche Pizza essen? Chinesen Mozart spielen?

Identitätspolitik ist das Schwert der Moral, die Ikone des Moralismus wider die Vernunft. Sie bietet ihren Anhängern Orientierung und Sinn, natürlich auch Jobs, etwa mit Hilfe von Quotenregelungen (…), und vor allem einfache Antworten auf schwierige Fragen.

In Verbindung mit transatlantischer Werteorientierung (Freiheit, Demokratie, Menschenrechte) entsteht hier ein wirkmächtiges gesellschaftliches Amalgam, der Anti-Machiavelli schlechthin. Nicht die Staatsräson zählt, nicht das nationale Interesse, auch keine `diskursive Ethik´– es gilt allein die eigene, zutiefst verinnerlichte, absolutistisch gesetzte Moral.

Fortsetzung folgt 

Zitate aus: Michael Lüders: Moral über alles?: Warum sich Werte und nationale Interessen selten vertragen. München 2023

 

 

 

 

Donnerstag, 28. März 2024

Michael Lüders und die Gefahr des betreuten Denkens - Teil 5

Fortsetzung vom 21.03.2024

„Der Moralismus ist das Schwert der Unvernunft, das die Welt in Gut und Böse teilt.“ So lautet eine der zentralen Thesen des langjährigen Nahost-Redakteurs der ZEIT, Michael Lüders, die er in seinem Buch „Moral über alles? Warum sich Werte und nationale Interessen selten vertragen.“ ausführt. 

Die politisierte Moral enthält einen totalitären Bodensatz, der unsere Kultur eher früher als später vor die Wahl stellen dürfte, falls nicht bereits geschehen: entweder Aufklärung und universalistische Menschenrechte oder aber eine Rück-kehr der Stämme in neuem Gewand.

Insbesondere in jenem der Identitätspolitik, dem neuen Label und Bannerträger eines missionarisch veranlagten Gutmenschentums. Der Begriff `Identitäts-politik´ bezeichnet zunächst ein ideologisiertes Handeln, bei dem die Bedürfnisse einzelner gesellschaftlich benachteiligter Gruppen, in Deutschland vornehmlich von Frauen und sexuellen Minderheiten, in den Vordergrund rücken. Mit der Absicht, ihren jeweiligen Einfluss zu stärken und einen privilegierten Zugang bei der Verteilung von Macht und Ressourcen zu gewährleisten.

 

Die Anfänge der Identitätspolitik reichen zurück in die USA der 1960er und 1970er Jahre und haben ihre Wurzeln in der Bürgerrechtsbewegung. Insbesondere der Aktivismus von Frauen, Schwarzen, Indigenen und Homo-sexuellen wurde zu deren Motor und erzielte große Resonanz in der Öffentlichkeit.

 

In Europa begann der Siegeszug der Identitätspolitik im gesellschaftlichen Kontext der Postmoderne. Zu dieser ideengeschichtlichen Strömung gehören Skepsis gegenüber äußeren Formen von Realität, die Infragestellung von Vernunft, die Wahrnehmung von Sprache als ein Instrument, das Wissen und Herrschaft konstruiere, der Verlust von Weltanschauungen und Gewissheiten, die Suche nach Identität. 

 

Kulturelle Apartheid - "Immer schön auf die anderen zeigen ...!"
 

Die Postmoderne (…) entfaltete sich parallel zum Übergang von einer mehr oder weniger gemeinwohlorientierten Marktwirtschaft in Richtung auf einen weitgehend deregulierten Finanz-Kapitalismus. Die Privatisierung staatlicher Daseinsfürsorge unter US -Präsident Ronald Reagan und der britischen Premierministerin Margaret Thatcher bereitete in den 1980er Jahren wiederum dem globalisierten Neoliberalismus den Weg. So gut wie alles stand in der Folgezeit zum Verkauf, auch das Bildungssystem oder das Gesundheitswesen. Die Folge waren und sind prekäre Arbeits- und Lebensverhältnisse für viele. Gewerkschaften gerieten zunehmend in die Defensive, die letzten Reste einer klassenbewussten Arbeiterschaft haben sich in Luft aufgelöst.”

