Seit seiner Entstehung ist das Verhältnis des Liberalismus zur Religion mit Sicherheit nicht ungebrochen. Die
Auseinandersetzung fand zunächst auf kognitiver Ebene statt, d.h. es ging um die
Frage, ob wir die von der Religion proklamierten Wahrheiten überhaupt erkennen
können. Wenn man von der Prämisse ausgeht, dass menschliches Wissen prinzipiell
beschränkt ist, dann muss man mit Friedrich von Hayek den Religionen vorwerfen,
sie beruhen auf einer „Anmaßung von Wissen“.
Protagoras (490 - 420 v. Chr.) |
Der von den Religionen erhobene Absolutheitsanspruch – „Wir
sind die einzig wahre Religion!“ – wurde gleichwohl schon im Agnostizismus der
Antike, vor allem durch den Sophisten Protagoras, vertreten: „Von den Göttern
vermag ich nicht festzustellen, weder, dass es sie gibt, noch, dass es sie
nicht gibt, noch, was für eine Gestalt sie haben, denn vieles hindert ein
Wissen hierüber: die Dunkelheit der Sache und die Kürze des menschlichen Lebens“
(18 fr. 4).
Die Tatsache, dass jede Religion mit einer Soziallehre
verbunden ist, die normative Aussagen über Gesellschaft, Politik, Recht und
Wirtschaft trifft, führt zu einem weiteren Konfliktfeld. Im Kern geht es um die
Trennung von Religion und Staat. So haben viele Vertreter des Liberalismus den
religiös neutralen und säkularen Staat einschließlich der „Betonung des
privaten Charakters der Glaubens“ verteidigt. Dabei war es nicht immer einfach,
„den liberalen Säkularismus vom illiberalen Laizismus zu trennen“, denn „in
seinen Extremformen konnte der illiberale Laizismus zum säkularen Tugendterror gegen Geistliche während der Jakobinerherrschaft der Französischen Revolution
oder im 20. Jahrhundert zu den `atheistischen´ Regimes des Sowjetkommunismus
oder der Errichtung `panarabischer´ Diktaturen in der islamischen Welt führen.“
Dass die naturrechtliche Lehre von der Unantastbarkeit der
Person in ihren individuellen Rechten und ihrer Menschenwürde historisch aus
den religiösen Vorstellungen des Christentums erwachsen ist – und gegen die
Interessen der klerikalen Hierarchie durchgesetzt werden musste -, ist eine
Tatsache. Ob daraus jedoch die Konsequenz folgt, dass diese religiösen
Vorstellung auch heute noch „den Begründungskontext für eine freiheitliche
Gesellschaft darstellen, darüber streiten sich die Gemüter.“
Eignen sich religiöse Vorstellungen noch als Begründungskontext in einer freiheitlichen Gesellschaft? |
David Hume jedenfalls hält die Religion für ungeeignet, „die
Fundamente zu einer humanen Rechtsordnung zu legen und findet
religiös-transzendentale Begründungen unrealistisch oder gar gefährlich.“ Hume
richtet sich vor allem gegen das Argument der sozialen Nützlichkeit der
Religion. John Stuart Mill wird später dieses Argument als nicht sehr
schlagkräftig bezeichnen: „Die Nützlichkeit der Religion musst erst angeführt
werden als die Argumente zugunsten ihrer Wahrheit in großem Umfang aufhörten zu
überzeugen. Die Menschen müssen entweder zu glauben aufgehört haben oder
aufgehört haben, dem Glauben anderer zu vertrauen, bevor sie sich auf dieses
schwächere Argument der Verteidigung einlassen – ohne Bewusstsein, dass sie so
erniedrigen, was sie zu erhöhen trachten. Das Argument der Nützlichkeit der
Religion ist ein Appell an die Ungläubigen, um sie zur Praxis einer
gutgemeinten Heuchelei zu bekehren“ (zit. nach Doering, 18).
David Hume (1711 - 1776) |
Für Hume ist es vor allem die Strafe der ewigen Verdammnis,
die ihm als vollkommen moralisch unangemessen für eine freiheitliche
Gesellschaft erscheint.
Strafe und Bestrafung sind zwar in keiner
Gesellschaftsordnung wegzudenken, aber Bestrafung „ohne Zweck und Absicht ist
mit unseren Vorstellungen von Güte und Gerechtigkeit unvereinbar.“ Hume
kritisiert vor allem die Unangemessenheit und Maßlosigkeit der religiösen
Strafen: „Warum dann ewige Strafen für die zeitlichen Vergehen eines so
schwachen Geschöpfes wie des Menschen? […] Himmel und Hölle setzen zwei
verschiedene Arten von Menschen voraus, die guten und die bösen. Aber der
größte Teil der Menschheit schwankt zwischen Laster und Tugend. Wenn jemand in
der Absicht die Welt durchwandern wollte, den Rechtschaffenen eine gute
Mahlzeit und den Bösen eine ordentliche Tracht Prügel zu geben, so würde ihm
die Wahl häufig schwerfallen und er würde feststellen, dass Verdienst und
Schuld der meisten Männer und Frauen kaum groß genug sind, um weder das eine
noch das andere zu rechtfertigen.“
So ist es wenig nützlich für das Zusammenleben der Menschen,
einen anderen als den menschlichen
Maßstab von Billigung und Tadel vorauszusetzen, denn: „Woher, wenn nicht aus
unseren eigenen Empfindungen lernen wir, dass es so etwas wie moralischen
Entscheidungen gibt?“
Ewige Verdammnis für zeitliche Vergehen?
Hochmittelalterliche Darstellung der Hölle im Hortus-Deliciarum-
Manuskript der Herrad von Landsberg (um 1180)
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So ist die „Hauptquelle moralischer Vorstellungen“ allein
das Nachdenken über die individuellen Interessen und die Interessen der
menschlichen Gemeinschaft. Eben diese beiden Interessen beruhen auf dem
öffentlichen Vernunftgebrauch und haben es gar nicht nötig, durch ewige und
unendliche Strafen geschützt zu werden: „Die Verdammnis eines einzigen Menschen
ist ein unendlich größeres Übel in der Welt als der Umsturz von tausend
Millionen von Königreichen.“
Man könnte es auch mit Voltaire halten, der gesagt hat: „Wir
sind alle gemacht aus Schwächen und Fehlern; darum sei erstes Naturgesetz, dass
wir uns wechselseitig unsere Dummheiten verzeihen.“
Zitate
aus: Detmar Doering: Kleines Lesebuch über Freiheit und Religion, Argumente der
Freiheit, Band 31, FNS Für die Freiheit, Berlin 2013. hier: S. 7-19; 24-30 - Weitere
Literatur: David Hume: Die Naturgeschichte der Religion. Über Aberglaube und
Schwärmerei. Über die Unsterblichkeit der Seele. Über Selbstmord, Hamburg 1999
(Meiner) - Wilhelm Capelle: Die Vorsokratiker, Stuttgart
2008 (Kröner), hier: S. 273 - John Stuart Mill: Drei Essays über Religion,
Stuttgart 1999 (Reclam)