Donnerstag, 28. April 2022

Die Nürnberger Kriegsverbrecherprozesse und der "Schlussstrich" - Teil 1


Als am 1. Oktober 1949 der Nürnberger Hauptkriegsverbrecherprozess zu Ende ging - 12 der 24 Angeklagten wurden zum Tode verurteilt; sieben Angeklagte erhielten langjährige oder lebenslange Haftstrafen, drei Angeklagte wurden freigesprochen -, saßen immer noch Zigtausende Deutsche noch immer in alliierter Haft und warteten auf ihren Prozess. „Beseelt von der Idee, große Teile des Nazi-volkes zur Verantwortung zu ziehen, hatten die alliierten Besatzer in ihren Zonen große Internierungslager errichtet, wo sie jedermann einsperrten, der verdächtig war, ein größeres oder kleineres Rädchen im gewaltigen Unrechtsapparat der Hitlerdiktatur gewesen zu sein.“

Mit dem vom Alliierten Kontrollrat verabschiedeten „Gesetz Nummer zehn“ sollten nun überall in den Zonen Richter der Besatzungsmächte die Nürnberger Prinzipien in kleiner Münze unters deutsche Volk bringen. Ein neues Jahrhundertprojekt, aber praktisch unmöglich zu realisieren!

Nach der Rückkehr von Robert H. Jackson nach Washington übernahm nun Jacksons ehemaliger enger Mitarbeiter Telford Taylor die Leitung der US-Anklagebehörde (OCCWC - Office of the U.S. Chief of Counsel for War Crimes). Unterstützt wurde Taylor von Benjamin Ferencz, der 1945 mit einem Artillerie-bataillon der US-Armee nach Deutschland kam und sich freiwillig zur Beweis-sicherung für Kriegsverbrechen im besiegten Deutschland gemeldet hatte. 

Als Taylor in der Personalakte las, dass der Offizier Ferencz gelegentlich unge-horsam gewesen sei, habe Benjamin Ferencz geantwortet: „`Das ist nicht korrekt, ich bin nicht gelegentlich ungehorsam, sondern regelmäßig ungehorsam´, und zwar immer dann, wenn Befehle offensichtlich dämlich oder illegal seien.“ Ferencz wurde umgehend von Taylor engagiert!

Benjamin Ferencz beim Einsatzgruppenprozess

Zum Garanten der neuen Gerichtsbarkeit wurde der US-Oberkommandierende General Lucius D. Clay, der am 03. Oktober 1949 die Ordinance No. 7 unter-zeichnete, die Anordnung zur Bildung von US-Militärgerichten in Nürnberg. Mindestens fünf neue Gerichtssäle würde man brauchen.

Die Auswahl seiner Angeklagten habe Taylor später selbst mit einer Lotterie verglichen. Etwa 100 000 Verdächtige hatten die US-Besatzer in ihrer Gewalt, Taylor ließ sich aus den Gefangenenlagern Listen mit den Namen der Haupt-verdächtigen schicken. Das waren immer noch 2500 Personen. Höchstens zweihundert, so die Anweisung an die rund vierhundert Leute, die für Taylor im OCCWC zusammenarbeiten, durften übrig bleiben. 

„Die schließlich auf den Anklagebänken saßen, gehörten wahrscheinlich nicht alle zu den Schlimmsten, aber sie waren ein repräsentatives Panoptikum des Bösen. Die Verantwortungslosigkeit hatte ja alle Zweige der Gesellschaft vergiftet, bei den Schöngeistern ebenso wie bei den Wissenschaftlern, bei den Ökonomen wie bei den Juristen und Militärs: Überall hatten sie sich bereitwillig dem mörderischen Machtwillen Adolf Hitlers unterworfen.“ 

Nürnberger Ärzteprozess: Karl Brandt, Reichskommissar für das Sanitäts- und Gesundheitswesen, Generalkommissar für Kampfstofffragen, Euthanasiebevollmächtigter und Begleitarzt Hitlers

Von besonderer Bedeutung war der sogenannte „Einsatzgruppenprozess“. Es war der erste Fall des siebenundzwanzigjährigen (!) Benjamin Ferencz. Ferencz hatte sich in Berlin durch Hunderte von Aktenordners gewühlt, bis er schließlich den unleugbaren Beweis für den Völkermord der SS an Millionen Juden im europäischen Osten fand: In einer Außenstelle des Auswärtigen Amtes nahe dem Tempelhofer Flughafen fanden die Mitarbeiter des OCCWC  „einen kompletten Satz geheimer Mord-berichte, die von der Gestapo-Zentrale an etwa hundert Topnazis weitergeschickt worden waren, alles Männer, die in Nürnberg behauptet hatten, von alledem nichts gewusst zu haben.“