 

Die Folge war ein gestig-spirituelles Vakuum bei vielen Menschen, begleitet von der wachsenden Angst vor dem eigenen sozialen Abstieg. Postmoderne und Identitätspolitik füllten dieses Vakuum und wurden im europäischen Kontext eins – auf Kosten der Postmoderne, von der heute kaum noch jemand spricht. Seit den 1990er Jahren entstand unter dem gemeinsamen Dach gruppen-bezogener Identitäten eine breite Palette hochgradig ideologisierter neuer Theorien. Darunter etwa die postkoloniale Theorie, die Queer-Theorie, die Critical-Race-Theorie.

 

Sie alle versuchen, Geschichte, Identität oder gesellschaftliche Wirklichkeit aus der Perspektive der jeweiligen Gruppe zu `dekonstruieren´. Auf der der Grundlage subjektiver Befindlichkeiten und Moralismen. Mit dem Ziel, die jeweils eigene, hochgradig fokussierte Wahrnehmung von Realität für allgemeingültig zu erklären. Sie allein sei die Wahrheit. Gesichertes Wissen dagegen gilt als verdächtig, steht im Ruf elitärer Aneignung.

 

Die Aussage »die Erde ist eine Kugel« ist demzufolge erst einmal dahingehend zu überprüfen, ob der alte weiße Mann, der diese Behauptung erstmals aufgestellt hat, nicht möglicherweise queer- oder frauenfeindlich eingestellt war. Sollte dem `gefühlt´ so sein, wäre der Wahrheitsgehalt seiner Aussage insgesamt infrage zu stellen, wenn nicht hinfällig. Käme hingegen der Angehörige einer bislang benachteiligten oder diskriminierten Gruppe zu dem Ergebnis, die Erde sei eine Scheibe, wäre dessen Aussage mindestens so valide wie die des alten weißen Mannes. Denn nicht die Faktenlage ist im Zweifel entscheidend, sondern die Authentizität der eigenen Empfindung, der moralisierende Impuls. Warum finden Fake News eine so große Resonanz? Hier liegt eine der Antworten.”

 

Damit kein Missverständnis aufkommt. Nach Lüders gibt es Identitätspolitik im linken wie im rechten politischen Lager, unter Trump-Anhängern beispielsweise. “Meist ältere heterosexuelle Männer fordern für sich denselben `Milieuschutz´, dieselben Privilegien, die auch Frauen, Latinos, Schwarze oder Schwule für sich in Anspruch nehmen. 

 

Was letztendlich das ursprüngliche Anliegen von Identitätspolitik ad absurdum führt, da diese Bevölkerungsgruppe der »White Old Men« ein Hauptadressat ihrer Kritik war und ist. Das Pendant in Deutschland ist die »identitäre Bewegung«, ein Sammelbegriff für mehrere aktionistische, völkisch gesinnte Gruppierungen. Sie sehen in der `Islamisierung´ Europas eine Gefahr für die `Identität´ einer als ethnisch homogen wahrgenommenen europäischen Kultur.” Dabei ist “Kultur” niemals homogen, insbesondere wenn sie absurderweise auch noch in engen nationalen bzw. nationalstaatlichen Grenzen definiert wird.

Fortsetzung folgt

Zitate aus: Michael Lüders: Moral über alles?: Warum sich Werte und nationale Interessen selten vertragen. München 2023

Donnerstag, 21. März 2024

Michael Lüders und die Gefahr des betreuten Denkens - Teil 4

Fortsetzung vom 14.03.2024

„Der Moralismus ist das Schwert der Unvernunft, das die Welt in Gut und Böse teilt.“ So lautet eine der zentralen Thesen des langjährigen Nahost-Redakteurs der ZEIT, Michael Lüders, die er in seinem Buch „Moral über alles? Warum sich Werte und nationale Interessen selten vertragen.“ ausführt. 

