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Donnerstag, 29. Januar 2015

David Hume und die Strafe der ewigen Verdammnis

Seit seiner Entstehung ist das Verhältnis des Liberalismus zur Religion mit Sicherheit nicht ungebrochen. Die Auseinandersetzung fand zunächst auf kognitiver Ebene statt, d.h. es ging um die Frage, ob wir die von der Religion proklamierten Wahrheiten überhaupt erkennen können. Wenn man von der Prämisse ausgeht, dass menschliches Wissen prinzipiell beschränkt ist, dann muss man mit Friedrich von Hayek den Religionen vorwerfen, sie beruhen auf einer „Anmaßung von Wissen“.

Protagoras (490 - 420 v. Chr.)
Der von den Religionen erhobene Absolutheitsanspruch – „Wir sind die einzig wahre Religion!“ – wurde gleichwohl schon im Agnostizismus der Antike, vor allem durch den Sophisten Protagoras, vertreten: „Von den Göttern vermag ich nicht festzustellen, weder, dass es sie gibt, noch, dass es sie nicht gibt, noch, was für eine Gestalt sie haben, denn vieles hindert ein Wissen hierüber: die Dunkelheit der Sache und die Kürze des menschlichen Lebens“ (18 fr. 4).

Die Tatsache, dass jede Religion mit einer Soziallehre verbunden ist, die normative Aussagen über Gesellschaft, Politik, Recht und Wirtschaft trifft, führt zu einem weiteren Konfliktfeld. Im Kern geht es um die Trennung von Religion und Staat. So haben viele Vertreter des Liberalismus den religiös neutralen und säkularen Staat einschließlich der „Betonung des privaten Charakters der Glaubens“ verteidigt. Dabei war es nicht immer einfach, „den liberalen Säkularismus vom illiberalen Laizismus zu trennen“, denn „in seinen Extremformen konnte der illiberale Laizismus zum säkularen Tugendterror gegen Geistliche während der Jakobinerherrschaft der Französischen Revolution oder im 20. Jahrhundert zu den `atheistischen´ Regimes des Sowjetkommunismus oder der Errichtung `panarabischer´ Diktaturen in der islamischen Welt führen.“

Dass die naturrechtliche Lehre von der Unantastbarkeit der Person in ihren individuellen Rechten und ihrer Menschenwürde historisch aus den religiösen Vorstellungen des Christentums erwachsen ist – und gegen die Interessen der klerikalen Hierarchie durchgesetzt werden musste -, ist eine Tatsache. Ob daraus jedoch die Konsequenz folgt, dass diese religiösen Vorstellung auch heute noch „den Begründungskontext für eine freiheitliche Gesellschaft darstellen, darüber streiten sich die Gemüter.“

Eignen sich religiöse Vorstellungen noch als Begründungskontext
in einer freiheitlichen Gesellschaft?

David Hume jedenfalls hält die Religion für ungeeignet, „die Fundamente zu einer humanen Rechtsordnung zu legen und findet religiös-transzendentale Begründungen unrealistisch oder gar gefährlich.“ Hume richtet sich vor allem gegen das Argument der sozialen Nützlichkeit der Religion. John Stuart Mill wird später dieses Argument als nicht sehr schlagkräftig bezeichnen: „Die Nützlichkeit der Religion musst erst angeführt werden als die Argumente zugunsten ihrer Wahrheit in großem Umfang aufhörten zu überzeugen. Die Menschen müssen entweder zu glauben aufgehört haben oder aufgehört haben, dem Glauben anderer zu vertrauen, bevor sie sich auf dieses schwächere Argument der Verteidigung einlassen – ohne Bewusstsein, dass sie so erniedrigen, was sie zu erhöhen trachten. Das Argument der Nützlichkeit der Religion ist ein Appell an die Ungläubigen, um sie zur Praxis einer gutgemeinten Heuchelei zu bekehren“ (zit. nach Doering, 18).

David Hume (1711 - 1776)
Für Hume ist es vor allem die Strafe der ewigen Verdammnis, die ihm als vollkommen moralisch unangemessen für eine freiheitliche Gesellschaft erscheint.

Strafe und Bestrafung sind zwar in keiner Gesellschaftsordnung wegzudenken, aber Bestrafung „ohne Zweck und Absicht ist mit unseren Vorstellungen von Güte und Gerechtigkeit unvereinbar.“ Hume kritisiert vor allem die Unangemessenheit und Maßlosigkeit der religiösen Strafen: „Warum dann ewige Strafen für die zeitlichen Vergehen eines so schwachen Geschöpfes wie des Menschen? […] Himmel und Hölle setzen zwei verschiedene Arten von Menschen voraus, die guten und die bösen. Aber der größte Teil der Menschheit schwankt zwischen Laster und Tugend. Wenn jemand in der Absicht die Welt durchwandern wollte, den Rechtschaffenen eine gute Mahlzeit und den Bösen eine ordentliche Tracht Prügel zu geben, so würde ihm die Wahl häufig schwerfallen und er würde feststellen, dass Verdienst und Schuld der meisten Männer und Frauen kaum groß genug sind, um weder das eine noch das andere zu rechtfertigen.“

So ist es wenig nützlich für das Zusammenleben der Menschen, einen anderen als den menschlichen Maßstab von Billigung und Tadel vorauszusetzen, denn: „Woher, wenn nicht aus unseren eigenen Empfindungen lernen wir, dass es so etwas wie moralischen Entscheidungen gibt?“

Ewige Verdammnis für zeitliche Vergehen?