Die Berichte beschrieben von Tag zu Tag die Aktivitäten der „Einsatzgruppen“: vier Einheiten, jede zwischen fünfhundert und achthundert Leute stark, die keine andere Aufgabe hatten, als gleich hinter der Front in den eroberten Ländern alle „Juden, Zigeuner und politisch verdächtige Elemente“ umzubringen. „Die Tagesberichte mit dem harmlosen Namen `Bericht über Ereignisse in der Sowjetunion´ listeten über einen Zeitraum von zwei Jahren, beginnend mit dem Einmarsch in die UdSSR am 22. Juni 1941, die Erfolge der `Säuberungen´ auf.“

Ferencz holt sich aus dem Sekretariat eine kleine Rechenmaschine und tippt die Zahlen ein, die er beim Durchblättern liest. „Als er bei der Summe von einer Million angekommen ist, macht er die Akten zu und bestellt für den nächsten Morgen einen Flug nach Nürnberg zu Taylor: `General, ich habe klare Beweise für einen Völkermord.´“

Beim „größten Mordprozess der Geschichte“ gegen die vierundzwanzig angeklagten SS-Offiziere hieß Punkt eins der Anklageschrift schlicht „Völkermord“. „`Die schwärzeste Seite im Buch der menschlichen Geschichte´, so donnerte der kleine Mann hinterm Anklagepult, hätten diese Männer geschrieben: `Der Tod war ihr Instrument, das Leben anderer ihr Spielzeug. Sollten diese Männer nicht bestraft werden können, dann hätte das Gesetz seine Bedeutung verloren.´“ 

Aber die Beweise waren so hieb und stichfest, dass Zeugen kaum gebraucht wurden. In zwei Tagen war Ferencz mit der Anklage durch. Vierzehn der Angeklagten, darunter Otto Ohlendorf, der Befehlshaber der `Einsatzgruppe D´, wurden zum Tode verurteilt. 

Benjamin Ferencz (*1920) -
Der letzte noch lebende Chefankläger
aller Nürnberger Kriegsverbrecherprozesse (Stand 2022)

Im März 1949 hatte der US-Oberkommandierende General Clay alle Todesurteile bestätigt, auch das gegen Ohlendorf. „Doch die Vollstreckung am Landsberger Galgen wurde aufgeschoben. Das hatte zunächst eher bürokratische Gründe: Clays Amtszeit lief ab, und sein Nachfolger John McCloy, ein Jurist, ehemals Wallstreet-Anwalt, hatte sich die Entscheidung über Revisionsanträge der Todeskandidaten in Landsberg vorbehalten (…) Clay war ein Haudrauf, ein Militär eben; McCloy war ein Strippenzieher, ein Lobbyist und Spindoktor der amerikanischen Nachkriegspolitik. Er fand, dass man die Spitzenkräfte des untergegangenen Reiches nicht einfach aufhängen konnte. Vielleicht brauchte man sie ja noch.“ 

„Im Land der Täter hatte eine bleierne Zeit begonnen. Der Blitzschlag von Nürnberg, die Verheißungen eines neuen Rechts des Friedens und der Menschlichkeit hatten ganz gegensätzliche Folgen: Die Deutschen fühlten sich in ihrer Mehrheit gekränkt und missverstanden. `Die Zeit war noch nicht reif für die Erkenntnis, dass den Deutschen durch die Nürnberger Verfahren ein großer Dienst erwiesen wurde´“. 

(Fortsetzung folgt)


Zitate aus: Thomas Darnstädt, Nürnberg. Menschheitsverbrechen vor Gericht 1945, München 2015 (piper)


Donnerstag, 21. April 2022

Thukydides und die menschliche Natur

Im Gegensatz zu Herodot wurde Thukydides zum Historiker der Niederlage seiner Heimatpolis Athen. In den 27 Jahren des Krieges hatte Thukydides erlebt, was Herodot über einen längeren Zeitraum beobachtete: Alles war dem Wechsel unterworfen, ständig veränderten sich Bedingungen und Voraussetzungen des Krieges. Zufälle (týche, symphóra) machten alle Vorausberechnungen zunichte, nichts war von Bestand. 