Die Differenz zwischen Politik und Moral kollabiert im politischen Moralismus von heute. Das ist der Grund für den Niedergang der Debattenkultur und die Ohnmacht der Argumente. Einer politisierten Moral entspricht eine totalitäre Politik.

 

Das Problem ist allenthalben zu beobachten: “Wo Gefühle die Debatte bestimmen, nicht Argumente, kommt es unvermeidlich zur Verteufelung Andersdenkender, sind Verständigung, Kompromiss oder gegenseitiger Respekt kaum möglich. Wer moralisch Position bezieht, wähnt sich im Besitz einer höheren, wenn nicht unumstößlichen Wahrheit und kann schwerlich nachgeben, allein schon aus Gründen der Selbstachtung. Es geht dabei weniger um die Sache selbst, als vielmehr um die Zugehörigkeit zu einer identitätsstiftenden Gruppe, um die Eigenwahrnehmung der jeweiligen `Konsensgemeinschaft´. Wer ihr nicht angehört, riskiert Ablehnung und Ausgrenzung. Nicht selten gefolgt vom Shitstorm und dem sozialen Boykott, neudeutsch `Othering´. Anders gesagt: vorwärts zurück in eine modern verstandene Clan- und Stammeskultur.”

 

Für Lüders ist die Moralisierung in Staat und Gesellschaft ist “gleichbedeutend mit betreutem Denken. Das Ergebnis ist Anpassung, ein nivellierender Mainstream, der Gesinnung über Sachkenntnis oder Inhalte stellt und Abweichung ahndet. Bevorzugt mit Status- und Karriereverlust. Im Vordergrund steht der emotionale Reflex, das verinnerlichte Wissen um Gut und Böse. Nicht Fakten oder Analyse sind gefragt, sondern Gefühlskino. Entsprechend gerinnt Meinungsfreiheit zur Bejahung des Status quo, wird die Moral zur Keule. 

 

"Die Ideale von Differenz und Vielfalt ersetzten das der menschlichen Solidarität.“
 

Verstärkt durch das Internet, insbesondere die `sozial´ geheißenen Medien. Sie begünstigen die `Instagramisierung´ der öffentlichen Meinung und verlangen nach einer Urteilsfindung nötigenfalls im Minutentakt. Auf der Strecke bleiben das sachlich fundierte Abwägen, der Austausch im Gespräch, die Kraft der Argumente. Die wohlorchestrierte Empörung, das Vordergründige und Laute, das Halbwissen haben die letzten Reste `diskursiver Ethik´ im öffentlichen Raum weitgehend geschreddert.

 

Wir erinnern uns: Die von den Philosophen Karl-Otto Apel und Jürgen Habermas in den 1970er Jahren entwickelte Diskursethik, suchte die Richtigkeit ethischer Aussagen mit Hilfe eines auf Vernunft gründenden gemeinschaftlichen Diskurses zu entwickeln. “Dieser intersubjektive Ansatz, ausgehend von einem sachorientierten Austausch auf Augenhöhe, galt auch unter Entscheidern in Politik und Wirtschaft als zielführend. 

 

Heute dagegen sind die Leitplanken der öffentlichen Meinungsfindung eng gesetzt: Politik und Medien sorgen für einen gleichförmigen Erregungspegel im Rahmen sogenannter `Debatten´. Bist du für Waffenlieferungen an die Ukraine – oder etwa nicht? (…) Wie viele Panzer / Kampfjets / U-Boote sollten wir liefern? Übermorgen erst oder besser morgen schon? Im Alleingang oder gemeinsam mit unseren Wertepartnern?” Solche Scheinkontroversen, die so gut wie nie das große Ganze beleuchten verlieren  sich schnell in einem gesinnungsethischen Klein-Klein.

