In ihrem Hauptwerk „Elemente und Ursprünge totaler
Herrschaft“ (1955 auf Deutsch erschienen) rekonstruiert Hannah Arendt die
Entwicklung des Antisemitismus im 18. und 19. Jahrhundert sowie das Aufkommen
des Rassismus und des Imperialismus im 19. und frühen 20. Jahrhundert. Aber das
Buch enthält nicht nur reine Geschichtsschreibung. Vielmehr entwirft auch eine
umfassende Theorie des Totalitarismus, aufbauend auf den beiden historischen
Formen totaler Herrschaft, dem Nationalsozialismus und dem Stalinismus.
Die Massen müssen durch Propaganda gewonnen werden |
Weil aber totalitäre Bewegungen zunächst in einer Welt
existieren, die selbst nicht totalitär ist, ist Propaganda ein unabdingbarer
Bestandteil des Totalitarismus, denn „die Massen können nur durch Propaganda gewonnen werden“ (726).
Im Gegensatz zu älteren Formen politischer Propaganda, die
dazu neigte, sich auf die Vergangenheit zu berufen, um Gegenwärtiges zu
rechtfertigen, wendet totalitäre Propaganda „wissenschaftliche“ Methoden an, um die eigene Zukunft zu prophezeien: „Niemals zeigt sich deutlicher, wie sehr gerade auf den Ideologien –
Sozialismus oder Rassendoktrinen – die eigentliche Anziehungskraft der
Bewegungen beruht, als wenn die Massenredner, anstatt zu sagen, was sie konkret
zu tun gedenken, unter ungeheurem Beifall auseinandersetzen, dass sie die
verborgenen Kräfte entdeckt haben, welche ihnen und allen, die mit ihnen gehen,
unweigerlich Glück bringen werden in der voraussagbaren und durchschaubaren
Kette des Geschicks (…)
Propaganda und Prophetie |
Natürlich könne man die Techniken der totalitären Propaganda
mit den Techniken der Massenreklame vergleichen, die schließlich auch mit
pseudowissenschaftlichen Argumenten und umfangreichen Laborergebnissen zu
beweisen versucht, dass „diese Seife die beste Seife der Welt“ sei. Dennoch sei
die Pseudowissenschaftlichkeit der Massenpropaganda viel ernsterer Natur, weil
sie in sehr exakterer Weise den eigentlichen Wünschen der Massen entspricht,
als die Massenreklame. (734)
Die „demagogische Seite aller ideologisch-wissenschaftlichen
Massenpropaganda“ ist natürlich nicht von den totalitären Bewegungen erfunden,
„wohl aber technisch verbessert worden. Man kann natürlich eine außerordentlich
große Durchschlagskraft trotz größter inhaltlicher Absurdität erreichen, sobald
man ein Argument prinzipiell und in voller Konsequenz der Kontrolle durch
Gegenwart wie Vergangenheit entzieht und behauptet, dass nur eine unbestimmt
gehaltene Zukunft seine Richtigkeit beweisen kann.“ (735)
Für Arendt beruht der Erfolg der totalitären Propaganda aber
nicht so sehr auf ihrer Demagogie sondern darauf, dass sie versteht, dass
Interessen sich als eine kollektive Kraft nur geltend machen können in einer
gruppenmäßig geordneten, also nicht vermassten Gesellschaft. Sobald aber stabile,
soziale Gemeinschaften nicht mehr existieren, verschwinden mit ihnen auch die „Übertragungsbänder
…, die individuelle Interessen in Gruppen- und Kollektivinteressen
transformieren.“ (739)
... jederzeit zum Opfertod bereit! |
Der Führer der Massen ist natürlich unfehlbar und darf
niemals einen – auch noch so kleinen - Irrtum zugeben. Diese Unfehlbarkeit gilt
aber nicht so sehr als ein Zeichen einer überlegenen Intelligenz als vielmehr
eines Bündnisses mit den unfehlbar verlässlichen Kräften der Geschichte oder
der Natur.