Aber Thukydides hatte seinen Lesern versprochen, sein Werk würde über den Augenblick hinaus von Nutzen sein. Um freilich von der „Erkenntnis des Vergangenen“ zu einer „Erkenntnis des Zukünftigen“ zu gelangen, bedurfte es einer Konstante im geschichtlichen Prozeß, und diese fand Thukydides in der menschlichen Natur (anthropeía phýsis, anthrópinon), die zum gemeinsamen Nenner der Analysen der Politik der Großmächte, aber auch einzelner Akteure wurde. 

Thukydides (454 - 399 v. Chr.)

„Schon in der Debatte um das Schicksal von Mytilene formuliert der Demagogos Kleon eine Ansicht, von der wir annehmen können, daß Thukydides sie teilte: Armut bringe Not und erzeuge dadurch Verwegenheit, Macht führe durch Frevelmut und Stolz zu Habgier. Wie alle anderen Lebensfälle, die den Menschen beherrschten, trieben sie in wilder Leidenschaft, gleichsam mit übermächtiger Gewalt, zum Wagnis. Zeichen großer Einfalt sei es, wenn jemand glaube, man könne dem wilden Tatendrang der menschlichen Natur Einhalt gebieten durch die Kraft der Gesetze oder sonst etwas, das Furcht errege. In der Natur, sei es von Einzelnen oder von Staaten, liege nun einmal der Hang zum Verbrechen und es gebe kein Gesetz, das sie davon abhalte.“

Auch die Gesandten Athens in Melos vertreten den gleichen Gedanken: „So haben auch wir nichts Verwunderliches getan, nichts wider die menschliche Natur, wenn wir eine uns angebotene Herrschaft annahmen und nicht aufgeben wollen, von den drei stärksten Beweggründen getrieben: Ehre, Furcht und Nutzen. Wir haben auch nicht als erste damit angefangen, es gilt vielmehr seit jeher, daß der Schwächere vom Mächtigeren niedergehalten wird …“.

Selbst der den Athenern prinzipiell feindlich gesinnte syrakusanische Staatsmann Hermokrates stimmt mit ein: „Daß die Athener ihre Macht erweitern und nur darauf sinnen, ist ihnen gar nicht zu verdenken, und ich tadle an niemandem den Willen zu herrschen, wohl aber allzu rasche Bereitschaft, sich zu ducken; denn so ist nun einmal Menschennatur: zu herrschen über alles, was nachgibt, aber sich abzusichern gegen alles, was angreift.“ 

Kern des menschlichen Denkens und Ziel menschlichen Strebens ist also das Erringen von Herrschaft gemäß der menschlichen Natur. „Nichts Größeres gibt es für den Menschen als Freiheit - d.h. Herrschaft über sich selbst -  oder Herrschaft über andere. Wer immer Schwäche zeigt, muß dem Stärkeren unterliegen, wer immer die Möglichkeit zu herrschen sieht, scheut kein Verbrechen. Es schrecken ihn weder Gebot, Gesetz noch Strafe.“

Mit eigener Stimme hat sich Thukydides dazu in einem der wichtigsten Kapitel des gesamten Werkes geäußert, in der sogenannten Pathologie. Dieses Kapitel wurde von Thukydides erst gegen Ende des Krieges geschrieben und enthält das Resümee von Erfahrungen, die der Historiker in langen Jahren des athenisch-spartanischen Kampfes machte. „Thukydides nennt in der Pathologie die Sucht, den Trieb, ja den Zwang zum Herrschen arché“ (…) und faßt sie als die Ursache von Allem.

Die arché selbst besitzt für Thukydides ihren tiefsten Grund in zwei Eigenschaften, die den Menschen unauslöschlich beherrschen, „der pleonexia, dem Mehrhabenwollen, zu der das Bemühen um den eigenen Vorteil oder Nutzen (xymphéron, ophelía) tritt, und der philotimia, der Ehr- und Ruhmsucht. Der Historiker hat diesen Zusammenhang in einem Satz von lapidarer Kürze hergestellt, der das Zentrum der Pathologie bildet. Dort drückt Thukydides ein Gefühl aus, an dem es ihm ansonsten gänzlich zu mangeln scheint: Empörung. 

Wie er in der Analyse der Pest vom moralischen Verfall im Gefolge der Seuche berichtet, so legt Thukydides in der Pathologie die Deformation der menschlichen Physis durch den Bürgerkrieg bloß:

„Der Bürgerkrieg steigerte sich ins Unmenschliche, und er schien um so grausamer, als er der erste dieser Art war. Später ergriff die Erschütterung fast die gesamte griechische Welt. An jedem Ort herrschte Zwiespalt, so daß die Führer des Volkes die Athener, die Adligen die Spartaner für ihre Sache zu gewinnen suchten. 