 

Längst hat sich die »Staatsräson« im Wohlfahrtsstaat verpuppt, der gesellschaftliche Härten zwar abfedert – wenn auch immer weniger nachhaltig erfolgreich, im Gegenzug aber die Loyalität seiner Bürger einfordert. Wer dieses Narrativ nicht annehmen will, stellt sich selbst ins Abseits. “Die politisierte Moral enthält einen totalitären Bodensatz, der unsere Kultur eher früher als später vor die Wahl stellen dürfte, falls nicht bereits geschehen: entweder Aufklärung und universalistische Menschenrechte oder aber eine Rückkehr der Stämme in neuem Gewand.

 

Insbesondere in jenem der Identitätspolitik, dem neuen Label und Bannerträger eines missionarisch veranlagten Gutmenschentums. Der Begriff `Identitäts-politik´ bezeichnet zunächst ein ideologisiertes Handeln, bei dem die Bedürf-nisse einzelner gesellschaftlich benachteiligter Gruppen, in Deutschland vornehmlich von Frauen und sexuellen Minderheiten, in den Vordergrund rücken. Mit der Absicht, ihren jeweiligen Einfluss zu stärken und einen privilegierten Zugang bei der Verteilung von Macht und Ressourcen zu gewährleisten.

 

Fortsetzung folgt

 

Zitate aus: Michael Lüders: Moral über alles?: Warum sich Werte und nationale Interessen selten vertragen. München 2023 

Donnerstag, 14. März 2024

Michael Lüders und die Gefahr des betreuten Denkens - Teil 3

Fortsetzung vom 07.03.2024

„Der Moralismus ist das Schwert der Unvernunft, das die Welt in Gut und Böse teilt.“ So lautet eine der zentralen Thesen des langjährigen Nahost-Redakteurs der ZEIT, Michael Lüders, die er in seinem Buch „Moral über alles? Warum sich Werte und nationale Interessen selten vertragen.“ ausführt.

Der entscheidende Impulsgeber für den Bruch des Politischen mit der Moral war der Florentiner Philosoph und Politiker Niccolò Machiavelli (1469–1527). 

Nun hat sich der „Fürstenstaat“ vor allem seit dem Ende des 2. Weltkrieges zunehmend in einen Fürsorgestaat verwandelt, „der den Menschen vor sich selbst und den Unwägbarkeiten des Lebens zu schützen sucht. Aus dem Krieger im Dienst der Staatsräson wurde ein Homunculus, ein Staatsdiener im Räderwerk des Absurden, der Bürokratie wie von Franz Kafka beschrieben. (…) Der technisch-rationale Staat erschafft eine verwaltete Welt ohne Jenseitsbezug, vermag jedoch die Sinnfrage nicht zu beantworten – jenseits eines bloßen Verfassungspatriotismus. Der Nationalismus füllt teilweise diese Lücke, ist aber ein schwer zu bändigendes Tier.“

 

In diesem Kontext sieht Lüders nun die Rückkehr der Moral in die Politik. „Sie bietet Halt in unsicheren Zeiten. Der Philosoph und Medienwissenschaftler Norbert Bolz datiert diese Rückkehr auf den Ersten Weltkrieg: Mit dessen Ende `setzt ein politischer Moralismus ein, der … radikal mit dem neuzeitlichen Begriff des Politischen bricht. Nun gibt es wieder gerechte Kriege und ungerechte Feinde, die eigentlich schon als Verbrecher behandelt werden. Mit anderen Worten: Wenn man den Krieg aufgrund seines unvergleichlichen Ausmaßes nicht mehr als politische Möglichkeit akzeptieren kann, setzt die Moralisierung durch einen diskriminierenden Kriegsbegriff ein. Das impliziert auch, dass Staatsräson und Realpolitik ein negatives Vorzeichen bekommen. Das gilt bis zur Gegenwart.´