Hochmittelalterliche Darstellung der Hölle im Hortus-Deliciarum-
Manuskript der Herrad von Landsberg (um 1180)
So ist die „Hauptquelle moralischer Vorstellungen“ allein das Nachdenken über die individuellen Interessen und die Interessen der menschlichen Gemeinschaft. Eben diese beiden Interessen beruhen auf dem öffentlichen Vernunftgebrauch und haben es gar nicht nötig, durch ewige und unendliche Strafen geschützt zu werden: „Die Verdammnis eines einzigen Menschen ist ein unendlich größeres Übel in der Welt als der Umsturz von tausend Millionen von Königreichen.“

Man könnte es auch mit Voltaire halten, der gesagt hat: „Wir sind alle gemacht aus Schwächen und Fehlern; darum sei erstes Naturgesetz, dass wir uns wechselseitig unsere Dummheiten verzeihen.“

Zitate aus: Detmar Doering: Kleines Lesebuch über Freiheit und Religion, Argumente der Freiheit, Band 31, FNS Für die Freiheit, Berlin 2013. hier: S. 7-19; 24-30  -  Weitere Literatur: David Hume: Die Naturgeschichte der Religion. Über Aberglaube und Schwärmerei. Über die Unsterblichkeit der Seele. Über Selbstmord, Hamburg 1999 (Meiner)  -  Wilhelm Capelle: Die Vorsokratiker, Stuttgart 2008 (Kröner), hier: S. 273  -  John Stuart Mill: Drei Essays über Religion, Stuttgart 1999 (Reclam)

Donnerstag, 27. März 2014

John Stuart Mill und die Nützlichkeit

John Stuart Mill (1806 - 1873)
John Stuart Mill war einer der einflussreichsten und vielseitigsten Philosophen des 19. Jahrhunderts. Als engagierter Bürgerrechtler und Publizist im viktorianischen England setzte er sich u.a. für ein allgemeines Bildungs- und Erziehungssystem ein, das auf Freiheit, Individualität, eigenständigem Denken und Kritikfreudigkeit beruht. Weiter setzte er sich in seiner Schrift „Über die Freiheit“ für die Frauenemanzipation und das Frauenwahlrecht ein. Aber Mill machte sich auch als Wirtschaftstheoretiker und Historiker einen Namen.

Mill gilt als Mitbegründer mehrer bedeutender Richtungen in der modernen Philosophie. Als Positivist strebte er nch einem streng  wissenschaftlichen Weltbild und verlangte daher, dass alles menschliche wissen sich durch das den Sinnen unmittelbar Gegebene (eben das „Positive“) begründen lassen muss. Als einer der Väter des modernen Liberalismus sah er die Hauptaufgabe des Staates im Schutz der individuellen Freiheit. In der Geschichte der philosophischen Ethik gilt Mill neben Jeremy Bentham als Vertreter des klassischen Utilitarismus.

In seiner Schrift „Utilitarismus“ entwirft Mill nicht nur eine ethische Theorie, die die Aufgabe der Moral dahingehend beschreibt, das Glück der Gemeinschaft, d.h. das Allgemeinwohl zu befördern, sondern er beschäftigt sich auch mit den Einwänden, die gegen das Nützlichkeitsprinzip in der Ethik vorgebracht wurden (und z.T. auch noch werden).

Mill definiert zunächst das ethische Prinzip des Utilitarismus wie folgt: „Die Auffassung, für die die Nützlichkeit oder das Prinzip des größten Glücks die Grundlage der Moral ist, besagt, dass Handlungen insoweit und in dem Maße moralisch richtig sind, als sie die Tendenz haben, Glück zu befördern, und insoweit moralisch falsch, als sie die Tendenz haben, das Gegenteil von Glück zu bewirken. Unter `Glück´ ist dabei Lust (pleasure) und das Freisein von Unlust (pain), unter `Unglück´ Unlust und das Fehlen von Lust verstanden.“

Mill gibt zu, dass natürlich nun gesagt werden müsse, „was die Begriffe Lust und Unlust einschließen sollen“, gleichwohl änderten solche Erklärungen nichts an der Lebensauffassung, auf der die Theorie des Utilitarismus wesentlich beruht: „dass Lust und das Freisein von Unlust die einzigen Dinge sind, die als Endzwecke wünschenswert sind, und dass alle anderen wünschenswerten Dinge (die nach utilitaristischer Auffassung ebenso vielfältig sind wie nach jeder anderen) entweder deshalb wünschenswert sind, weil sie selbst lustvoll sind oder weil sie Mittel sind zur Beförderung von Lust und zur Vermeidung von Unlust.“

Mill ist sich bewusst, dass eine solche Lebensauffassung bei vielen Menschen – „darunter manchen, deren Fühlen und Trachten im höchsten Maße achtenswert ist“ – auf deutliche Kritik stößt. Der Gedanke also, dass das Leben „keinen höheren Zweck“ habe als die Lust oder „kein besseres und edleres Ziel des Wollens und Strebens“ erscheint manchem als „niedrig und gemein“, geradezu „als eine Ansicht, die nur der Schweine würdig wäre.“

Mit diesem Vorwurf habe sich auch schon Epikur – der Vertreter des antiken Hedonismus – auseinandersetzen müsse. Und schon dieser habe auf diese Vorwürfe stets geantwortet, dass nicht sie, sondern ihre Ankläger es sind, „die die menschliche Natur in entwürdigendem Lichte erscheinen lassen, da die Anklage ja unterstellt, dass Menschen keiner anderen Lust fähig sind als der, deren auch Schweine fähig sind.“



Natürlich sind den antiken Hedonisten bei der Ableitung von Konsequenzen aus dem utilitaristischen Prinzip Fehler unterlaufen – beispielsweise beim unbegrenzten positiven Hedonismus eines Aristippos. Daher müsse man am besten Kriterien der stoischen und christlichen Ethik mit in die Ableitung integrieren.

Grundsätzlich jedoch Mill verteidigt die Idee, dass die Menschen im Grundsatz höhere Fähigkeiten als bloß tierische Gelüste haben. Denn schließlich schreibe auch die epikureische Lebensauffassung „den Freuden des Verstandes, der Empfindung und Vorstellungskraft sowie des sittlichen Gefühles“ einen weit höheren Wert zu als denen der Sinnlichkeit.

Diese Höherwertigkeit der geistigen Freuden ist nicht nur in ihrer größeren Dauerhaftigkeit oder Verlässlichkeit erkennbar. „Die Anerkennung der Tatsache, dass einige Arten der Freude wünschenswerter und wertvoller sind als andere, ist mit dem Nützlichkeitsprinzip durchaus vereinbar. Es wäre unsinnig anzunehmen, dass der Wert einer Freude ausschließlich von der Quantität abhängen sollte, wo doch in der Wertbestimmung aller anderen Dinge neben der Quantität auch die Qualität Berücksichtigung findet.“

Glück – in der oben genannten Bedeutung von `pleasure´ – ist somit für Mill ein legitimes moralisches Gut, sowohl für jedes Individuum als auch für die Gemeinschaft: „Damit hat das Glück seinen Anspruch begründet, eines der Zwecke des Handelns und folglich eines der Kriterien der Moral zu sein.“

Die Gegner des Utilitarismus aber würden nun einwenden, dass es neben dem Glück auch noch weitere Zwecke des menschlichen Handelns gibt, etwa die Tugend oder das Freisein vom Laster.

