Donnerstag, 16. Oktober 2014

Hannah Arendt und der Totalitarismus - Teil 2: Totalitäre Propaganda

In ihrem Hauptwerk „Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft“ (1955 auf Deutsch erschienen) rekonstruiert Hannah Arendt die Entwicklung des Antisemitismus im 18. und 19. Jahrhundert sowie das Aufkommen des Rassismus und des Imperialismus im 19. und frühen 20. Jahrhundert. Aber das Buch enthält nicht nur reine Geschichtsschreibung. Vielmehr entwirft auch eine umfassende Theorie des Totalitarismus, aufbauend auf den beiden historischen Formen totaler Herrschaft, dem Nationalsozialismus und dem Stalinismus.

Die Massen müssen durch
Propaganda gewonnen werden
Sobald die totalitären Diktaturen „fest im Sattel sitzen, benutzen sie Terror, um ihre ideologischen Doktrinen und die aus ihnen folgenden praktischen Lügen mit Gewalt in die Wirklichkeit umzusetzen: Terror wird zu der spezifischen Regierungsform“ (727).

Weil aber totalitäre Bewegungen zunächst in einer Welt existieren, die selbst nicht totalitär ist, ist Propaganda ein unabdingbarer Bestandteil des Totalitarismus, denn „die Massen können nur durch Propaganda gewonnen werden“ (726).

Im Gegensatz zu älteren Formen politischer Propaganda, die dazu neigte, sich auf die Vergangenheit zu berufen, um Gegenwärtiges zu rechtfertigen, wendet totalitäre Propaganda „wissenschaftliche“ Methoden an, um die eigene Zukunft zu prophezeien: „Niemals zeigt sich deutlicher, wie sehr gerade auf den Ideologien – Sozialismus oder Rassendoktrinen – die eigentliche Anziehungskraft der Bewegungen beruht, als wenn die Massenredner, anstatt zu sagen, was sie konkret zu tun gedenken, unter ungeheurem Beifall auseinandersetzen, dass sie die verborgenen Kräfte entdeckt haben, welche ihnen und allen, die mit ihnen gehen, unweigerlich Glück bringen werden in der voraussagbaren und durchschaubaren Kette des Geschicks (…)

Propaganda und Prophetie
Tocqueville kannte bereits die große abergläubische Kraft, die von `absoluten Systemen´ ausgeht, `die alle Ereignisse der Geschichte von primären großen Ursachen abhängig machen und sie so in eine Kette der Notwendigkeit binden, die es erlaubt, die Menschen gleichsam aus der Geschichte des Menschengeschlechts zu eliminieren´“ (734).

Natürlich könne man die Techniken der totalitären Propaganda mit den Techniken der Massenreklame vergleichen, die schließlich auch mit pseudowissenschaftlichen Argumenten und umfangreichen Laborergebnissen zu beweisen versucht, dass „diese Seife die beste Seife der Welt“ sei. Dennoch sei die Pseudowissenschaftlichkeit der Massenpropaganda viel ernsterer Natur, weil sie in sehr exakterer Weise den eigentlichen Wünschen der Massen entspricht, als die Massenreklame. (734)

Die „demagogische Seite aller ideologisch-wissenschaftlichen Massenpropaganda“ ist natürlich nicht von den totalitären Bewegungen erfunden, „wohl aber technisch verbessert worden. Man kann natürlich eine außerordentlich große Durchschlagskraft trotz größter inhaltlicher Absurdität erreichen, sobald man ein Argument prinzipiell und in voller Konsequenz der Kontrolle durch Gegenwart wie Vergangenheit entzieht und behauptet, dass nur eine unbestimmt gehaltene Zukunft seine Richtigkeit beweisen kann.“ (735)

Für Arendt beruht der Erfolg der totalitären Propaganda aber nicht so sehr auf ihrer Demagogie sondern darauf, dass sie versteht, dass Interessen sich als eine kollektive Kraft nur geltend machen können in einer gruppenmäßig geordneten, also nicht vermassten Gesellschaft. Sobald aber stabile, soziale Gemeinschaften nicht mehr existieren, verschwinden mit ihnen auch die „Übertragungsbänder …, die individuelle Interessen in Gruppen- und Kollektivinteressen transformieren.“ (739)

... jederzeit zum Opfertod bereit!
Erst damit wird der Massenmensch zu jener fanatischen und jederzeit zum Opfertod bereiten Ergebenheit fähig, die sich so deutlich von der Loyalität der treuesten Mitglieder normaler Parteien unterscheidet. „Die Nazis haben bewiesen, dass man ein ganzes Volk mit dem Schlagwort `Sieg oder Untergang´ in den Krieg führen kann – ein Schlagwort, dass die Kriegspropaganda des Ersten Weltkrieges sorgsam vermieden hat.“ (739)

Der Führer der Massen ist natürlich unfehlbar und darf niemals einen – auch noch so kleinen - Irrtum zugeben. Diese Unfehlbarkeit gilt aber nicht so sehr als ein Zeichen einer überlegenen Intelligenz als vielmehr eines Bündnisses mit den unfehlbar verlässlichen Kräften der Geschichte oder der Natur.