 

Norbert Bolz (* 1953)

Unter der Maßgabe von Vernunft gebietet die `Staatsräson´, keine entfesselten (Welt-)Kriege zu führen. Sieht sich eine imperiale Macht veranlasst, es dennoch zu tun, geht es nicht länger, wie in früheren Zeiten, um Beutezüge oder regional begrenze Scharmützel, auch nicht um die Geburt einer Nation. Sondern um Vorherrschaft oder wenigstens doch einen bevorzugten Platz im globalen Machtgefüge. Die Notwendigkeit, die eigene Bevölkerung hinter einem Banner zu versammeln und zu einen, verlangt nach einer klaren Unterteilung der Welt in Gut und Böse.“

 

Dies wiederum ebnet der Moral den Weg in die Politik: “Sie dient der Legitimation staatlichen Handelns. Auf Kosten von Realpolitik und Pragmatismus, zu Lasten nationaler Interessen. Die (vermeintliche) Moral gebietet den Cut mit Russland. Der allerdings führt in eine politische Sackgasse.” Die Staatsräson dagegen schreie förmlich nach Diplomatie. “Die aber gilt geradezu als anrüchig, unter Berufung auf `Werte´: Denn mit den Bösen reden die Guten nicht. Diese, der eigenen Seligsprechung dienenden Werte allerdings sind wenig mehr als Camouflage. Vor allem geht es um Macht und Einfluss in der Weltpolitik.” Nach außen aber gehe es um eine Wehrhaftigkeit von Demokraten im Kampf gegen den Totalitarismus!

 

“Was aber die Politik als Tatsache oder moralisches Gebot behandelt, sind immer Konstruktionen von interessierter Seite. Deswegen hat Max Weber Augenmaß und Verantwortung gefordert. Fehlen sie auf Führungsebene, ist es um deren Urteilskraft schlecht bestellt. Ein guter Politiker handelt demzufolge sachorientiert und problemlösend, nicht moralisch. In Deutschland ist das mittlerweile die Ausnahme: `Die Geschichte der Bundesrepublik war bis zur Jahrtausendwende von einem verantwortungsbewussten Reformismus geprägt. Davon kann heute nicht mehr die Rede sein. Nicht nur die Protestbewegungen, sondern auch öffentlich-rechtliche Medien und Gesinnungspolitiker wollen den gordischen Knoten gesellschaftlicher Komplexität mit Moral durchhauen. So kollabiert die Differenz zwischen Politik und Moral im politischen Moralismus von heute. Das ist der Grund für den Niedergang der Debattenkultur und die Ohnmacht der Argumente. Denn das Moralisieren macht jede Verständigung unmöglich´, so Norbert Bolz. Mehr noch: `Der politisierten Moral entspricht eine totalitäre Politik.´”

Fortsetzung folgt

Zitate aus: Michael Lüders: Moral über alles?: Warum sich Werte und nationale Interessen selten vertragen. München 2023 

Donnerstag, 7. März 2024

Michael Lüders und die Gefahr des betreuten Denkens - Teil 2

Fortsetzung vom 29.02.2024

„Der Moralismus ist das Schwert der Unvernunft, das die Welt in Gut und Böse teilt.“ So lautet eine der zentralen Thesen des langjährigen Nahost-Redakteurs der ZEIT, Michael Lüders.