Das hieße aber, so Mill, dass der Utilitarismus bestreiten würde, dass Menschen auch nach Tugend strebten oder dass er gar behaupten würde, dass Tugend nicht erstrebenswert sei. „Im Gegenteil. Er behauptet nicht nur, dass Tugend erstrebenswert ist, sondern dass sie uneigennützig, um ihrer selbst willen erstrebt werden sollte.“
 
Die Tugend
So setzten die Utilitaristen die Tugend nicht nur „an die Spitze der Dinge, die als Mittel zu jenem letzten Zweck gut sind“, sondern  sie „erkennen es auch als eine psychologische Tatsache an, dass sie für den Einzelnen ein an sich selbst und ohne äußeren Zweck wertvolles Gut werden kann.“ Weiter würden die Utilitaristen behaupten, „dass sich das menschliche Bewusstsein nicht im richtigen – dem Nützlichkeitsprinzip gemäßen, dem allgemeinen Glück am förderlichsten – Zustand befindet, wenn es die Tugend nicht in dieser Weise liebt – als etwas, das um seiner selbst willen erstrebenswert ist.“

Mill wehrt sich somit dagegen, Tugend und die Suche nach dem Glück gegeneinander auszuspielen, wie es die Kritiker des Utilitarismus tun würden. Der Grund dafür ist einfach: „Die Bestandteile des Glücks sind sehr verschiedenartig und jeder einzelne Bestandteil ist um seiner selbst willen erstrebenswert und nicht nur insofern, als sich die Gesamtsumme durch ihn erhöht (…) Sie sind nicht nur Mittel zum Zweck, sie sind auch Teile des Zwecks.“

So ist die Tugend nach utilitaristischer Auffassung nicht ursprünglich und von Natur aus Teil des Zwecks, aber sie kann dazu werden; „und bei denen, die die Tugend ohne eigennützige Motive lieben, ist sie dazu geworden und wird von ihnen nicht als Mittel zum Glück, sondern als Teil des Glücks erstrebt und geschätzt.“

Zitate aus: John Stuart Mill: Utilitarismus, in: Otfried Höffe: Einführung in die utilitaristische Ethik, München 1975 (C.H.Beck), S. 60ff

Donnerstag, 7. November 2013

Nicolás Maduro und das Ministerium für Glückseligkeit

Nicht erst seit Karl Raimund Popper weiß man, dass die Verbindung von Politik und Romantik fatale Folgen hat für das Leben in einer staatlichen Gemeinschaft. Anstatt auf die Vernunft setzt man eine verzweifelte Hoffnung auf politische Wunder. Diese irrationale Einstellung – Popper nennt sie „Romantizismus“  –, „die sich an Träumen von einer schönen Welt berauscht … mag einen himmlischen Staat in der Vergangenheit oder in der Zukunft suchen, aber sie wendet sich immer an unsere Gefühle, niemals an unsere Vernunft.“

Maduro sucht das Glück
Am 24. Oktober 2013 kündigte der venezolanische Präsident, Nicolas Maduro die Gründung eines „Vizeministeriums zur obersten sozialen Glückseligkeit des venezolanischen Volkes“ (span. Viceministerio para la Suprema Felicidad Social del Pueblo venezolano) angekündigt, das sich mit “direkten Eingriffen” um das Glück der Untertanen kümmern soll.

Im 5. Buch seines Werkes „Der Wohlstand der Nationen“ beschrieb Adam Smith noch wie selbstverständlich die drei klassischen Aufgaben des Staates: Landesverteidigung, Justizwesen und Öffentliche Anlagen bzw. Einrichtungen.

Das „Erreichen der Glückseligkeit“ ist sicherlich für jeden Menschen eine individuelle Herausforderung im Leben. Ob man sich allerdings wirklich wünschen soll, dass die Politiker sich direkt darum kümmern mögen, die Glückseligkeit der Bürger zu erreichen – statt über die Schaffung guter Rahmenbedingungen, innerhalb derer jeder Einzelne auf seine ganz individuelle Weise sein Glück – und nicht das Glück – finden kann –, ist zu bezweifeln.

Für Jakob Burckhardt ist die Hauptaufgabe des Staates der Interessenausgleich. Daher sei es „eine Ausartung und philosophisch-bürokratische Überhebung, wenn der Staat direkt das Sittliche verwirklichen will“ – und dazu gehört ja die Vorstellung vom vollkommenen Glück.

In Venezuela dagegen soll das neue Glücksministerium nun die 30 verschiedenen Sozialprogramme der Regierung koordinieren und verwalten. Dazu gehören Sanitätsstationen, Schulen und Geschäfte mit subventionierten Lebensmitteln in den Armenvierteln. "Missionen" werden diese Niederlassungen genannt, ein System, das der verstorbene Präsident Hugo Chávez hatte diese System nach kubanischem Vorbild eingeführt hatte.

Chávez hatte es während seiner Amtszeit immer hervorragend verstanden, den Grundwiderspruch des Landes zu verschleiern: Einerseits sitzt Venezuela auf Unmengen von Erdöl und verdient damit Milliarden Dollar. Andererseits wuchern die Slums.

Maduro - ein neuer Messias für die Glückseligkeit

Viele Venezolaner sind daher auch eher unglücklich. Die Inflation liegt bei knapp 50 Prozent. Mancherorts sind auch Maismehl und Milchpulver knapp. Klopapier fehlt schon seit Wochen. Immer mal wieder fällt der Strom aus, und die Mordrate ist katastrophal hoch.

Venezuela funktioniert also unter Maduro noch schlechter als zuvor. Um seine eigene Unfähigkeit zu kaschieren, hat Maduro jetzt angekündigt, den Tag der Kommunalwahlen am 8. Dezember zum "Tag der Treue und Liebe zu Chávez" zu küren.

Natürlich ist gegen eine Politik, die versucht, die Lebensumstände der Menschen zu verbessern, überhaupt nichts einzuwenden. Hier aber liegt der Verdacht nahe, die Menschen vorrangig mit politischen Mitteln glücklich zu machen.