Solange noch Friede währte, besaßen sie keinen Vorwand und mangelte es ihnen auch an Willen, Hilfe zu holen. Sobald sie sich aber im Krieg befanden, leisteten zugleich beide Bündnisse, Athener wie Spartaner, zum Schaden des Gegners und eben dadurch zur eigenen Machtverstärkung leicht denen Unterstützung, die einen Umsturz planten. 

"Wer immer die Möglichkeit zu herrschen sieht, scheut kein Verbrechen. Es schrecken ihn weder Gebot, Gesetz noch Strafe.“

Unter solchem Aufruhr brach viel Schweres über die Städte herein, wie es geschieht und immer wieder geschehen wird, solange die Natur des Menschen gleich bleibt, einmal schlimmer, einmal gemäßigter und in sich ändernden Erscheinungsformen, je nachdem der Wechsel der Umstände es mit sich bringt. In Zeiten des Friedens und des Wohlstandes erweisen sich Städte und Menschen von besserer Gesinnung, weil sie nicht in ausweglose Zwangslagen geraten. 

Der Krieg aber, der das leichte Leben des Alltags aufhebt, ist ein gewalttätiger Lehrmeister und lenkt die Stimmungen der Menge nach dem Augenblick. Und so ergriff der Zwist zwischen den Bürgern alle Städte, und diejenigen, die sich erst später entzweiten, überboten auf die Kunde des bereits Vorgefallenen hin jene an Erfindungsreichtum, da es galt, Anschläge mit heimtückischer List zu ersinnen oder auf scheußliche Weise Rache zu üben. (…)

Ursache von allem ist die Sucht (der Zwang) zu herrschen, erwachsen aus Habgier (pleonexia) und Ehrgeiz (philotimia). Und aus diesen entstand leidenschaftliche Begierde, wenn die Menschen in Streit gerieten. 

Die führenden Männer in den Städten nämlich verkündeten auf beiden Seiten mit schön klingenden Worten, sie träten ein für die politische Gleichheit aller Bürger oder die gemäßigte Herrschaft der Besten, doch sie machten das Gemeinwesen, dem sie sich dem Wort nach verpflichteten, zum Ziel persönlicher Belange, und in dem Bemühen, mit allen Mitteln einander auszustechen, wagten sie das Äußerste, übertrumpften einander in unversöhnlicher Rache, machten vor Recht und Staatswohl nicht Halt und taten, ohne eine Grenze zu stecken, was einem jeden gerade angenehm war. 

Ob sie nun durch unredliche Abstimmung oder mit Gewalt zur Herrschaft kamen, sie waren zu allem bereit, nur um ihre Streitwut zu sättigen. Mit ehrlichem Gewissen handelte keine der beiden Parteien, wem es aber gelang, abscheuliche Taten unter dem Deckmantel schöner Phrasen zu verbergen, der stand in besserem Ruf. 

Die Parteilosen unter den Bürgern wurden von beiden Seiten umgebracht, sei es, weil sie sich niemandem anschließen wollten, sei es aus Neid, sie kämen vielleicht davon.“

Die Aussagen über die Natur des Menschen formen sich in den Reden zu einem einheitlichen Bild. „Der Mensch gleiche dem Menschen, Erziehung verstärke oder schwäche nur Anlagen. Wer schmeichle, werde verachtet, wer sich widersetze, bewundert. Mehr als Gewalttat empöre ihn erlittenes Unrecht, da ihm jenes als Zwang eines Mächtigen, dieses aber als Übergriff des Gleichgestellten erscheine. Immer wieder stifteten Hoffnung und Begierde den größten Schaden, diese führend, jene folgend. Eine (vom Zufall) angebotene Herrschaft zu ergreifen und nicht wieder loszulassen, sei menschliche Natur.“