Arendt zufolge besteht die Hauptschwierigkeit totalitärer Propaganda darin, dass sie die Sehnsucht der Massen nach einem völlig in sich konsequenten, verständlichen und voraussagbaren Geschehen nicht erfüllen kann, ohne mit dem gesunden Menschenverstand in Konflikt zu geraten: „Die Revolte der Massen gegen den Wirklichkeitssinn des gesunden Menschenverstands und das, was ihm im Lauf der Welt plausibel erscheint, ist das Resultat einer Atomisierung, durch die sie nicht nur ihren Stand in der Gesellschaft verloren, sondern mit ihm die ganze Sphäre gemeinschaftlicher Beziehungen, in deren Rahmen der gesunde Menschenverstand allein sinngemäß funktionieren kann (…) (747).

Dies lässt sich Arendt zufolge sehr gut am Beispiel des Antisemitismus belegen: „Bekanntlich wurde die Fabel von einer jüdischen Weltverschwörung zur wirksamsten Fiktion der Nazipropaganda vor der Machtergreifung. Antisemitismus hatte sich seit dem letzten Drittel des 19. Jahrhunderts als die wirksamste Waffe demagogischer Propaganda bewährt und bildete auch ohne jeden Einfluss von seitens der Nazis in den zwanziger Jahren in Deutschland und Österreich einen der mächtigsten Faktoren der öffentlichen Meinung“ (749f).



"Nur wo der gesunde Menschenverstand seinen Sinn verloren hat,
kann ihm totalitäre Propaganda ungestraft ins Gesicht schlagen.“ (Hannah Arendt, 747)
Die Themen der antisemitischen Nachkriegspropaganda waren also weder originell noch ein Monopol der Nazis. Vielmehr entwickelte die Propaganda der Nazis inmitten einer Unzahl antisemitischer Gruppen und in einer mit Antisemitismus geschwängerten Atmosphäre eine Methode, die sich von allen anderen unterschied und allen anderen überlegen war.

Entscheidend war nämlich, „NSDAP sich nicht damit begnügte, Juden von der Mitgliedschaft auszuschließen, sondern von vornherein den Nachweis nichtjüdischer Abstammung verlangte und dass sie … sich nur undeutlich drohend über die Maßnahmen gegen Juden nach der Machtergreifung äußerte. Innerhalb der Nazipropaganda war Antisemitismus nicht mehr eine Frage einer Meinung über ein Volk, die Juden, sondern wurde zu einer inneren Angelegenheit jedes Mitglieds, zu einer Frage seiner persönlichen Existenz“ (752f).

So lag die eigentliche Originalität der Nazis nicht in der Erfindung neuer, sondern in der Benutzung alter und bereits bewährter Schlagworte, beginnend mit dem eigenen Namen der Partei: In einer Zeit, in der Nationalismus und Sozialismus die populären Brennpunkte des politischen Fanatismus darstellten, warfen sie Nazis „eine Synthese auf den Wortmarkt, die nationale Einheit versprach.“ Nur begnügte sie sich nicht damit, sondern weil sie ihrem Namen „zur Sicherung noch die (rechte) Handelsmarke „deutsch“ und die (linke) „Arbeiter“ anheftete, stahl die Bewegung allen anderen Parteien ihre politischen Gehalte und prätendierte, sie alle in sich zu verkörpern“ (754f).

Rechte und linke "Handelsmarken" vereint
So bediente sich die Nazipropaganda ungeniert überall dort, wo es sich um Ideologien und ideologische Schlagworte handelte und vermied es zugleich misstrauisch, sich jemals auf eine Diskussion bestimmter Regierungsformen einzulassen oder eine Stellung in dem Kampf zwischen Anhängern monarchischer oder republikanischer Staatsformen zu beziehen. „Es ist, als hätten die Nazis von Anfang an gewusst, dass sie in diesem einen Punkt absolut originell sein würden“ (755).

