Donnerstag, 20. August 2015

Thomas Schölderle und die Utopie


„Die Geschichte der Utopie ist eine Geschichte der Defizite und Missstände ihrer Herkunftsgesellschaften.“ Mit diesem Satz leitet Thomas Schölderle seine „Geschichte der Utopien“ ein. Sein Anliegen ist, die  wichtigsten, innovativsten und originellsten Entwürfe zu porträtieren und die gesamte Denktradition der Utopien einer Systematisierung und Abgrenzung zu unterziehen.

Aufschlussreich ist bereits der Blick auf den etymologischen Ursprung des Begriffs. Mit seiner Erzählung von der entlegenen Insel „Utopia“ (1516) erschuf der englische Lordkanzler Thomas Morus nicht nur ein neues Wort, sondern bereicherte auch zahllose Sprachen dieser Welt um die Vokabel. Morus’ Wortschöpfung ist geformt aus zwei griechischen Vokabeln: „ou“ heißt „nicht“, „tópos“ ist der „Ort“. Utopia bedeutet also wörtlich so viel wie Nichtort, Nirgendland oder Nirgendwo.

Aber im unmittelbaren Entstehungskontext der Utopia tritt noch eine weitere Anspielung zutage: „Der Humanist Budaeus nutzt in einem Begleitbrief zur Utopia das Wort „Udepotia“ (griech. „oudepote“ = „niemals“) und verweist damit auf die Bedeutung von „Niemalsland“ – eine Assoziation, die bemerkenswerterweise mit einer späteren und äußerst einschneidenden Veränderung innerhalb der Utopiegeschichte korrespondiert, denn gegen Ende des 18. Jahrhunderts ersetzt Louis-Sébastien Mercier mit seiner Schrift „Das Jahr 2440“ erstmals die Dimension des Raumes durch die Dimension der Zeit. Fortan wird die utopische Fiktion aus Sicht des Verfassers fast ausnahmslos in die Zukunft projiziert.“

Thomas Morus
(
1478 - 1535)
Seit dem 19. Jahrhundert wandert „Utopia“ dann langsam in die Alltagssprache ein. Allerdings ist Adjektiv „utopisch“ seither meist negativ besetzt. „Ein Plan, der utopisch ist, lässt sich nicht realisieren; eine utopische Erwartung wird sich niemals erfüllen. Das Adjektiv meint also so viel wie „unrealistisch“, „träumerisch“ oder „übersteigert“ und bezeichnet insofern ein Denken oder Handeln, das zwangsläufig scheitern muss, weil ein realitätsblinder Urheber die Voraussetzungen für eine Verwirklichung verkennt.“

Darüber hinaus deutet die Verwendung des Terminus an, dass Utopien in unzulässiger Weise wegführen vom Möglichen und Nötigen. Diesem abwertend gemeinten Sinn zufolge besitzt der Begriff zumindest tendenziell die Bedeutung von „Hirngespinst“, „Luftschloss“ oder „Wolkenkuckucksheim“.

Mit dem negativen Sinn im Alltagsverständnis korrespondiert seine Verwendung auf dem Feld politisch-ideologischer Auseinandersetzungen. „Das Wort wurde und wird häufig als politischer Kampfbegriff genutzt, um gegnerische Positionen als illusionär und wirklichkeitsfremd zu titulieren.“ So machten sich vorwiegend die Frühsozialisten gegenseitig die Utopie zum Vorwurf, die Marxisten wiederum klebten den Frühsozialisten abschätzig das Etikett „utopisch“ an die Brust und werteten deren Entwürfe als unwissenschaftliche „Phantasterei“. Die Konservativen schließlich attackierten den gefährlichen „Utopismus“ der Marxisten. „Die Utopie wurde zum Kampfterminus in der Arena politischer Auseinandersetzungen und bis heute dient die Vokabel nicht selten der Warnung vor irrealen Zielvorstellungen und Theorien.“

"Utopia" - Thomas Morus
(Titel der Ausgabe von 1516)
Betrachtet man nun die klassischen, vor allem frühneuzeitlichen Utopien, so ist auffallend, dass sie zunächst fast allesamt ein fiktives Gemeinwesen beschreiben, das auf eine Insel projiziert ist: „Abgesondert von der Außenwelt, haben die utopischen Gesellschaften nur wenig Kontakt zu anderen Völkern. Nach innen dominiert häufig eine geschlossene Gesellschafts- oder Staatsordnung, während nach außen die Schutz- und Abwehrbereitschaft vor weniger harmonischen Gesellschaften im Vordergrund steht.“

Ein weiteres Merkmal der Utopien, ist die Tatsache, dass beschriebenen Gesellschaften auch so gut wie keinen sozialen Wandel kennen. Sie sind statisch, ruhig und konfliktfrei – manchmal wird man den Eindruck nicht los, dass es sich um eine Friedhofsruhe handelt. Weil keine Kräfte und Einflüsse von außen wirken, fehlt auch jede gesellschaftliche Dynamik.