Auch Ludwig von Mises betont, dass alles, was über die eigentlichen Aufgaben des Staates – das sind der Schutz des Lebens und der Gesundheit, der Freiheit und des Privateigentums – hinausgeht, von Übel ist: „Eine Regierung, die, statt ihre Aufgabe zu erfüllen, darauf ausgehen wollte, selbst das Leben und die Gesundheit, die Freiheit und das Eigentum anzutasten, wäre natürlich ganz schlecht.“

Überhaupt nichts hält von Mises vom „abstrusen Mystizismus“ einer Staatsvergottung und Staatsanbetung: Weder ist der der Staat „das unmittelbare und sichtbare Bild des absoluten Lebens, eine Stufe der Offenbarung des Absoluten, der Weltseele“ – so Schelling, noch „offenbart sich in dem Staate die absolute Vernunft, realisiert sich in ihm der objektive Geist“ – so Hegel.

Sobald man, so von Mises weiter, den Grundsatz der Nichteinmischung des Staatsapparates in allen Fragen der Lebenshaltung des einzelnen aufgegeben hat, wird man automatisch dazu gelangen, das Leben bis ins Kleinste zu regeln und zu beschränken. „Die persönliche Freiheit des einzelnen wird aufgehoben, er wird zum Sklaven des Gemeinwesens, zum Knecht der Mehrheit. Man braucht sich gar nicht auszumalen, wie solche Befugnisse von böswilligen Machthabern mißbraucht werden könnten. Schon die vom besten Willen erfüllte Handhabung derartiger Befugnisse müsste die Welt in einen Friedhof des Geistes verwandeln.“


Das Glück liegt auf der Straße !? - Slum in Caracas

Seine absolute Grenze findet die staatliche Macht jedoch in der individuellen Suche nach Sinn und Glück. Kaum jemand hat diesen Gedanken besser formuliert als John Stuart Mill: „Man kann jemanden gerechterweise nicht zwingen, bestimmte Dinge zu tun oder zu unterlassen, weil es für ihn selbst so besser sei, weil es ihn glücklicher machen würde, oder weil es nach der Meinung anderer weise oder gerecht wäre, wenn er so handelte. Dies sind gute Gründe, um jemandem Vorstellungen zu machen oder mit ihm zu debattieren, ihn zu überzeugen oder in ihn zu dringen; aber es sind keine Motive, um ihn zu zwingen oder Strafen über ihn zu verhängen, falls er anders handelt. Um das zu rechtfertigen, muss das Handeln, von dem man jemand abbringen will, für einen anderen einen Schaden bedeuten.“

Es ist daher die Pflicht eines jeden autonomen Subjekts, sich „gegen die Bevormundung der herrschenden Meinung und des herrschenden Gefühls“ zu wehren. „Man muss sich schützen gegen die Absicht der Gesellschaft, durch andere Mittel als bürgerliche Strafen ihr eigenes Denken und Tun als Regel auch solchen aufzuerlegen, die davon abweichen. Man muss sich hüten vor der Neigung der Gesellschaft, die Entwicklung zu hemmen und, wenn möglich, die Bildung jeder Individualität zu hindern, die mit den Wegen der Allgemeinheit nicht übereinstimmt, und alle Charaktere zu zwingen, sich nach ihrem eignen Muster zu richten.“

Das Venezuela Maduros jedenfalls nimmt mit der Einrichtung eines Ministeriums für Glückseligkeit geradezu orwellsche Züge an. Auch hier gibt es ein „Ministerium für Überfluss“, dass eben nicht den Überfluss, sondern den Mangel verwaltet. Wer wollte da nicht Parallelen ziehen zum „Toilettenpapierüberfluss“ in Venezuela …

Es bleibt dabei, was Popper schon vor über einem halben Jahrhundert eindringlich formulierte: „Sogar mit der besten Absicht, den Himmel auf der Erde einzurichten, vermag man diese Welt nur in eine Hölle zu verwandeln – eine jener Höllen, die Menschen für ihre Mitmenschen bereiten.“




Das "Ministerium für alberne Gänge" (“Ministry of Silly Walks”) von Monty Python scheint im Vergeich zum Glücksministerium geradezu sinnhaft und in jedem Fall weniger gefährlich ....

Nachtrag vom 10.11.2013: 
Wie Nicolas Maduro die "Glückseligkeit" in Venezuela auf politischem Wege erreichen will, hat er nun mit aller Deutlichkeit demonstriert: Nachdem er angeordnet hatte, die Geschäftsführung und etwa 500 Mitarbeiter der Ladenkette Daka (Haushaltsgeräte) zu verhaften, befahl er dem Militär, die Geschäfte zu besetzen und umgehend mit dem Verkauft sämtlicher Artikel zu beginnen - zu einem gerechten Preis, wie er sagte. 
Billig einkaufen (Foto: EFE)
Die Nachricht verbreitete sich wie ein Lauffeuer. Der "Verkauf" allerdings lief dann - dafür braucht man kein Prophet sein - auf eine Art und Weise ab, die eigentlich nur den Namen "Plünderung" verdient: Zerbrochene Fensterscheiben und schlichter Diebstahl - darin besteht das "Glück" in Venezuela ... - außer natürlich für die in Haft einsitzenden Unternehmer und ihre Mitarbeiter!


  
Zitate aus: Zitate aus: Jacob Burckhardt: Weltgeschichtliche Betrachtungen, Wiesbaden 2009 (Marixverlag)  -  J. S. Mill, Über die Freiheit, Köln 2009 (Anaconda)  -  Ludwig von Mises: Liberalismus. Jena 1927 (online unter: http://docs.mises.de/Mises/Mises_Liberalismus.pdf

Donnerstag, 12. September 2013

John Stuart Mill und die Freiheit des Einzelnen

John Stuart Mill war einer der einflussreichsten Philosophen des 19. Jahrhunderts. In der Ethik war Mill Utilitarist. Als politischer Philosoph begründete er den modernen Liberalismus, der die Hauptaufgabe des Staates darin sah, die individuelle Freiheit zu schützen und zu verteidigen.

