Josef Kraus |
Unter dem Titel „Durchgefallen!
Warum Deutschland als Bildungs-nation gescheitert ist“ kritisiert der ehemalige Schulleiter und aktuelle Präsident des
Deutschen Lehrerverbands, Josef Kraus, in der Reihe "Aula" des SWR in deutlichen Worten das
Sündenregister der deutschen Bildungspolitik, einer „Politik wider jede
Vernunft“.
Ausgangspunkt von Kraus´ Überlegungen ist
zunächst die Frage, ob nicht der Begriff „Sünde“ und die damit verbundenen
Assoziationen – „Religion, Theologie, Kirche, Glauben, Aberglauben, Gott,
Teufel, letztem Gericht, Himmel, Hölle“ – im Kontext mit Bildung zu weit
hergeholt sein mögen.
„Was hat Bildungspolitik mit Religion zu tun?“
Eine Menge, sagt Kraus, denn immer „häufiger drängt sich der Eindruck auf,
dass Bildungspolitik mit all den von ihr verbreiteten Ängsten und
Horrorszenarien im Gegenzug gerne zu Heilsversprechungen neigt. Ängste werden
– wohl zur Vorbereitung der Heilversprechungen - geschürt und apokalyptische
Bilder gemalt: von Bildungspolitikern, von Bildungsforschern, von Lobbyisten,
von Stiftungen usw. Ihnen geht es um Bildungsverlierer und Bildungsarmut, die
ach so krankmachende Schule, die ach so selektierende Schule, traumatisierte
Schüler, frustrierte und frustrierende Lehrer.
Darauf und dagegen setzt man dann
Heilsversprechungen: Gymnasium und Abitur für alle! Lebensraum Schule! Offene
Schule! Lernen mit Spaß und ohne Anstrengung! Keine Kränkungen mehr durch
Noten und Zeugnisse! Kein Stress mehr mit Hausaufgaben und Auswendiglernen!
Ausschließlich selbstgesteuertes, intrinsisches, hirnbasiertes Lernen! Kein
Frontalunterricht! Am Ende dann angeblich hochkompetente junge
Leute, fit für das globale Haifischbecken! Vor allem aber ist gerechte Bildung
angesagt!“
Die bildungspolitische Heilsversprechungen? Das sind die Sünden! |
Wie passen nun die Heilversprechen der „educational
correctness“ und die Rede von Sündenregistern zusammen? Ganz einfach, behauptet
Kraus, „denn so paradox es klingt: Die bildungspolitischen und pädagogischen
Heils-versprechungen, das sind die Sünden!“
Als erste Todsünde nennt Kraus den Egalitarismus:
„Das ist der Irrglaube, dass alle Menschen, Strukturen, Werte, Inhalte, ja
sogar die Geschlechter, von denen es ja nicht nur zwei, sondern bis zu sechzig
geben soll, gleich bzw. gleich gültig seien. Das ist auch die Ideologie, dass
es keine verschiedenen Schulformen, keine verschiedenen Begabungen, keine
verschiedenen Fächer sowie keine bestimmten Werte geben dürfe.“
Gegen dieses Postulat setzt Kraus dagegen, dass
die Schule keine Institution zur Herstellung von Gleichheit sei, sondern zur
Förderung von Verschiedenheit und Individualität. Natürlich sei das
Spannungsverhältnis von Gleichheit und Freiheit nicht aufhebbar – deshalb
gelte auch, was Goethe meinte: „Gesetzgeber oder Revolutionäre, die Gleichheit
und Freiheit zugleich versprechen, sind Phantasten oder Scharlatane“.
Kraus erinnert in diesem Zusammenhang an das
warnende Wort von Alexis de Toqueville (1835): „Freiheit erliege gern der
Gleichheit, weil Freiheit mit Opfern erkauft werden müsse und weil Gleichheit
ihre Genüsse von selbst darbiete.“
Die Frage müsse daher lauten: „Soll ein
Bildungswesen am Prinzip Freiheit oder am Prinzip Gleichheit orientiert sein?“
Die Antwort für Kraus ist eindeutig: „Gewiss doch an der Freiheit! Auch wenn
wir dazu neigen, jede Form von Ungleichheit zu skandalisieren, gilt: Die
„conditio humana“ kennt keine Gleichheit. An der Unterschiedlichkeit und an der
Vielfalt von Menschen ändern keine noch so moralisierende egalitäre
Zivilreligion, kein Bildungssystem und auch kein noch so gestalteter Unterricht
etwas.“
Der pädagogische Egalitarismus kranke nun
einmal an einem unüberwindbaren Dilemma: „Egalitäre Schulpolitik erzielt
vermeintliche Gleichheit allenfalls durch Absenkung des Anspruchsniveaus. Wer
aber die Ansprüche senkt, der bindet gerade junge Menschen aus schwierigeren
Milieus in ihren „restringierten Codes“ fest. Selbst ein
hochindividualisierender Unterricht zementiert Unterschiede. Denn: Je besser
der Unterricht ist, je erfolgreicher Schüler individuell gefördert werden,
desto mehr spielt die genetische Anlage eine Rolle. Und die ist schlicht und
einfach unterschiedlich!