Damit ist man Thomas Schölderle zufolge aber sogleich bei der Frage nach ihrem Geltungsanspruch angelangt. Für ihn sind Utopien sind in ihrer klassischen Ausprägung fast allesamt rationale Gedankenexperimente, die in erster Linie der zeitgenössischen Gesellschaft den Spiegel vorhalten:

„Die Funktion des Textes liegt in einem Anstoß zur Reflektion über die Grundlagen der zeitgeschichtlichen Wirklichkeit. Mit dieser Funktion deckt sich über die längste Zeit der Utopiegeschichte auch die Intention der Utopisten. Sie beabsichtigen in  den wenigsten Fällen einen Modellentwurf zur maßstabsgetreuen Totalrevision der Gesellschaft. Der unmittelbare Verwirklichungswille bleibt die seltene Ausnahme.“ Vielmehr gehe es den Utopien darum, den Leser in eine alternative Welt mitzunehmen und diesen mit geschärftem Blick in die Realität zurückkehren zu lassen.

Für Schölderle sind Utopien vorwiegend rationale Fiktionen menschlicher Gemeinwesen, die in kritischer Absicht den herrschenden Missständen gegenüber gestellt sind. Es sind „stets rational mögliche Alternativen des menschlichen Zusammenlebens und tragen einen prinzipiell politischen Charakter.“

Magische Wünsche dagegen, Märchen, Traumassoziationen, Robinsonaden oder Schlaraffenland-Erzählungen – „all diesen Fiktionen fehlt entweder das Merkmal der Sozialkritik oder es mangelt ihnen an der innerweltlichen Möglichkeit des Anders-Sein-Könnens.“

So formuliert auch Morus´ Utopie Schölderle zufolge kein politisches Aktionsprogramm. „Vielmehr ist sie als geistiger Entwurf konzipiert, der sich ganz bewusst auf die Beförderung des politischen Diskurses beschränkt.“

Utopie = Rationale Fiktionen?

Abschließend beschreibt Schölderle, ausgehend von Morus Utopia vier Kriterien des Utopiebegriffes: Form, Inhalt, Intention und Funktion:

„1. Formal betrachtet ist die Utopia konzipiert als eine kontrafaktische Fiktion, als universelle Beschreibung eines imaginären Gemeinwesens, das in eine literarisch-narrative Rahmenhandlung gekleidet ist. Sie verknüpft dabei zahlreiche literarische Formtypen und Stilelemente wie die politische Reformschrift mit der Reiseerzählung, den philosophischen Traktat mit der Satire, die Ironie mit der Dialogstruktur.

2. Auf inhaltlicher Ebene lassen sich dem Entwurf als zentrale Strukturprinzipien entnehmen: Isolation, Statik, soziale Harmonie und Gemeineigentum, Kollektivismus, Rationalität und Nützlichkeitsdenken. Die Elemente repräsentieren freilich nicht den Forderungskatalog des Autors, sondern verdichten sich lediglich zum materialen Bild seiner Utopie. Gleichwohl können diese Merkmale als eine Art Abfrageraster bei der Analyse späterer Utopieentwürfe dienen.

3. Morus’ Intention verbindet schließlich Sozialkritik mit dem Anliegen, einen Anstoß zur Diskussion über die Grundlagen des staatlichen Gemeinwesens zu leisten und qualifiziert sich damit zugleich als normatives Politikanliegen.

4. Methodisch umgesetzt ist dieses Vorhaben auf dem Wege eines gedankenexperimentellen Erkundens der Vernunft. Daraus resultiert funktional betrachtet eine prinzipielle Relativierung des Bestehenden, weil die existente Wirklichkeit zu einer möglichen unter vielen herabgestuft wird.

Dennoch sollte man – bei aller wohlwollenden Deutung utopischer Entwürfe – nicht die konkreten Wirkungen der utopischen Werke in den Händen selbsternenannter Propheten vergessen. Neben der klassischen Version der Utopie, die ein eher heiter bis ernst gemeintes Gedankenexperiment war, ohne den Versuch, konkrete Handlungsanleitungen zu liefern, gibt es auch den utopischen Enwurf, der selbstverständlich als politisches Programm verstanden werden will, und von dem der Autor der Utopie in - mehr oder weniger - naher Zukunft eine radikale Umsetzung fordert bzw. auch erwartet. 