“Im Grunde handelt es sich bei der Fama `werteorientierte Politik´ um ein modernes Märchen, das Menschen und Völkern auf der Suche nach Orientierung und Sinn eine Art Gebrauchsanweisung an die Hand zu geben sucht. Denn den Geschichtenerzählern an den Schaltstellen der Macht fehlt es nicht an propagandistischen Möglichkeiten, um ganze Staaten in den Ruin zu treiben, Kriege zu führen oder den Frieden zu verlieren, auch den sozialen, innerhalb ihrer eigenen Gesellschaften. Sie müssen dennoch darauf achten, die Unterstützung der Bevölkerung nicht zu verlieren, Unruhen oder gar Aufstände zu vermeiden. Nicht die Suche nach Ausgleich oder Gerechtigkeit treibt indessen die obersten Entscheider um. Wichtiger sind Machterhalt und Elitenkonsens. Für `Werte´ einzutreten ist ein rhetorisches Placebo, dem schwer zu widersprechen ist, das emotionale Zustimmung verheißt und hilfreich vermeidet, das zu benennen, worum es eigentlich geht.”

In einem ethischen Kontext bezeichnen Werte oder Wertvorstellungen moralische Qualitäten, sittliche Ideale, die dem eigenen Handeln idealerweise zugrunde liegen und Ausdruck von Charaktereigenschaften sind. “Ein glaubhaft werteorientiertes Handeln ist nicht allein verhaftet im Hier und Jetzt, sondern strebt nach Transzendenz und stellt das Gemeinwohl über die Interessen Einzelner. Obwohl Werte und Wertvorstellungen seit Jahrzehnten, wenn nicht Jahrhunderten rhetorisch und propagandistisch missbraucht werden, sind sie doch ein hohes Gut und keineswegs geringzuschätzen. Im Gegenteil: Wer die Frage nach Moral und Ethik stellt, fragt gleichzeitig nach dem richtigen Leben.”

Damit eng verbunden ist – vor allem seit Platon – die Frage nach gerechter Herrschaft. “Wie kann das Gute, ursprünglich das Göttliche, Eingang finden in politisches Handeln, in die Regierungsführung? Hier die richtigen Antworten zu finden, waren ganze Generationen von Staatsphilosophen, Kirchenvertretern und Denkern bemüht, seit der griechischen Antike, seit Sokrates.”

 

Im Mittelalter waren Politik, Religion und Moral miteinander verschmolzen. Mit Beginn der Neuzeit, im Zuge der Renaissance vollzog sich in Europa sukzessive die Trennung der Politik von der Moral, die die Voraussetzung war für die Konstruktion des modernen, von der Religion sich emanzipierenden Staates, der schließlich die Staatsräson über die Tugend und die Moral stellte.

 

“Der entscheidende Impulsgeber für diesen Bruch des Politischen mit der Moral war der Florentiner Philosoph und Politiker Niccolò Machiavelli (1469–1527). Nachgerade traumatisiert von der Zersplitterung Italiens in zahlreiche Kleinststaaten, beschwor er ein vereintes Land unter Führung des von ihm idealtypisch beschriebenen `Fürsten´, italienisch `il Principe´. Das gleichnamige Buch, 1513 verfasst, gilt als das erste Werk politischer Philosophie. Machiavelli beschreibt darin die Grundsätze der Staatsräson, frei von moralischen und religiösen Vorstellungen. 

 

Machiavelli (1469 - 1527)

Anders als im christlichen Denken des Mittelalters, das von einem göttlichen Heilsplan ausging, erwuchsen in der Renaissance die geistigen Grundlagen für Weltanschauungen diesseits von Gott, hielt das Säkulare Einzug in Staat und Gesellschaft. Für Machiavelli, obgleich er durchaus den Nutzen der Religion für den Herrscher erkannte, folgt die Politik ihren eigenen Regeln und Gesetzen. Das Primat des `Fürsten´ seien der Machtgewinn und der Machterhalt.

 

Eine moralische Haltung vermöge in einem Umfeld aus Habgier, Hinterlist und Heuchelei nur von Nachteil zu sein. Der Fürst, ein autokratischer Herrscher, wisse sich dabei nur einem Ziel verpflichtet: der Sicherung und dem Erhalt des Staates.”