Es sind die menschlichen Ziele und die Motive hinter dem menschlichen Handeln, die Thukydides am stärksten interessieren: „Pleonexia und philotimia treiben die Menschen zu Verbrechen aller Art. Das `Mehrhabenwollen´ beherrscht Einzelne und Staaten. Großmächte dehnen sich aus oder sie brechen zusammen. Perikles selbst darf dies bei Thukydides formulieren: `Glaubt ja nicht, der Kampf gelte nur der einen Entscheidung: Knechtschaft oder Freiheit; nein, es droht euch der Verlust des Reiches, und Gefahr bedeutet der Haß, den ihr euch durch eure Herrschaft zugezogen habt. Von ihr zurückzutreten steht euch nicht mehr frei, falls etwa jemand voll Angst über die Lage mit einem solchen Vorschlag den friedliebenden, biederen Bürger spielen will. Denn eine Art Tyrannis ist ja bereits die Herrschaft, die ihr ausübt; sie zu ergreifen mag ungerecht scheinen, sie loszulassen (ist) aber lebensgefährlich.´“

Schlachtszene im antiken Krieg

Was hier und in der Pathologie noch als persönlicher Kommentar (des Autors und seines Personals) erscheint, verdichtet sich im Melier-Dialog zum nómos, zur Gesetzmäßigkeit: 

„Götter wie Menschen, Individuen wie Staaten unterliegen dem Zwang, wo immer sich Gelegenheit dazu bietet, zu Macht und Herrschaft zu drängen. Jeder Staat strebt nach Expansion, jede Großmacht entwickelt sich zur Tyrannis, zum Gewaltstaat. Nur Ausgreifen sichert das Überleben, mit dem Ende der Expansion bricht auch die Großmacht zusammen. 

Recht gilt nur, wo sich Gleichstarke paralysieren. Es ist ein bloßes Instrument der Mächtigen, um die Schwachen schwach zu halten, eine Spielregel, die allein für Untertanen gemacht ist. Der Schwache fügt sich oder versucht, der Stärkere zu werden. Sein Mittel ist wie das des Mächtigen die Gewalt und diese hat (…) viele Namen: Tyrannis oder arché, Befreiung oder Unterwerfung, Krieg oder Terror, doch nur einen Ursprung. Das gemeinsame Movens, das kein Gut und kein Böse kennt, jegliche moralische Wertung verbietet und keine Hoffnung zuläßt, ist die anthropeía phýsis, die menschliche Natur.“

Zitate aus: Wolfgang Will: Herodot und Thukydides. Die Geburt der Geschichte, München 2015 (C.H. Beck)

Donnerstag, 14. April 2022

Robert H. Jackson und die Einleitung eines unrechtmäßigen Krieges


Der gelernte Rechtsanwalt Robert H. Jackson aus der Kleinstadt Jamestown konnte so gut reden, dass man irgendwann in New York auf den Provinzanwalt aufmerksam wurde. Seiner Nähe zur Demokratischen Partei war es wohl zu verdanken, dass er 1934 Chefjustiziar der New Yorker Finanzbehörde wurde. „Sein bestechendes Auftreten, sein Selbstbewusstsein – manche sagten: seine Eitelkeit – brachten ihm schnell die Sympathie der Politprominenz ein. Franklin D. Roosevelt und Henry Morgenthau wurden seine Förderer. 1938 war er schon Generalstaatsanwalt und 1940 Justizminister der USA, 1941 Richter am Supreme Court.“ Höher kann man als Jurist in den USA nicht kommen.

Robert H. Jackson (1892 - 1954)

Trotzdem hat Jackson die Welt verändert, denn ihm allein ist es zu verdanken, dass am 1. Oktober 1946 Hermann Göring zusammen mit achtzehn anderen führenden Mitgliedern des Hitlerregimes als Verantwortlicher eines verbrecherischen Staats- und Kriegsapparates verurteilt wurde. 

Mit diesem Prozess wurde die bisher gültige juristische Weltordnung geradezu aus den Angeln gehoben, denn das Nürnberger Urteil bedeutete beschrieb eine radikale Wende „eines jahrhundertealten unmenschlichen Völkerrechts, das den Staaten das Recht garantierte, Kriege zu führen, und das Staatsführer und Kriegsherren freistellte von jeder Verantwortung für das Unheil, das sie über die Menschen gebracht hatten.“

Das Urteil von Nürnberg erschütterte diese alte Staatenordnung, die seit dem Ende des Dreißigjährigen Krieges 1648 den staatlichen Souveränen des Recht gab, das eigene Volk straflos zu unterdrücken oder sogar zu vernichten – wie eine deutsche Regierung es mit den Juden tat.