Arendt nach hat totalitäre Propaganda ihr Ziel nicht erreicht, wenn sie überzeugt, sondern wenn sie organisiert, d.h. sie ist „die Kunst der Machtbildung ohne den Besitz der Machtmittel“ (762): „Totalitäre Führer sind keine Demagogen im gewöhnlichen Sinne, und sicher keine `charismatischen´ Führer im Sinne Max Webers. Was sie auszeichnet, ist die unbeirrbare Sicherheit, mit der sie sich aus bestehenden Ideologien die Elemente heraussuchen, die sich für die Etablierung einer den Tatsachen entgegengesetzten, ganz und gar fiktiven Welt eignen“ (763).

Die Kunst des totalitären Führers besteht nun darin, „in der erfahrbaren Realität geeignete Elemente für seine Fiktion herauszufinden und sie so zu verwenden, dass sie fortan von aller überprüfbaren Erfahrung getrennt bleiben. (…) Dadurch wird eine Konsequenz und Stimmigkeit erreicht, mit der die wirkliche Welt und die nicht verabsolutierte Erfahrung nie und nimmer in Konkurrenz treten können.

Die Hartnäckigkeit, mit der totalitäre Führer an den ursprünglichen Lügen, welche die Bewegung zur Macht gebracht haben, selbst dann festhalten, wenn ihre Absurdität voll erwiesen ist, hat wenig mit der bekannten Psychologie des Lügners zu tun.“ (763)

Der „Vorteil“ dieser Methode besteht gerade darin, dass, sobald die Lügen der Propaganda sich in einer ´lebendigen Organisation´ verkörpert haben, sie nicht mehr eliminiert werden können, ohne das ganze Gebäude der Organisation selbst zu gefährden: Deshalb handelten die Nazis wirklich so, „als ob die Welt von Juden beherrscht sei und einer Gegenverschwörung bedürfe, um gerettet zu werden. Die Rassedoktrinen waren nicht mehr eine Theorie höchst zweifelhaften wissenschaftlichen Wertes, sondern wurden jeden Tag innerhalb einer funktionierenden Welt realisiert, in deren Rahmen es höchst `unrealistisch´ gewesen wäre, ihren Realitätswert zu bezweifeln“ (764).

So ist der wahre Grund für die unabwendbare, prinzipielle Überlegenheit aller totalitären Propaganda über die Propaganda aller anderen Parteien oder Regierungen, vor allem der, dass ihr Inhalt nichts mehr mit Meinungen zu tun hat, über die man streiten könnte, sondern zu einem ebenso unangreifbar realen Element ihres täglichen Lebens geworden ist, wie die Tatsache, dass zwei mal zwei vier ist.

So ist für Arendt die totalitäre Propaganda keine Propaganda im üblichen Sinn und kann daher auch nicht durch Gegenpropaganda widerlegt oder bekämpft werden. Sie ist vielmehr Teil der totalitären Welt und wird nur mit ihr zusammen untergehen: „Erst im Moment der Niederlage macht sich die wesentliche Schwäche totalitärer Propaganda geltend. Bricht die Bewegung aus gleich welchen äußeren Gründen zusammen und ist die `Gewalt der Organisation´ verschwunden, so hören ihre Anhänger von einem Tag zum anderen auf, an ein Dogma und eine Fiktion zu glauben, der ihr Leben zu opfern sie gestern noch bereit waren. Mit dem Zusammenbruch ihrer fiktiven Heimat kehren die Massen wieder in die Welt zurück, vor deren Realität die Bewegung sie geschützt hatte, werden wieder zu den isolierten Individuen, als die sie sich massenhaft zusammengefunden hatten, und übernehmen entweder neue Aufgaben in einer veränderten Welt oder fallen in die verzweifelte Überflüssigkeit zurück, vor der die Fiktion sie für einen Moment erlöst hatte“ (765).

Der Zusammenbruch der fiktiven Heimat ist nahe ...!

Die sei auch der Grund dafür, dass die Alliierten nach der Niederlage von Nazideutschland vergeblich nach einem einzigen überzeugten Nazi in der Bevölkerung fahndeten, und dies besage nichts gegen die Tatsache, dass vermutlich achtzig Prozent des deutschen Volkes irgendwann einmal überzeugte Nazis gewesen waren: „Der Nazismus als eine Ideologie war so vollständig in der Organisation der Bewegung und des Reiches `realisiert´ worden, dass von seinem Inhalt als einem System bestimmter Doktrinen mit einer von der Realität unabhängigen geistigen Existenz nichts übriggeblieben war. Die Zerstörung der Nazifiktion in der Wirklichkeit hinterließ buchstäblich nichts, nicht einmal den Fanatismus des Aberglaubens“ (765f).

(Fortsetzung folgt)


Zitate aus: Hannah Arendt: Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft, München 2009 (piper)


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