Arendt zufolge besteht die Hauptschwierigkeit totalitärer
Propaganda darin, dass sie die Sehnsucht der Massen nach einem völlig in sich
konsequenten, verständlichen und voraussagbaren Geschehen nicht erfüllen kann,
ohne mit dem gesunden Menschenverstand in Konflikt zu geraten: „Die Revolte der
Massen gegen den Wirklichkeitssinn des gesunden Menschenverstands und das, was
ihm im Lauf der Welt plausibel erscheint, ist das Resultat einer Atomisierung,
durch die sie nicht nur ihren Stand in der Gesellschaft verloren, sondern mit
ihm die ganze Sphäre gemeinschaftlicher Beziehungen, in deren Rahmen der
gesunde Menschenverstand allein sinngemäß funktionieren kann (…) (747).
Dies lässt sich Arendt zufolge sehr gut am Beispiel des Antisemitismus belegen: „Bekanntlich wurde die Fabel von einer jüdischen Weltverschwörung zur wirksamsten Fiktion der Nazipropaganda vor der Machtergreifung. Antisemitismus hatte sich seit dem letzten Drittel des 19. Jahrhunderts als die wirksamste Waffe demagogischer Propaganda bewährt und bildete auch ohne jeden Einfluss von seitens der Nazis in den zwanziger Jahren in Deutschland und Österreich einen der mächtigsten Faktoren der öffentlichen Meinung“ (749f).
Dies lässt sich Arendt zufolge sehr gut am Beispiel des Antisemitismus belegen: „Bekanntlich wurde die Fabel von einer jüdischen Weltverschwörung zur wirksamsten Fiktion der Nazipropaganda vor der Machtergreifung. Antisemitismus hatte sich seit dem letzten Drittel des 19. Jahrhunderts als die wirksamste Waffe demagogischer Propaganda bewährt und bildete auch ohne jeden Einfluss von seitens der Nazis in den zwanziger Jahren in Deutschland und Österreich einen der mächtigsten Faktoren der öffentlichen Meinung“ (749f).
"Nur wo der gesunde Menschenverstand seinen Sinn verloren hat, kann ihm totalitäre Propaganda ungestraft ins Gesicht schlagen.“ (Hannah Arendt, 747) |
Entscheidend war nämlich, „NSDAP sich nicht damit begnügte,
Juden von der Mitgliedschaft auszuschließen, sondern von vornherein den
Nachweis nichtjüdischer Abstammung verlangte und dass sie … sich nur undeutlich
drohend über die Maßnahmen gegen Juden nach der Machtergreifung äußerte.
Innerhalb der Nazipropaganda war Antisemitismus nicht mehr eine Frage einer
Meinung über ein Volk, die Juden, sondern wurde zu einer inneren Angelegenheit
jedes Mitglieds, zu einer Frage seiner persönlichen Existenz“ (752f).
So lag die eigentliche Originalität der Nazis nicht in der
Erfindung neuer, sondern in der Benutzung alter und bereits bewährter
Schlagworte, beginnend mit dem eigenen Namen der Partei: In einer Zeit, in der
Nationalismus und Sozialismus die populären Brennpunkte des politischen
Fanatismus darstellten, warfen sie Nazis „eine Synthese auf den Wortmarkt, die
nationale Einheit versprach.“ Nur begnügte sie sich nicht damit, sondern weil
sie ihrem Namen „zur Sicherung noch die (rechte) Handelsmarke „deutsch“ und die
(linke) „Arbeiter“ anheftete, stahl die Bewegung allen anderen Parteien ihre politischen
Gehalte und prätendierte, sie alle in sich zu verkörpern“ (754f).
Rechte und linke "Handelsmarken" vereint |
Arendt nach hat totalitäre Propaganda ihr Ziel nicht
erreicht, wenn sie überzeugt, sondern wenn sie organisiert, d.h. sie ist „die
Kunst der Machtbildung ohne den Besitz der Machtmittel“ (762): „Totalitäre
Führer sind keine Demagogen im gewöhnlichen Sinne, und sicher keine `charismatischen´ Führer im Sinne Max Webers. Was sie auszeichnet,
ist die unbeirrbare Sicherheit, mit der sie sich aus bestehenden Ideologien die
Elemente heraussuchen, die sich für die Etablierung einer den Tatsachen
entgegengesetzten, ganz und gar fiktiven Welt eignen“ (763).