„Die Erklärung der Menschenrechte, das Gewaltverbot der Vereinten Nationen, die weltweite Ächtung des Völkermordes als Verbrechen: Ohne diesen unglaublich ehrgeizigen und eloquenten Provinzanwalt aus Jamestown wäre es so weit nie gekommen.“

„Dreh- und Angelpunkt für Jacksons Neuordnung der Welt war ein Straftatbestand, den das Völkerrecht bislang nicht kannte: `Das Verbrechen, welches alle geringeren Verbrechen einschließt´, sei die `Einleitung eines unrechtmäßigen Krieges´.“ Das war die Grundidee: „`Angriffskriege sind Bürgerkriege gegen die internationale Völkergemeinschaft´, hatte er schon im März 1941 in öffentlichen Reden erklärt. Und diese Idee war geeignet, ein völlig neues Kriegsrecht zu begründen.“

In der bisherigen Rechtstradition war es immer nur um das Recht im Kriege, das `ius in bello´ gegangen – also im Wesentlichen um jene humanitären völker-rechtlichen Verträge, die zwischen zwölf Staaten zuerst 1864 in Genf `betreffend die Linderung des Loses der verwundeten Militärpersonen´ geschlossen worden waren. „Dieses Kriegsrecht, das Disziplinlosigkeiten und Übertreibungen beim Geschäft des organisierten Tötens zur Strafsache machte, sollte dafür sorgen, dass es korrekt zuging im Krieg.“

Jackson als Hauptankläger in Nürnberg

Doch nun sollte Jackson zufolge alles anders werden. Nun wurde das `ius ad bellum´ in Frage gestellt, also das Recht, Kriege überhaupt führen zu dürfen. „Die `seltene Gelegenheit´ für den Umsturz der seit Generationen geltenden völkerrechtlichen Regel, am Ende eines Krieges zwischen Siegern und Besiegten `immerwährendes Vergessen und Amnestie´ zu gewähren, war tatsächlich der Zweite Weltkrieg. 

Noch Hitler hatte am Vorabend des Überfalls auf Polen 1939 tönen können: `Bei Beginn und Führung des Krieges kommt es nicht auf das Recht an.´ Doch was dann geschah, hatte nichts mehr von den Sitten und Gebräuchen des guten alten Krieges nach westfälischem Muster übrig gelassen, die eine Unterscheidung zwischen `Kriegskunst´ und Mord erlaubt hätten. Hitlers Krieg sollte im immerwährenden Gedächtnis der Menschheit bleiben: als mörderisches Verbrechen. `Aggression´ wurde zum Codewort für Jacksons Kriegsrecht: das Verbrechen des Angriffskrieges.“

„`Die Amerikaner´, so resümierte viel später der US-Politologe Samuel Huntington, `neigen dazu, die Ideale ihrer Innenpolitik auf die Außenpolitik zu übertragen´, auf die Außenpolitik der ganzen Welt natürlich. Frieden durch Recht: So gesehen war das eine total amerikanische Idee. Die Weltpolitik sollte zur Rechtssache nach dem Selbstbild des Rechtsstaates Amerika werden, der ja auch in seinem Inneren die Definition von Gut und Böse unabhängigen Gerichten überließ.“

`Das Prinzip der Rechtsstaatlichkeit zwischen den Nationen´, hatte Jackson gefordert, „müsse an die Stelle des alten westfälischen Gewaltprinzips der Fortsetzung der Politik mit den Mitteln des Krieges treten – und dazu gehöre auch, dass man die Verantwortlichen des besiegten Gegners vor ein faires Gericht stelle.“

Jacksons Idee bestand darin, persönliche Verantwortlichkeit für staatliches Unrecht statuieren. Das implizierte, die diese Verantwortlichkeit im Einzelfall auch beweisen zu können: `Gerichte sprechen Recht über Fälle, aber Fälle richten auch Gerichte.´ „Doch könnte ein Gericht über die Besiegten glaubwürdig und rechtsstaatlich handeln, das aus den Siegern eines Krieges besteht?"

Gerade um den Vorwurf der `Siegerjustiz´ zu vermeiden, bestand Jackson darauf, dass so ein Gerichtsverfahren keinesfalls zu einem Schauprozess verkommen dürfe: `Man soll keinen Menschen vor einer Institution, die sich Gericht nennt, unter Anklage stellen und das Ganze ein rechtsstaatliches Gerichtsverfahren nennen, sofern man nicht gewillt ist, ihn freizusprechen, wenn seine Schuld nicht erwiesen ist.´

Acht der 24 Hauptangeklagten in Nürnberg: Göring, Heß, von Ribbentrop, Keitel (vorne), Dönitz, Raeder, von Schirach, Sauckel (hinten)

Natürlich war sich auch Jackson bewusst, dass einer wie Göring niemals freigesprochen werden könnte. „Doch seine Reden vom Rechtsstaat zeugten von Prinzipienfestigkeit – und sie überzeugten den soeben ins Amt gekommenen Präsidenten Harry S. Truman.