Die Frage nach Verwirklichung der Utopie rückt sicherlich schon mit Platon in den Blick, in jedem Fall aber beginnt sie mit "The Law of Freedom" des Engländers Gerrard Winstanley (*1609), bei dem eine praktische Realisierungsintention seiner Utopie erstmals deutlich sichtbar wird. Sein Entwurf enthält bereits ansatzweise eine Transformationsstrategie, also einen möglichen Weg der Realisierung seines utopischen Modells – ein Element, das im Grunde erst für das utopische Denken im 19. Jahrhundert charakteristisch wird - mit allen unheilvollen Folgen für die Menschheit.

Karl Raimund Popper
(1902 - 1994)
Nicht erst seit Karl Raimund Poppers utopiekritischen Werken wissen wir, dass Utopien als geistige Vorwegnahme späterer totalitärer Herrschaftsformen hinhalten mussten. Auch wenn man den Autoren der Utopien eine solche Intention nicht unbedingt nachsagen kann, so muss doch ebenso festgehalten werden, dass in allen konkret-historischen Realisierungsversuchen der totalitäre Gehalt der Utopie sehr schnell sichtbar wurde.

So bleibt abschließend das Urteil Poppers als Mahnung stehen, der zufolge mit der Utopie auch die Vernunft über Bord geworfen und durch eine verzweifelte Hoffnung auf politische Wunder ersetzt werde. „Diese irrationale Einstellung, die sich an Träumen von einer schönen Welt berauscht, nenne ich Romantizismus. Dieser mag einen himmlischen Staat in der Vergangenheit oder in der Zukunft suchen, aber er wendet sich immer an unsere Gefühle, niemals an unsere Vernunft. Sogar mit der besten Absicht, den Himmel auf der Erde einzurichten, vermag er diese Welt nur in eine Hölle zu verwandeln – eine jener Höllen, die Menschen für ihre Mitmenschen bereiten.“


Zitate aus: Thomas Schölderle: Geschichte der Utopie. Eine Einführung, Wien 2012 (Böhlau Verlag) - Karl Raimund Popper: Die offene Gesellschaft und ihre Feinde, Tübingen 1992 (Mohr Siebeck), hier: S. 213ff

Donnerstag, 6. August 2015

Winston Churchill und die Malerei

Winston Churchill (1874 - 1965)
Nach dem Gallipoli-Desaster
(Gemälde von Sir William Orpen, 
1916)
Als Mitglied der britischen Regierung Winston Churchill Großbritanniens Politik und Strategie im Ersten Weltkrieg an entscheidender Stelle mit – zunächst als Erster Lord der Admiralität, später als Marineminister.

Mitunter überschritt Churchill seine Kompetenzen als Minister erheblich, etwa als er sich im Spätsommer 1914 in die Operationen der britischen Expeditionsstreitkräfte in Belgien einmischte und auf eigene Faust die Verteidigung Antwerpens zu organisieren versuchte.

Schwerwiegend war das Scheitern von Churchills Plan, die Kriegsgegner Deutschland und Österreich-Ungarn an ihrer vermeintlich schwächsten Stelle mit der Royal Navy von See aus anzugreifen: im Süden über das mit ihnen verbündete Osmanische Reich. Zwei Landeunternehmen britischer,französischer, indischer, australischer und neuseeländischer Truppen auf der türkischen Halbinsel Gallipoli an den Dardanellen am 19. Februar und 18. März 1915 scheiterten unter schweren Verlusten.

Churchill musste als Verantwortlicher für die Niederlage an den Dardanellen als Marineminister zurücktreten. So legte er am 18. Mai 1915 sein Amt als Erster Lord der Admiralität nieder. Der Truppenrückzug von den Dardanellen dauerte vom 19. Dezember 1915 bis zum 9. Januar 1916. Bei den Kämpfen verloren beide Seiten jeweils über 200.000 Mann.

"Malerei als Zeitvertreib"
Knapp 7 Jahre später, um die Jahreswende 1921/22 herum, erscheint ein Essay von Winston Churchill, der die tiefe Depression schildert, in die er nach dem Verlust seines Ministeramtes fiel, der „`schwarze Hund´, der ihn immer dann ansprang, wenn er aus einem Höhenflug intensivster Aktion in erzwungene Inaktivität abstürzte.“

„Als ich Ende Mai die Admiralty verließ, blieb ich noch Mitglied des Kabinetts und des Kriegsrats. In dieser Position erfuhr ich alles und konnte doch nichts ausrichten. Der Wechsel von einer intensiven regierungsamtlichen Tätigkeit zu den eng umschriebenen Aufgaben eines Beraters ließ mich nach Luft ringen. Wie ein aus großer Tiefe gehobenes Seeungeheuer oder ein Taucher, der zu plötzlich an die Oberfläche kommt – so, bedroht von Druckabfall, fühlten sich meine Venen an, wie zum Bersten. Ich war erfasst von großer Sorge, ohne sie mildern zu können. (…) Lange Stunden von absolut unerwünschter Muße, in der ich die schreckliche Entfaltung des Krieges durchdenken konnte, waren mein Los. In einem Augenblick, in dem alle meine Adern nach Aktion dürsteten, ward ich zum Zuschauen bei der Tragödie verdammt, und das in der ersten Reihe. Aber genau in diesem Moment war es, dass die Muse der Malerei zu meiner Rettung erschien …“ 