 

Die Trennung der Politik von der Moral sei Machiavelli zufolge jedoch kein Plädoyer für Sittenverfall. Politisches Handeln ist gleichwohl nur dann sinnvoll, wenn die eingesetzten Mittel dem Staat oder den Staaten zum Vorteil gereichen. „Machiavellismus ist heute ein negativ besetzter Begriff, der für eine skrupellose Machtpolitik steht (und im Bereich der Psychologie für psychopathische Charakterzüge narzisstisch veranlagter Menschen). Diese Wahrnehmung hat sich jedoch erst lange nach Machiavellis Tod durchgesetzt und wird ihm nur teilweise gerecht.“

(Fortsetzung folgt)

 

Zitate aus: Michael Lüders: Moral über alles?: Warum sich Werte und nationale Interessen selten vertragen. München 2023

 

 

 

Donnerstag, 29. Februar 2024

Michael Lüders und die Gefahr des betreuten Denkens - Teil 1

„Der Moralismus ist das Schwert der Unvernunft, das die Welt in Gut und Böse teilt.“ So lautet eine der zentralen Thesen des langjährigen Nahost-Redakteurs der ZEIT, Michael Lüders, die er in seinem Buch „Moral über alles? Warum sich Werte und nationale Interessen selten vertragen.“ ausführt. Insbesondere der Krieg gegen die Ukraine ist geeignet, das Feld von Moral und Politik in all seiner Komplexität darzustellen.

 

Um eines von Anfang an klarzustellen: Der russische Angriff auf die Ukraine ist völkerrechtswidrig, falsch, zerstörerisch und menschenverachtend! Die Antwort “des Westens” aber ist einzig und allein ein vollständiger Bruch mit Russland “auf allen Ebenen, politisch, wirtschaftlich und letztendlich auch kulturell.” Nur: Nach über zwei Jahren Krieg haben die westliche Politik der militärischen Unterstützung der Ukraine und die Sanktionen gegen Russland weltweit zu schwerwiegenden Folgen geführt, ohne jedoch den Krieg zu beenden. 



Aber es geht, Lüders zufolge, nicht nur darum, ob der vollständige Bruch mit Russland unrealistisch und politisch fragwürdig ist, sondern auch darum, dass er mit Symbolik überladen ist: “Das absolute Gute, verkörpert vom Westen, sucht sich vom absolut Bösen zu befreien. Moralische Selbsterhöhung geht leider in den meisten Fällen einher mit Realitätsverleugnung und Heuchelei.” 

 

Denn auch das Beispiel des Überfalls auf die Ukraine macht deutlich, dass “die Tugendhaften nicht etwa Bannerträger einer universellen humanistischen Gesinnung wären. Vielmehr verkörpern sie ein überaus selektives Gerechtigkeitsempfinden. Genau deswegen ist die Politisierung von Moral und die Moralisierung von Politik auch so fragwürdig. In beiden Fällen handelt es sich um eine moderne, säkulare Form des Sakralen, in der nicht Papst und Antichrist miteinander ringen, wohl aber Freiheit und Totalitarismus.”

 

So fragt Lüders – und legt damit den Finger in die Wunde selbstgerechter Moralität -, warum diejenigen, die vehement Sanktionen gegen Russland einfordern, niemals auch vergleichbare Boykottmaßnahmen gegenüber den USA erhoben haben. “Das hätte sich doch angeboten, im Vietnam- oder im Irak-Krieg beispielsweise. Beide waren nicht weniger völkerrechtswidrig und skrupellos wie der jetzige in der Ukraine. Natürlich gibt es viele gute Gründe, den russischen Präsidenten anzuprangern. Warum aber greifen bei ihm offenbar andere Maßstäbe als bei westlichen Akteuren? Wieso suchen westliche Entscheider Wladimir Putin vor einem internationalen Strafgerichtshof anzuklagen, nicht aber George W. Bush oder Tony Blair, die beiden Drahtzieher des auf Lügen und Manipulationen fußenden Irak-Krieges?” Starke Thesen!