Für Truman war schnell klar, dass Jackson der richtige Mann für die Rolle als Hauptankläger war, um „die Naziführung anzuklagen `wegen der Einleitung eines Angriffskrieges´ und `der kriminellen Verschwörung´. Am 27. April 1945 notiert Robert Jackson in seinem Tagebuch: `Außerordentlich erfreut über das Angebot und herausgefordert von der Schwierigkeit der Aufgabe habe ich die Sache in meine Obhut genommen.´“

Jackson bekam von Truman persönlich freie Hand, sich die besten Juristen Amerikas für die Aufgabe auszusuchen. Die waren auch nötig. Denn nun ging es darum, ein Anklagekonzept zu entwickeln, das völkerrechtlich tragfähig war – und von den drei anderen Alliierten akzeptiert wurde.


Zitate aus: Thomas Darnstädt, Nürnberg. Menschheitsverbrechen vor Gericht 1945, München 2015 (piper)


Donnerstag, 7. April 2022

Herodot und die Verfassungsdebatte

Einer der Höhepunkt in dem monumentalen Geschichtswerk Herodots ist die sogenannte Verfassungsdebatte, bis heute gefeiert als die „erste staatstheoretische Abhandlung der Weltgeschichte.“ 

Herodot

Interessanterweise verlegt Herodot seinen Versuch einer Verfassungstypologie und die Diskussion, in der auch um die Staatsform der Demokratie geht, nach Persien, genauer in einen persischen Adelsrat, und dazu in das ferne 6. Jahrhundert, genauer ins Jahr 521 v. Chr. Gerade war die Herrschaft des Kambyses unter äußeren und inneren Schrecken zu Ende gegangen. Ein Mager, ein Angehöriger einer persischen Priesterkaste, hatte sich als Sohn des Kyros und Bruder des Kambyses ausgegeben und die Macht an sich gerissen. Sieben persische Adlige stürzten den Usurpator, der als „falscher Smerdis“ in die Geschichte einging, und drei von ihnen diskutieren nun angesichts des Machtvakuums, ob Persien eine neue Verfassung und gegebenenfalls welche erhalten soll.

„Die Sprecher gehen nach einem festen Schema vor: Jeder von ihnen wirbt für eine Staatsform und weist eine andere zurück. Es lässt sich von These und Gegenthese sprechen, doch sie beziehen sich innerhalb einer Rede nicht auf dasselbe Objekt.“ 

„Die Debatte eröffnet ein Adliger namens Otanes. Er beleuchtet zunächst die Schattenseiten der Königsherrschaft. Dabei beginnt er mit der gegenwärtigen Situation – die Perser hätten mit der Monarchie, mit Kambyses und dem Mager, keine guten Erfahrungen gemacht –, um dann nach einer Aufzählung der allgemeinen Negativa der Monarchie zum Lob der Demokratie überzugehen. 

Der nächste Redner, ein Mann namens Megabyzos, schließt direkt an und stellt nun die Argumente gegen die Demokratie vor. Danach spricht er der Oligarchie das Wort. 

Dareios, der als dritter Redner folgt, umkreist das Thema. Im Mittelteil seiner Rede argumentiert er gegen Oligarchie und Demokratie, am Anfang und am Schluß für die Monarchie.“

Warum aber siedelt Herodot die Debatte überhaupt in Persien an? Vermutlich, weil er weiß, dass der neue Großkönig Dareios und sein Sohn Xerxes sind es, die Krieg gegen die Griechen führen werden. Hinzu kommt, dass die Alleinherrschaft in Griechenland nach dem Sturz der Tyrannenherrschaften keine Alternative mehr darstellte. Das machte es Herodot auch unmöglich, Griechen für diese Debatte zu wählen, z.B. Peisistratos (Alleinherrschaft), Isagoras (Oligarchie) und Kleisthenes (Demokratie).

Kleisthenes und die demokratischen Reformen in Athen

So verwenden die persischen Adligen, die bei Herodot miteinander diskutieren, „griechische Begriffe, verwenden typische Stilfiguren der griechischen Rhetorik wie Alliterationen, rhetorische Fragen oder Steigerungen, und sie denken griechisch. 