Sein Essay trug zwar den harmlosen Titel „Painting as a Pastime“ („Malen als Zeitvertreib“), aber nach seinem (vorläufigen) Ausscheiden aus der aktiven Politik wurde die Malerei für Churchill „zu einer geradezu existentiellen Entdeckung, zu einem Lebenselixier, einer Besänftigung der Unruhe auf dem Grund seiner Seele.“ 

Churchill beim Malen
In seinem Essay erzählt Churchill auf humorvolle Weise von seinen ersten Schritten in der Malerei: „Staffelei, Leinwand, Pinsel, Farben und Palette waren gekauft – aber wie beginnen? Vorsichtig, so schreibt er, übertrug er mit dünnem Pinsel ein Hellblau auf die Leinwand, dort, wo er sich ein Stück Himmel für sein Sujet ausgedacht hatte. `Aber das war eine Markierung, nicht größer als eine Bohne, so gedämpft, so verhalten, ja, fast verkrampft – es blieb ohne Wirkung.´ Da ertönte hinter ihm die resolute Stimme von Lady Lavery: `Was zögern Sie? Geben Sie mir einen breiten Pinsel – den großen.´ Die Augen flossen dem Adepten über, als er zusah: `Hinein in das Terpentingefäß, Suhlen in Blau und Deckweiß, heftige Schwünge auf der längst nicht mehr sauberen Palette – und dann etliche große, wilde Schläge und Hiebe von Blau auf die sich duckende Leinwand; jeder sah, dass sie sich nicht wehren konnte. Aber kein böses Schicksal rächte sich für die bittere Gewalttat. Der Zauber war gebrochen, alle Hemmungen wie verschwunden. (...) Ich ergriff den größten Pinsel und fiel mit berserkerhafter Wut über mein Opfer her. Seither habe ich nie wieder irgendwelche Scheu vor einer leeren Leinwand gehabt.´“

Marrakesch, Januar 1943: Morgensonne vor der Kulisse des Atlas-Gebirges. "Das einzige Gemälde, zu dem Churchill im Zweiten Weltkrieg die Zeit fand."

Und nun bricht der Churchill durch, den die Welt kennt: „`Kühnheit macht einen großen Teil der Malkunst aus´, vertraut er seinen Lesern an, und `das Malen eines Bildes ist, wie wenn man in eine Schlacht geht´. Beides gehorcht dem gleichen Prinzip – `einem langen, sich langsam enthüllenden, in sich verknüpften Argument. Es geht um eine These, die, ob von wenigen oder vielen Teilen gestützt, dem einheitlichen Kommando einer Konzeption gehorcht.´

Und weiter heißt es: „`Male, wie du schreibst oder sprichst – jeder Schwung des Pinsels muss wie ein Statement sein, das man fühlt und sieht.´ Kühnheit, `audacity´ – das empfahl Churchill selbst allen angehenden Malern als Grundvoraussetzung des Temperaments. War Kühnheit nicht auch ein Grundmerkmal seines Naturells? Auch die Malerei wurde somit für Churchill eine Bewährungsprobe. Das ist der Grund, warum er sich dieser neuen Liebhaberei so rückhaltlos ergab (…) - die Malerei hielt ihn in Bewegung, wenn er Stunden vor der Leinwand verbrachte, bis der Drang nach Fertigstellung eines Bildes befriedigt, bis die Schlacht gewonnen war.“

Goldfschteich in Chartwell, 30er-Jahre

Die Motive, die Churchill wählte, geben diese Worte jedoch nicht wieder: „Es dominieren die klassischen Genrebilder der Natur: ruhendes oder vom Wind animiertes Wasser, makelloser Schnee, dunkle Bäume mit dichtem Laub wie auf Wache oder von Sonnenlicht überflutet, ferne Berge, der Saum des Meeres, das ihn vor allem im Midi immer wieder fesselte, und über allem das pralle Ockerlicht einer funkelnden Sonne, seine Lieblingsfärbung. Keine Andeutung von Kampf, Tragödie, drohendem Unwetter, Nachtszenen.“

Winston Churchill hat etwa 500 Bilder gemalt. Er selbst bezeichnete seine Gemälde als „`meine kleinen Schmierflecken´ („my little daubs“).“ 

In seinem bereits erwähnten Essay teilt er dem Leser gleichwohl mit: „`Wenn ich dereinst im Himmel bin, werde ich eine beträchtliche Anzahl meiner ersten Million Jahre dem Malen widmen und so dem Thema auf den Grund kommen.´“