 

Das Problem ist jedoch, dass das moralische Empfinden sehr schnell dort endet, wo es eigenen Interessen weniger dienlich ist. Dagegen fordert Lüders, „ganzheitlich zu denken, auch andere Perspektiven einzunehmen oder gar Fakten in Erinnerung zu rufen“. Das sei kein Manko, sondern „die Voraussetzung, um globale Probleme pragmatisch lösen und vom Ende her denken zu können, anstatt sie zu ideologisieren und damit zu verschärfen. Es ist nicht zuletzt eine propagandistische Leistung (…) Die eigene, die westliche Politik gilt dementsprechend als gut und werteorientiert, nichtwestliche als böse und demokratiefeindlich.

 

“Kurzum: Die Welt läuft rund, solange `wir´ sie dominieren. Die Amerikaner nennen das, wie erwähnt, eine `regelbasierte Ordnung´ und meinen damit die Fortschreibung ihrer Vorherrschaft. (…) In der hiesigen Politik und den Medien ist stets die Rede vom `russisch geführten Angriffskrieg in der Ukraine´. Das ist sachlich nicht falsch und dennoch propagandistisch unterlegt. Oder hat man je vom US -geführten Angriffskrieg im Irak gehört? Dem NATO-geführten Angriffskrieg in Serbien (1999), in Afghanistan (2001–2021)?” Ist der eigentliche Skandal vielleicht, dass Russland nun auch versucht, seine imperialen Ansprüche mit militärischen Mitteln zu erzwingen – und “damit ebenjenes `Geschäftsmodell´” kopiert, “auf das der Westen ein Monopol zu haben glaubt. Namentlich die USA”?

 

“Warum gilt, vor diesem Hintergrund, der zweifelsohne verbrecherische Überfall Russlands auf die Ukraine als unvergleichlich verabscheuungswürdig, mit allen sich daraus ergebenden Konsequenzen, während sich der amerikanische Imperialismus bisweilen höchster Wertschätzung erfreut?”, fragt Lüders. Dabei dient die Gegenüberstellung amerikanischer und russischer Politik keinesfals der “Exkulpierung Putins und keineswegs der Relativierung jenes Leids, das heute die Ukrainer erfahren wie gestern die Iraker.” Man könne aber das eigentlich Selbstverständliche nicht deutlich und oft genug hervorheben: Politik und Moral sind zweierlei. Wer also das eigene politische Handeln unter Verweis auf höhere Werte zu legitimieren sucht, ist in der Regel kein Humanist, sondern lediglich ein Gesinnungsethiker. Der Moral sagt und die Durchsetzung eigener hegemonialer Interessen meint.”

 

“Im Grunde handelt es sich bei der Fama `werteorientierte Politik´ um ein modernes Märchen, das Menschen und Völkern auf der Suche nach Orientierung und Sinn eine Art Gebrauchsanweisung an die Hand zu geben sucht. Denn den Geschichtenerzählern an den Schaltstellen der Macht fehlt es nicht an propagandistischen Möglichkeiten, um ganze Staaten in den Ruin zu treiben, Kriege zu führen oder den Frieden zu verlieren, auch den sozialen, innerhalb ihrer eigenen Gesellschaften. Sie müssen dennoch darauf achten, die Unterstützung der Bevölkerung nicht zu verlieren, Unruhen oder gar Aufstände zu vermeiden. Nicht die Suche nach Ausgleich oder Gerechtigkeit treibt indessen die obersten Entscheider um. Wichtiger sind Machterhalt und Elitenkonsens. Für `Werte´ einzutreten ist ein rhetorisches Placebo, dem schwer zu widersprechen ist, das emotionale Zustimmung verheißt und hilfreich vermeidet, das zu benennen, worum es eigentlich geht.”


(Fortsetzung folgt)



Zitate aus: Michael Lüders: Moral über alles?: Warum sich Werte und nationale Interessen selten vertragen. München 2023