Die Debatte spiegelt offenbar wider, was in Griechenland in der zweiten Hälfte des 5. Jahrhunderts, beeinflußt von der Sophistik, über Staatsangelegenheiten reflektiert und diskutiert wurde“, denn hinter dem Aufbau der Debatte steht die berühmte Erkenntnis des Sophisten Protagoras, daß „es über jede Sache zwei Aussagen gebe, die einander entgegengesetzt seien.“

Weil die Darstellung der Diskussion durch Herodot eben noch keine lange Tradition besitzt, ist die verwendete Begrifflichkeit noch nicht felxibel. „Für Alleinherrschaft gebraucht Herodots Personal ohne Differenzierung Termini wie Moúnarchos und Týrannos, die `Herrschaft der Wenigen´ wird gleichermaßen als Oligarchie und Aristokratie bezeichnet. Das Wort „Demokratie“ fällt in der Diskussion überhaupt nicht. Die Rede ist dagegen nur vom Dêmos oder von Plêthos (Menge) als Subjekt des Handelns und von Isonomía, der gleichen Zuteilung von Rechten und Pflichten bzw. später der Gleichheit vor dem Gesetz.

„Herodot besaß sicherlich eine eigene Ansicht zum Thema, doch er versteckt sie. Die Form des Meinungsaustausches, die er wählt, bedeutet wohl auch, daß er sie nicht direkt äußern wollte. Er verstand sich als Historiker aller Griechen und nicht einer Gruppe von ihnen.“ 

Gelichwohl ist die Liste der Gründe, die Alleinherrschaft abzulehnen, bei Herodot lang: „Ein Monarch brauche keine Rechenschaft abzulegen. Die unkontrollierte Machtfülle führe zur Überhebung. So kümmere sich der Alleinherrscher nicht um überlieferte Satzung, schalte nach Belieben, verübe, von Hybris und Neid getrieben, Untaten an Bürgern und Frauen, töte ohne Recht und ohne Urteil.“

Während Argumente für die Herrschaft der Wenigen nahezu fehlen, spricht für die Demokratie bei Herodot eine Fülle von Argumenten. „Zunächst sei sie frei von all den Missständen, welche die Monarchie mitbringe (…). Zudem würden die Ämter durch Los vergeben, und deswegen herrsche Chancengleichheit. Alle Amtsinhaber seien rechenschaftspflichtig. Das beuge Amtsmißbrauch und Korruption vor. Schließlich würden alle Beschlüsse von der Gemeinschaft gefaßt.“

Allerdings werden auch die negativen Seiten der Demokratie verschwiegen: „Nichts sei unverständiger, nichts überheblicher als der unnütze Haufen. Der Menge fehle das Wissen, das einen Monarchen auszeichne. Ohne Verstand stürze sie sich auf die Staatsangelegenheiten, vergleichbar einem Sturzbach im Frühjahr. Wo das Volk regiere, dränge sich das Schlechte ein, und das führe – eine Vorstufe zum Kreislauf der Verfassungen, wie er später von Platon bis Cicero diskutiert wird – in einer Spirale der Abwärtsbewegung wieder zu einer Alleinherrschaft.“

"Ohne Verstand stürzt sich das Volk auf die Staatsangelegenheiten"

Die Verfassungsdebatte ist weit davon entfernt, die Demokratie zu preisen, wie es beispiels Perikles in der berühmten Leichenrede bei Thukydides tut. Die Vorzüge scheinen zu überwiegen, trotz der Schattenseiten.

Es läßt sich vermuten, daß Herodot für die politische Verfassung Athens Sympathien hegte, expressis verbis gesagt hat er dies – im Gegensatz zur Hervorhebung der Verdienste der Stadt im Perserkrieg – aber nirgends. Herodot ist jedoch der erste Historiker, der das Wort „Demokratia“ verwendet. „Gleichsam nebenbei, versteckt in der Genealogie der Familie der Alkmeoniden, erfährt die Nachwelt von der Geburt der Demokratie. Bei der denkwürdigen Freierwahl gewinnt der Alkmeonide Megakles aus Athen die Tochter des Tyrannen von Sikyon, Agariste, und Herodot fährt fort: `Der Sohn dieses Paares war jener Kleisthenes, der die Phylen in Athen schuf und die Demokratie einrichtete.´ Dieser Satz ist gleichsam die Taufurkunde der Demokratie.“

Zitate aus: Wolfgang Will: Herodot und Thukydides. Die Geburt der Geschichte, München 2015 (C.H. Beck)