John Stuart Mill  (1806 - 1873)
John Stuart Mill studierte bereits in ganz jungen Jahren unter Anleitung seines Vaters klassisches Griechisch und Latein, Mathematik, Geschichte und später auch Nationalökonomie, Naturwissenschaften und Rechtswissenschaft. Mill war kein akademischer Philosoph, sondern eher ein produktiver politischer und wissenschaftlicher Publizist, der sich lange Zeit seinen Lebensunterhalt als Angestellter der Ostindischen Kompanie verdiente. Für kurze Zeit gehörte er als Abgeordneter auch dem Unterhaus an.

In seinem berühmten Essay „Über die Freiheit“ behandelt Mill gleich im ersten Kapitel das Verhältnis von staatlicher Macht und individueller Freiheit: „Der Gegenstand dieser Untersuchung ist nicht die sogenannte `Willensfreiheit´…, sondern es handelt es sich um die bürgerliche oder soziale Freiheit. Wir untersuchen die Natur und die Grenzen der Macht, die gesetzmäßig von der Gesellschaft über das Individuum ausgeübt werden darf“ (9).

Schon in der Antike verstand man unter Freiheit den Schutz gegen die Tyrannei der politischen Herrscher. Dabei ging es vorrangig darum, „der Gewalt, die der Herrscher über seine Untertanen ausüben durfte, Grenzen zu setzen, und diese Begrenzung nannte man `Freiheit´.“ Aber auch die antiken Staaten glaubten sich berechtigt – unterstützt von Philosophen wie Platon –, durch öffentliche Autorität jedes Gebiet des Privatlebens deshalb zu regeln, weil der Staat ein tief greifendes Interesse an der ganzen körperlichen und geistigen Disziplin jedes Einzelnen hatte.

Für Mill jedoch reicht es nicht, sich nur gegen die Tyrannei der Machthaber zu schützen, denn es besteht – abgesehen von den besonderen Leistungen einzelner Denker wie John Locke – "in der Welt schon immer eine zunehmende Neigung, die Macht der Gesellschaft über das einzelne Individuum ungebührlich zu vermehren durch den Einfluss der Meinung, wie durch den der Gesetzgebung“ (28).


John Locke - Für das Grundrecht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit

So müsse man sich zunächst wehren „gegen die Bevormundung der herrschenden Meinung und des herrschenden Gefühls. Man muss sich schützen gegen die Absicht der Gesellschaft, durch andere Mittel als bürgerliche Strafen ihr eigenes Denken und Tun als Regel auch solchen aufzuerlegen, die davon abweichen. Man muss sich hüten vor der Neigung der Gesellschaft, die Entwicklung zu hemmen und, wenn möglich, die Bildung jeder Individualität zu hindern, die mit den Wegen der Allgemeinheit nicht übereinstimmt, und alle Charaktere zu zwingen, sich nach ihrem eignen Muster zu richten. 

Es gibt eine Grenze für das berechtigte Eingreifen der allgemeinen Meinung in die persönliche Unabhängigkeit, und diese Grenze zu finden und sie gegen Übergriffe zu schützen, ist für eine gute Sicherung des menschlichen Lebens ebenso unentbehrlich, wie der Schutz gegen politischen Despotismus (14f).“ Diese Worte enthalten ein klares Plädoyer für ein an der Ausbildung von Kritikfähigkeit ausgerichtetes Bildungs- und Erziehungssystem.

Die Garantie individueller Unabhängigkeit und Freiheit angesichts der Beeinflussungs- und Kontrolltendenzen der Gesellschaft führt Mill nun direkt zu dem Zweck seiner Überlegungen, d.h. dem Grundsatz, nach dem der Staat in die Angelegenheiten des Einzelnen eingreifen darf: „Dieser Grundsatz lautet: das einzige Ziel, um dessentwillen es der Menschheit gestattet ist, einzeln oder vereint, die Freiheit eines ihrer Mitglieder zu beschränken, ist Selbstschutz. Und der einzige Zweck, um dessentwillen man mit Recht gegen ein Glied einer gebildeten Gesellschaft Gewalt gebrauchen darf, ist: Schaden für andere zu verhüten“ (21).

On Liberty (4. Aufl.)
Seine Grenze findet die staatliche Macht jedoch in der individuellen Suche nach Sinn und Glück: „Man kann jemanden gerechterweise nicht zwingen, bestimmte Dinge zu tun oder zu unterlassen, weil es für ihn selbst so besser sei, weil es ihn glücklicher machen würde, oder weil es nach der Meinung anderer weise oder gerecht wäre, wenn er so handelte. Dies sind gute Gründe, um jemandem Vorstellungen zu machen oder mit ihm zu debattieren, ihn zu überzeugen oder in ihn zu dringen; aber es sind keine Motive, um ihn zu zwingen oder Strafen über ihn zu verhängen, falls er anders handelt. Um das zu rechtfertigen, muss das Handeln, von dem man jemand abbringen will, für einen anderen einen Schaden bedeuten“ (21f).

So sei nach Mill jeder nur für den Teil seiner Handlungen der Gesellschaft gegenüber verantwortlich, der andere betrifft. Alle Bereiche seines Lebens, die nur ihn selbst angehen, „ist seine Unabhängigkeit absolut. Der Mensch ist Alleinherrscher über sich selbst, über seinen Körper und seinen Geist“ (ebd.).

Aus diesen Überlegungen leitet Mill nun direkt die verschiedenen Freiheitsrechte des Individuums ab: „Dies ist also der eigentliche Bereich der menschlichen Freiheit. Er betrifft zunächst die Domäne des Gewissens und er fordert die Gewissensfreiheit im umfassendsten Sinn: Freiheit des Denkens und Fühlens, absolute Freiheit der Meinung und des Urteils, in allen Dingen, praktischen wie theoretischen, wissenschaftlichen, moralischen wie theologischen.

Die Freiheit, seine Meinung auszusprechen und zu veröffentlichen, scheint unter ein anderes Prinzip zu gehören, denn sie fällt unter das Gebiet der menschlichen Betätigungen, das sich an andere Menschen wendet. Aber sie ist doch ebenso wichtig, wie die Freiheit des Denkens selbst und beruht zum großen Teil auf denselben Prinzipien (...).