Die Kunst des totalitären Führers besteht nun darin, „in der
erfahrbaren Realität geeignete Elemente für seine Fiktion herauszufinden und
sie so zu verwenden, dass sie fortan von aller überprüfbaren Erfahrung getrennt
bleiben. (…) Dadurch wird eine Konsequenz und Stimmigkeit erreicht, mit der die
wirkliche Welt und die nicht verabsolutierte Erfahrung nie und nimmer in
Konkurrenz treten können.
Die Hartnäckigkeit, mit der totalitäre Führer an den
ursprünglichen Lügen, welche die Bewegung zur Macht gebracht haben, selbst dann
festhalten, wenn ihre Absurdität voll erwiesen ist, hat wenig mit der bekannten
Psychologie des Lügners zu tun.“ (763)
Der „Vorteil“ dieser Methode besteht gerade darin, dass, sobald
die Lügen der Propaganda sich in einer ´lebendigen Organisation´ verkörpert
haben, sie nicht mehr eliminiert werden können, ohne das ganze Gebäude der
Organisation selbst zu gefährden: Deshalb handelten die Nazis wirklich so, „als
ob die Welt von Juden beherrscht sei und einer Gegenverschwörung bedürfe, um
gerettet zu werden. Die Rassedoktrinen waren nicht mehr eine Theorie höchst
zweifelhaften wissenschaftlichen Wertes, sondern wurden jeden Tag innerhalb
einer funktionierenden Welt realisiert, in deren Rahmen es höchst
`unrealistisch´ gewesen wäre, ihren Realitätswert zu bezweifeln“ (764).
So ist der wahre Grund für die unabwendbare, prinzipielle
Überlegenheit aller totalitären Propaganda über die Propaganda aller anderen
Parteien oder Regierungen, vor allem der, dass ihr Inhalt nichts mehr mit
Meinungen zu tun hat, über die man streiten könnte, sondern zu einem ebenso
unangreifbar realen Element ihres täglichen Lebens geworden ist, wie die
Tatsache, dass zwei mal zwei vier ist.
So ist für Arendt die totalitäre Propaganda keine Propaganda
im üblichen Sinn und kann daher auch nicht durch Gegenpropaganda widerlegt oder
bekämpft werden. Sie ist vielmehr Teil der totalitären Welt und wird nur mit
ihr zusammen untergehen: „Erst im Moment der Niederlage macht sich die
wesentliche Schwäche totalitärer Propaganda geltend. Bricht die Bewegung aus
gleich welchen äußeren Gründen zusammen und ist die `Gewalt der Organisation´
verschwunden, so hören ihre Anhänger von einem Tag zum anderen auf, an ein
Dogma und eine Fiktion zu glauben, der ihr Leben zu opfern sie gestern noch
bereit waren. Mit dem Zusammenbruch ihrer fiktiven Heimat kehren die Massen
wieder in die Welt zurück, vor deren Realität die Bewegung sie geschützt hatte,
werden wieder zu den isolierten Individuen, als die sie sich massenhaft
zusammengefunden hatten, und übernehmen entweder neue Aufgaben in einer
veränderten Welt oder fallen in die verzweifelte Überflüssigkeit zurück, vor
der die Fiktion sie für einen Moment erlöst hatte“ (765).
Der Zusammenbruch der fiktiven Heimat ist nahe ...! |
Die sei auch der Grund dafür, dass die Alliierten nach der Niederlage von Nazideutschland vergeblich nach einem einzigen überzeugten Nazi in der Bevölkerung fahndeten, und dies besage nichts gegen die Tatsache, dass vermutlich achtzig Prozent des deutschen Volkes irgendwann einmal überzeugte Nazis gewesen waren: „Der Nazismus als eine Ideologie war so vollständig in der Organisation der Bewegung und des Reiches `realisiert´ worden, dass von seinem Inhalt als einem System bestimmter Doktrinen mit einer von der Realität unabhängigen geistigen Existenz nichts übriggeblieben war. Die Zerstörung der Nazifiktion in der Wirklichkeit hinterließ buchstäblich nichts, nicht einmal den Fanatismus des Aberglaubens“ (765f).
(Fortsetzung folgt)
Zitate aus: Hannah Arendt: Elemente und
Ursprünge totaler Herrschaft, München 2009 (piper)
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