Donnerstag, 17. August 2017

Humboldt und die humanistische Bildung (Teil 2)


Nach einer kurzen Zeit als Staatsdiener wendet sich Humboldt erneut seinem Lieblingsthema zu, dem Studium der Antike. Vielleicht auch, weil hier in den Wirren der Moderne eine bleibende Orientierung zu finden ist: ein Menschenbild, das an eine ewige Vernunft glaubt und daher nicht von politischen Interessen vereinnahmt werden konnte. 

Wilhelm von Humboldt
So ist es gerade kein Zufall, dass Humboldt sein Bildungsideal in der bereits erwähnten - eher politisch ausgerichteten - Schrift „Ideen zu einem Versuch, die Grenzen der Wirksamkeit des Staates zu bestimmen ausformuliert: „Der wahre Zweck des Menschen - nicht der, welchen die wechselnde Neigung, sondern welchen die ewig unveränderliche Vernunft ihm vorschreibt - ist die höchste und proportionierlichste Bildung seiner Kräfte zu einem Ganzen.“

Diese proportionierlichste, also harmonische oder ausgewogene Bildung der persönlichen Kräfte solle sich zwar im Wechselspiel mit der Gesellschaft vollziehen, aber in großer individueller Freiheit: „Jede Bemühung für die Fortschritte des Menschengeschlechts, die nicht von der Ausbildung der Individuen ausginge, würde schlechthin fruchtlos sein.“

Humboldt war in dieser Zeit ein „freier Intellektueller“, er lebte auf den Gütern seines Schwiegervaters oder in Erfurt mit seiner Frau und bildete sich selbst - dann ging er für 6 Jahre als Botschafter an den Vatikan. Das machte er nicht aus Glaubensgründen, sondern weil er gern in Rom lebte, wo er noch die Ruinen und die Spuren der Antike erlebte.

In Berlin ist inzwischen Napoleon einmarschiert und hat weite Teile Deutschlands in seine Abhängigkeit gebracht. Es wird deutlich, dass die deutschen Kleinstaaten der neuen europäischen Großmacht wenig entgegensetzen können, weder militärisch noch kulturell. Der Ruf nach besserer Bildung wird laut, auch um schließlich den preussischen Staat wieder aufzubauen. Eine Chance für Wilhelm von Humboldt, seine Überlegungen zur Bildung nun umzusetzen.

Im Rahmen einer Reformbewegung in Preussen, nach dem verlorenen Krieg gegen Napoleon 1808/1809, sucht man jemanden, der das Bildungswesen wieder modernisiert. Da fiel der Blick auf Wilhelm von Humboldt, der doch so gern in Rom geblieben wäre, und es brauchte dann zwei Briefe des Königs, damit Wilhelm von Humboldt gegen seinen Willen nach Preussen, nach Berlin zurückkam und das gesamte Bildungswesen von der Volksschule oder der Elementarschule bis zur Universität reorganisierte.

Im Zeitalter der Aufklärung ist der Optimismus mit Händen zu greifen. Weil man mit Bildung eine bessere Welt schaffen kann, deshalb ist sie so wichtig für die Aufklärer - im Grunde ist sie der Schlüssel für alles Weitere.

Bildung ist wichtig, weil man nur durch neue Erkenntnisse, durch das Trainieren der Vernunft und des logischen Denkens weiterkommt. Und legt Humboldt so viel Wert darauf, die Schulen zu reformieren, überhaupt Schulen anzubieten da, wo sie noch nicht existieren - flächendeckend, in der Breite - Kinder und Jugendliche zur Schule zu schicken, die bisher nicht in den Genuss eines guten Unterrichts gekommen sind.

Wilhelm von Humboldt wird "Leiter der Section für Kultus und Unterricht in Preussen", eine Art Bildungsminister. In nur 16 Monaten arbeitet er ein dreistufiges Schulsystem aus, das freilich schon in der preußischen Verwaltung vorbereitet worden war, mit Elementarschule, höherer Schule und akademischem Studium. Für alle Stufen betont er dabei den Aspekt der "Allgemeinen Menschenbildung".

In einem "Bericht an den König", adressiert an Friedrich Wilhelm III., vom Dezember 1809 schreibt Humboldt: „Es gibt schlechterdings gewisse Kenntnisse, die allgemein sein müssen, und noch mehr eine gewisse Bildung der Gesinnungen und des Charakters, die keinem fehlen darf.“

Obwohl Humboldt selbst nie eine Schule besucht hatte, soll er nun den öffentlichen Unterricht organisieren. Das konnte er jedoch vor allem deshalb, weil er von der Grundidee überzeugt war, dass in jedem Menschen eine bestimmte Kraft steckt, eine bestimmte Neugier, ein bestimmter Trieb zur Bildung, für den man dann den passenden Raum zur Verfügung stellen muss.

Humboldt musste also darüber nachdenken, welche Räume sind geeignet, um den individuellen Bildungstrieb von Menschen optimal zu entwickeln.