Sodann erfordert unser Prinzip Freiheit des Geschmacks und der Betätigung, die Freiheit, den Plan unseres Lebens so zu entwerfen, wie es unserem Charakter angemessen ist, zu tun, was wir wollen und die Folgen unseres Handelns zu tragen; ungehindert von unseren Mitmenschen, solange wie ihnen kein Leid zufügen, - ungehindert auch dann, wenn jene unser Handeln unmoralisch, verkehrt oder ungerecht finden sollten.

Schließlich folgt aus der Freiheit jedes Einzelnen innerhalb derselben Grenzen die Freiheit des Zusammenschlusses der Einzelnen, sofern er anderen kein Leid zufügt. Wobei allerdings die Voraussetzung ist, dass die Personen, die sich zusammenschließen, volljährig sind und weder gezwungen, noch getäuscht werden“ (25).

Zitate aus: J. S. Mill, Über die Freiheit, Köln 2009 (Anaconda)


Sonntag, 15. April 2012

Isaiah Berlin über John Stuart Mill

Am 2. Dezember 1959 hält Isaiah Berlin im Rahmen der „Robert Waley Cohen Memorial Lecture“ in der Londoner County Hall einen Vortrag mit dem Titel „John Stuart Mill und die Ziele des Lebens.“ In seiner Rede huldigt Berlin Mill als den bedeutendsten Verfechter der bürgerlichen Freiheiten und des modernen Liberalismus.

Isaiah Berlin

Ähnlich wie sein Lehrer Jeremy Bentham wandte sich auch Mill gegen jede Form des Dogmatismus und Obskurantismus, gegen alles, was sich der Vernunft, der Analyse, der empirischen Wissenschaft in den Weg stellte. Auch Mill verkündete, das Glück sei das einzige Ziel menschlichen Daseins, aber bald wich er vom Utilitarismus Benthams ab, denn „den größten Wert maß er nicht der Rationalität oder der Zufriedenheit bei, sondern der Vielfalt, der Beweglichkeit, der Fülle des Lebens – dem unerklärlichen Sprung des individuellen Genies, der Spontaneität und Einzigartigkeit eines Menschen, einer Gruppe, einer Zivilisation“ (261).

Für Mill unterscheidet sich der Mensch von den Tieren in erster Linie nicht durch seine Vernunft, sondern dadurch, dass er wählen und sich entscheiden kann und dass er erst dann ganz er selbst ist, wenn er sich entscheidet und nicht den Entscheidungen anderer unterliegt. So sucht und bestimmt jeder Mensch seine Ziele und nicht nur die Mittel, - Ziele, die jeder Mensch auf seine Weise verfolgt, und dies bedeutet: Je vielfältiger diese Weisen, desto reicher das Leben.

Mill vertritt einen Individualismus, der auf Unabhängigkeit und der abweichenden Meinung beruht, der durch jene einsamen Denker verkörpert wird, die dem Establishment trotzen.

Nicht nur in der Erziehung, auch sonst verabscheute Mill jede Standardisierung. So kann er beobachten, dass selbst im Namen von Philanthropie, Demokratie und Gleichheit die Ziele der Menschen künstlich beschränkt und geschmälert werden, dass die Mehrheit der Menschen in eine Herde von „fleißigen Schafen“ verwandelt wurde, dass das „kollektive Mittelmaß“ alle Originalität und individuelle Begabung nach und nach erstickt.

John Stuart Mill
So erkennt Mill schließlich in der individuellen Freiheit die entscheidende Grundlage jeder gesellschaftlichen Ordnung. Er glaubt an die Freiheit, „weil er überzeugt ist, dass Menschen sich nicht entwickeln, dass sie nicht gedeihen und zu wirklichen Menschen werden können, wenn man ihnen nicht einen Freiraum garantiert, in dem sie von der Einmischung anderer unbehelligt bleiben, einen Raum, den er für unverletzlich hält oder dazu machen will“ (276f). 

Freiheit wird so zu einem Zustand, „in dem die Menschen nicht daran gehindert werden, den Gegenstand ihrer Verehrung und die Art, wie sie ihn verehren, selbst zu wählen“ (293). Erst wenn dieser Zustand erreicht sei, dürfe sich eine Gesellschaft als wirklich frei bezeichnen.

Entsprechend dem Worte Kants „Aus so krummen Holz, als woraus der Mensch gemacht ist, kann nicht ganz Gerades gezimmert werden“ sah auch Mill, dass es Unterschiede zwischen den Menschen gab, dass sie die Fähigkeit haben, zu wählen und sich zu entscheiden – für das Gute ebenso wie für das Schlechte. So gehören Fehlbarkeit und das Recht auf Irrtum ebenso zur Freiheit wie Dogmatismus und endgültige Wahrheiten ihre Feinde sind.

So war Mill in ständiger Sorge, „Vielfalt zu erhalten, dem Wandel die Türen offenzuhalten, den Gefahren des gesellschaftlichen Drucks zu widerstehen“ (280).

In seinem berühmten Traktat „Über die Freiheit“ (1859) fasst Mill seine Freiheitsidee mit folgenden Worten zusammen: „Die Menschen gewinnen mehr dadurch, dass sie einander gestatten, so zu leben, wie es ihnen richtig erscheint, als wenn sie jeden zwingen, nach dem Belieben der übrigen zu leben“ – eine Binsenweisheit zwar, aber eine, die bis heute immer wieder neu gegen Konformismus und Intoleranz erkämpft werden muss.

Zitate aus: Isaiah Berlin: Freiheit. Vier Versuche, Frankfurt am Main 2006 (fischer)

Weitere Literatur: John Stuart Mill, Über die Freiheit, Köln 2009 (Anaconda)

Donnerstag, 22. Dezember 2011

John Stuart Mill und die Erziehung


J.S. Mill (Foto aus dem Jahre 1865)
In der berühmten Schrift "Über die Freiheit" (1859) von John Stuart Mill findet sich auch folgendes Zitat aus dem Werk "Ideen zu einem Versuch, die Grenzen der Wirksamkeit des Staates zu bestimmen" (1792) von Wilhelm von Humboldt :

„Der wahre Zweck des Menschen, (…) ist die stetige und harmonische Entwicklung seiner Kräfte zu einem vollkommenen Ganzen. Darum ist ‚das Ziel, wonach jeder Mensch unaufhörlich und mit aller Kraft streben muss (…): Individualität der Kraft und Bildung.’

Dazu aber bedarf es nach Humboldts Ansicht zweier Bedingungen: es erfordert ‚Freiheit’ und ‚Mannifaltigkeit der Situationen’, und daraus entstehen ‚individuelle Kraft’ und ‚mannigfaltige Verschiedenheit’, die sich zu ‚Originalität’ vereinigen“ (94).

Vor dem Hintergrund dieser Gedanken entwirft John Stuart Mill die Idee einer auf Freiheit und Individualität gegründeten Erziehung.

Es ist die Überzeugung Mills, dass der Mensch nur dann ganz Mensch wird, wenn er seine persönliche Natur und Individualität entwickelt und kultiviert.

Mill wendet sich damit grundsätzlich gegen alle gesellschaftlichen Tendenzen, die individuellen Züge des Menschen in Gleichförmigkeit aufgehen zu lassen und die Entwicklungsmöglichkeiten des Einzelnen zu behindern.

Der Mensch sei eben keine Maschine, die - nach einem bestimmten Modell gebaut - eine genau vorgeschriebene Arbeit zu verrichten habe. „Sie gleicht vielmehr einem Baum, der wachsen und sich nach allen Seiten ausbreiten möchte, gemäß der Tendenz seiner inneren Kräfte, die ihn zu einem Lebewesen machen“ (97).

Im Hinblick auf die Erziehung kommt dem Staat natürlich eine entscheidende Bedeutung zu. Er kann und soll ein gewisses Maß an Erziehung verlangen und – wenn nötig - auch erzwingen. Dieser Zwang beschränkt sich allerdings lediglich auf die Erfüllung der Schulpflicht, die in England durch William Edward Forsters Elementary Education Act 1870, eingeführt wurde – also 3 Jahre vor dem Tod Mills.

William Edward Forster im Gespräch mit Schulkindern


Die Eltern sind demnach verpflichtet, ihren Kindern eine geistige und körperliche Grundausbildung zu ermöglichen, eine Weigerung gleiche einem „moralischen Verbrechen“ (171).

Voraussetzung für eine Erziehung unter staatlicher Aufsicht ist natürlich, dass ein Land qualifizierte, d.h. ausgebildete Lehrer habe, die eine Erziehung nach dem Prinzip der Freiheit anleiten können und die dafür auch angemessen vergütet würden.

Eine Gefahr sieht Mill jedoch in dem Versuch des Staates, auch die Inhalte und Werte in der Erziehung zu bestimmen und festsetzen zu wollen. Solch eine Erziehung diene nur dem Ziel, "alle Menschen einander anzugleichen“ je nach Geschmack der jeweiligen Regierung „sei dies ein Monarch, die Priesterschaft, eine Aristokratie oder die Mayorität“ (172).

Hier sieht Mill einen „Despotismus über die Geister“ am Werk, der „naturgemäß auch zu einer Tyrannei des Handelns führt“ (172).

Alle Versuche des Staates, das Denken seiner Bürger in bestimmte Bahnen zu zwingen, sind daher von Übel (siehe dazu unten einen aktuellen Nachtrag). Vielmehr habe der Staat lediglich darauf zu achten, dass jeder Mensch ausreichende Kenntnisse besitzt, um einen gegebenen Gegenstand auch kritisch reflektieren zu können:

„Für einen Schüler der Philosophie wäre es z.B. heilsam, wenn er eine Prüfung über die Systeme von Locke und Kant bestanden hätte – auch wenn er keinem von beiden zustimmen könnte. Es gibt auch keinen vernünftigen Grund, weshalb ein Atheist sich nicht über seine Kenntnisse in der christlichen Dogmatik auswiesen sollte. Nur darf man nicht verlangen, dass er sich auch zu diesen Glaubenssätzen bekenne“ (174).

Die einfachste Möglichkeit, der Gefahr staatlicher Beeinflussung aus dem Wege zu gehen, wären jährlich stattfindende Examen, die allein die Aufgabe hätten, Kenntnisse und Fähigkeiten, Tatsachen und positives Wissen, Mathematik und Sprachen zu überprüfen.

In der Prüfung sollte man strittige religiöse oder politische Themen keinesfalls vermeiden, nur sollte man sich „nicht einlassen auf die Frage nach der Wahrheit und Falschheit bestimmter Ansichten“ (174), sondern deutlich machen, wer diese oder jene Meinung aus diesen oder jenen Gründen vertritt.

Mills Gedanken sind also ein leidenschaftliches Plädoyer für eine Erziehung, die auf Freiheit, Individualität und eigenständigem Denken und Kritikfreudigkeit beruht. Diese Werte haben ihre Gültigkeit in der Pädagogik bis heute nicht verloren.

Nachtrag vom 17.09.2013: 

"Alle Versuche des Staates, das Denken seiner Bürger in bestimmte Bahnen zu zwingen, sind daher von Übel." Dazu passt das aktuelle Beispiel aus Katalonien, die Region im Norden Spaniens, die sich in der Vergangenheit nicht eben durch den Schutz individueller Freiheitsrechte verdient gemacht hat (s. die Einträge vom 18. Juli 2013, 20. Dezember 2012, 20. Juni 2013): 

Einen Tag, nachdem der staatliche katalanische Fernsehsender TV3 12 Stunden reiner Sendezeit der Menschenkette für die Unabhängigkeit Kataloniens (11. September 2013) widmete, sendete TV3 in seinem Kindersender Super3 eine Reportage über eine katalanische Familie, die an der Menschenkette teilnahm. Hauptdarstellerin ist Berta, ein 9jähriges Mädchen, das gemeinsam mit ihren Eltern und den zwei Brüdern für die Unabhängigkeit Kataloniens auf die Straße geht. Mehrere andere Kinder kommen ebenfalls zu Wort. Sergi (14 Jahre) bekräftigt: "Wir kommen hierher um eine Menschenkette für die Unabhängigkeit zu bilden. Um zu fordern, dass sie (gemeint ist die spanische Regierung) uns unabhängig werden lassen." Estel (13 Jahre) erzählt: Ich bin gekommen, um für die Unabhängigkeit zu kämpfen, hier in Katalonien. Wir Katalanen wollen letztlich, dass Spanien sich zurückzieht und uns unabhängig werden lässt." Anna (12 Jahre) behauptet: "1714 hörten wir Katalanen auf, unabhängig zu sein."