Schule im 19. Jahrhundert
An manchen Orten gibt es schon engagierte Lehrer, Pfarrer oder Gutsherren, oft aus der philanthropischen Bewegung, die Erfahrungen mit neuen Unterrichtsformen gesammelt hatten. Zum Beispiel in der Dorfschule von Reckahn bei Brandenburg. Das Dorf Reckahn gehört um 1800 zum Gutshof des Friedrich Eberhard von Rochow und seiner Frau Luise. Schon 1773 hatten die beiden eine Dorfschule für die Kinder ihrer Bauern eröffnet, die nach den Methoden der Philanthropen unterrichtete.

Zwar saßen Jungen und Mädchen im Klassenraum getrennt, aber sie wurden gemeinsam unterrichtet. Die Bänke waren über Eck gestellt, heute würden man sagen “im modernen Halbkreis“, so dass der Lehrer keinen Frontalunterricht machte, sondern in diese Mitte gehen konnte und die Schüler dann um sich herum hatte.

Die Dorfschule zog immer mehr Besucher an. Aus den Schulbehörden, aus den preußischen Ministerien, aber auch aus den gelehrten Zirkeln Berlins. Der beliebte Lehrer Bruhns musste öffentlich unterrichten und danach seine Methoden erläutern. Später bildete er selbst Lehrer aus.

Anfang des 19. Jahrhunderts gilt die Dorfschule Reckahn als gelungenes Praxisbeispiel. Im Nachbardorf Krahne, das auch zum Gut von Rochow gehört, entstehen ein Lehrerseminar und eine Schullehrerkonferenzgesellschaft - der Beginn einer systematischen Lehrerbildung. Auch für die Stadtschulen führte Humboldts Reform eine Lehrerausbildung ein.

Die Krönung seines Vorhabens sieht Wilhelm von Humboldt in der Gründung einer Universität in Berlin. Auch in der universitären Ausbildung führte Wilhelm von Humboldt nun ein dialogisches Prinzip ein: Die Gleichberechtigung von Lehrenden und Lernenden, das Miteinander von Lehre und Forschung sollte die neugegründete Berliner Universität prägen. Zwar sollte an der Universität natürlich auch eine kluge Staatselite herangebildet werden, aber, um es mit heutigen Worten zu sagen, ohne die Individualität des einzelnen zu verbiegen und ohne ihn zu einem Fachidioten zu machen. Es müsse Raum bleiben für ein freies Spiel der intellektuellen Kräfte.

„Da diese Anstalten ihren Zweck indes nur erreichen können, wenn jede, soviel als immer möglich, der reinen Idee der Wissenschaft gegenübersteht, so sind Einsamkeit und Freiheit die in ihrem Kreise vorwaltenden Prinzipien. Da aber auch das geistige Wirken in der Menschheit nur als Zusammenwirken gedeiht, damit die gelingende Tätigkeit des einen den Anderen begeistere, so muss die innere Organisation dieser Anstalten ein sich immer selbst wieder belebendes, aber ungezwungenes und absichtsloses Zusammenwirken hervorbringen und unterhalten.“

So führt eine Linie vom weiten Horizont der Kindheit, vermittelt durch Pädagogen wie Johann Heinrich Campe, bis zur postulierten Freiheit des Wissenschaftlers, für die Humboldt sich einsetzt.

Doch in der europäischen Politik steigert sich der Nationalismus. Der Wissenschaftler und Diplomat Humboldt tritt noch einmal auf großer Bühne auf und vermittelt beim Wiener Kongress 1814/15 zwischen den Nationen, setzt sich für Liberalität und gegen eine nationalistische Abschottung ein. Dann zieht er sich aus der Politik zurück, auch aus der Bildungspolitik. Seine Vorstellungen von einer zweckfreien Forschung und einem individuellen Bildungsweg stoßen an Grenzen.

Der individuelle Bildungsweg ...

In den letzten Lebensjahren, in seiner Bibliothek in Tegel, studiert er noch Sanskrit und Chinesisch. Immer auf der Suche nach neuen Erkenntnissen über das Andere, das Fremde. Sein Ziel einer ganzheitlichen Menschenbildung im Sinne von Toleranz, Ausgewogenheit und lebenslanger Neugier war und ist bis heute ein Ideal, scheint vielen überholt oder realitätsfremd. Doch es bleibt ein kritischer Spiegel.

Wenn heute Schüler durch Lehrpläne gehetzt werden, ohne Zeit für selbstbestimmtes Lernen zu haben, wenn an Universitäten gepauktes Wissen aus dem Kurzzeitgedächtnis reicht, um ein Examen zu bestehen, und wenn Standesunterschiede und ungleiche Lernchancen auf neue Weise zementiert werden - dann lohnt es, sich an das vielseitige Bildungskonzept Wilhelm von Humboldts zu erinnern.


Zitate aus: Wilhelm von Humboldt: Ideen zu einem Versuch, die Gränzen der Wirksamkeit des Staats zu bestimmen, Volltext im Deutschen Textarchiv


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