Der Nationalismus der katalanischen Regierung ist also ein "gutes" aktuelles Beispiel für den staatlichen Despotismus, der nicht vor der Indoktrination von Kindern und ihrem Missbrauch für politische Zwecke zurückschreckt. Mill hat diesen Missbrauch der Erziehung vor über 150 Jahren eindeutig entlarvt.

Zitate aus: J. S. Mill, Über die Freiheit, Köln 2009 (Anaconda)
Weitere Literatur: Wilhelm Humboldt: Ideen zu einem Versuch, die Grenzen der Wirksamkeit des Staats zu bestimmen, Stuttgart 1986 (Reclam)

Samstag, 29. Oktober 2011

John Stuart Mill und die Kritikfreudigkeit

John Stuart Mill widmet sich in seinem berühmten Essay Über die Freiheit (1859) der Frage, warum innerhalb der Menschheit die vernünftigen Meinungen und Handlungen überwiegen.

Aus heutiger Sicht muss uns dieser Optimismus verblüffen. Für Mill dagegen steht fest, dass der menschliche Geist die Eigenschaft zur Fehlerverbesserung besitzt. Aus dieser Eigenschaft ergibt sich nach Mill zugleich die Verpflichtung zu aufrichtiger Kritikfähigkeit.

"Die Menschen sind ja imstande, ihre Fehler gut zu machen durch Diskussion und durch Erfahrung. Nicht durch Erfahrung allein, vielmehr müssen sie sich untereinander besprechen, um gewiss zu werden, wie die Erfahrung zu deuten sei. Irrige Meinungen und Gewohnheiten weichen allmählich der Macht der Tatsachen und der Gründe, aber beide müssen, damit sie irgendwelchen Eindruck auf den Geist machen, ihm bewusst werden. (...)

Die ganze Kraft und der Wert des menschlichen Urteils beruht also auf der einen Eigenheit, dass der Mensch, wenn im Irrtum, zurecht gewiesen werden kann, darum kann dem menschlichen Urteil nur so lange Vertrauen geschenkt werden, als die Mittel der Zurechtweisung stets bereit gehalten werden." (37)

Die Worte von Mill enthalten einige Gedanken von großer Bedeutung:

Es sind zunächst eigene, häufig negative Erfahrungen, die uns unsere Fehler schmerzhaft bewusst werden lassen. Gleichwohl eröffnen uns eben diese Erfahrungen die Chance, die begangenen Fehler nicht zu wiederholen.

Das allein aber reicht nach Mill nicht. Wahre Kritikfähigkeit zeigt sich erst im Gespräch, in der Diskussion mit anderen Menschen. Dabei geht es nicht nur um eine kritische Deutung der eigenen Erfahrung, sondern letztlich um bewusste Suche und Korrektur unserer Irrtümer auf der Grundlage evidenter Fakten und vernunftgestützer Argumentation.

Sowohl die kritische Deutung unserer Erfahrungen als auch die daraus resultierende Verpflichtung zur Fehlerverbesserung stellen hohe Anforderungen an unsere Kritikfähigkeit. Im Zweifelsfall müssen wir selbst gewährleisten, dass die "Mittel der Zurechtweisung" zur Verfügung stehen. Kritikfähigkeit wird so zur Kritikfreudigkeit.

Der Lohn für solch eine Geisteshaltung ist klar: Klare Urteilskraft und vor allem Wahrhaftigkeit und Vertrauenswürdigkeit sind die Früchte der Kritikfreudigkeit:

"Worauf beruht es, dass das Urteil eines Menschen wahrhaft vertrauenswürdig erscheint? Es kommt daher, dass er seinen Geist für die Kritik an seiner Meinung und an seinem Handeln offen gehalten hat, daher, dass er sich gewöhnt hat, auf alles zu hören, was gegen ihn vorgebracht werden konnte. Er hat sich das, was an dieser Kritik richtig war, zunutze gemacht, und er hat sich und gelegentlich auch anderen zum Bewusstsein gebracht, was an seinem Urteil etwa fehlerhaft war. Er hat gewusst, dass der einzige Weg, auf dem ein Mensch dazu kommt, einen Gegenstand ganz genau zu kennen, der ist, dass er über diesen Gegenstand die Meinungen der verschiedensten Menschen höre und alle Gesichtspunkte studiere, unter denen die Sache von den verschiedensten Charakteren betrachtet werden kann." (37f)

Die Forderung Mills lassen sich auf nahezu alle gesellschaftlichen Bereiche beziehen, auf die politischen Auseinandersetzung wie auf persönliche Beziehungen, auf Forschung und Wissenschaft ebenso wie auf Lehre und Erziehung.

"Kein Weiser hat seine Weisheit jemals auf anderem als auf diesem Wege gewonnen, es liegt nicht in der Natur des menschlichen Geistes, auf andere Art klug zu werden." (37f)

Das Gegenteil von Kritikfreudigkeit ist Dogmatismus. Und so verbirgt sich hinter den zitierten Zeilen - wie im gesamten Werk Über die Freiheit - ein leidenschaftliches Plädoyer für die Freiheit des Individuums, seine Freiheit des Denkens und der Meinung:

"Wenn die ganze Menschheit eine übereinstimmende Meinung verträte, und nur eine Person wäre vom Gegenteil überzeugt, so hätte die Menschheit nicht mehr Recht, den Einen zum Schweigen zu bringen, als er, wenn ihm die Macht dazu zustände, das Recht hätte, der ganzen Menschheit den Mund zu verbieten. (...)

Aber das eigentliche Übel, wenn man eine Meinung zum Schweigen bringt, besteht darin, dass es ein Raub an der Menschheit ist, an der künftigen und an der, die jetzt lebt, und zwar noch mehr an den Menschen, die von der Meinung abweichen, als an denen, die sich zu ihr bekennen.

Wenn jemand einer Meinung das Gehör verweigert, weil er überzeugt ist, dass sie falsch sei, so setzt er voraus, dass seine Überzeugung gleichbedeutend mit absoluter Sicherheit sei. Eine Diskussion zum Schweigen zu bringen bedeutet immer: sich Unfehlbarkeit anmaßen.“ (32f)

Alle Zitate aus: J. S. Mill, Über die Freiheit, Köln 2009 (Anaconda)