Verschiedenheit ist keine Ungerechtigkeit! |
Verschiedenheit ist keine Ungerechtigkeit.
Vielmehr ist nichts so ungerecht wie die gleiche Behandlung Ungleicher. Das
Prinzip Leistung und das Prinzip Auslese sind nun einmal die beiden Seiten ein
und derselben Medaille. Zudem ist Auslese eine notwendige Voraussetzung für
individuelle Förderung von Kindern.
Die anti-thetische Formel „Fördern statt
Auslese“ ist grundfalsch. Es muss heißen: Fördern durch Differenzierung!
Gleichmacherei würde zudem jede Anstrengungsbereitschaft gefährden, sie
würde auch Eigenverantwortung und Eigeninitiative bremsen. Gleichmacherei
wäre auch nur gefühlte Gerechtigkeit.“
Die zweite von Kraus beschrieben Sünde ist die
Sünde der Hybris: „Das ist der aus dem Marxismus („Der neue Mensch wird
gemacht“) und dem Behaviorismus („Der neue Mensch ist konditionierbar!“)
abgeleitete Wahn, jeder könne total gesteuert und zu allem „begabt“ werden. Ja
mehr noch: Hier glaubt der Mensch, via Bildungssystem Schöpfer spielen zu
dürfen.“
Kraus setzt dagegen die Überzeugung: „Es gibt
Unterschiede in der Begabung von Menschen. Was den Faktor Begabung betrifft, so
mag es heute politisch nicht korrekt sein, davon zu sprechen. In manchen
Diskussionen ist aus Begabung eine „vermeintliche Begabung“ geworden.
Wissenschaftlich haltbar ist eine solche Diktion nicht. Denn die Forschung hat
eindeutig nachgewiesen, dass die Hälfte bis zwei Drittel des kognitiven
Potentials durch Erbfaktoren bestimmt ist.“
Mitte der 1960er Jahre glaubten jedoch
selbsternannte "Reformer" verkünden zu können, dass es Begabung als
angeborene Fähigkeiten nicht gebe. „Alles Verhalten einschließlich aller
geistigen Fähigkeiten sei soziogen, so hieß es; das Endogene, das Genetische
könne, ja müsse vernachlässigt werden, weil der Glaube daran
Ungerechtigkeiten fortschreibe ... Wer anderes im Sinn habe, sei zumindest ein
Biologist.“
Die Behavioristen – vor allem John B. Watson und
Burrhus F. Skinner – vertraten demgegenüber im Rahmen der Milieutheorie die
These, derzufolge Intelligenz und Schulerfolg durch die Schichtzugehörigkeit
eines Individuums und durch die "Primärerziehung" determiniert seien.
Sie verkündeten, „nur die Umstände entschieden darüber, ob ein Mensch ein
bewundertes Genie oder ein Verbrecher werde. Daraus leitete sich ein
grenzenloser Optimismus ab, der das Neugeborene hinsichtlich Dispositionen als
„tabula rasa", als „white paper" sehen wollte, auf dem Prägungen
ohne Grenzen vorgenommen werden könnten.“
In der Folge gerieten Begriffe wie „Begabung“
und „Intelligenz“ und schließlich auch auch Intelligenztests und der
Intelligenzquotient IQ in Misskredit, standen doch beide Instrumente bzw.
Messgrößen im Verdacht, Schichtzugehörigkeit zu zementieren.
Begabungen gibt es ... |
Dabei hätte man Kraus zufolgen schon sehr
früh wissen können, dass die Wahrheit in der Mitte liegt: „Weder Anlage und
genetische Disposition noch Umwelt und individuelle Soziogenese können für
sich allein erhellend wirken, wenn es um Fragen der intellektuellen Entwicklung
geht. Nur wenn Anlagefaktoren und Umweltfaktoren zusammen gesehen werden,
gewinnt man ein realistisches Bild von menschlicher Entwicklung, denn Anlage
und Umwelt wirken - heute sagt man: „synergetisch" - zusammen wie Boden
und Klima: Der beste Boden bringt keine reiche Ernte, wenn das Klima miserabel
ist, und das beste Klima lässt nicht üppig Früchte tragen, wenn der Boden es
nicht hergibt.“
Menschen würden nun einmal unterschiedlich auf
die Welt kommen. „Wer völlige Chancengleichheit will, müsste die Menschen
entmündigen. Er dürfte beispielsweise ausschließlich die Schwächeren und
Langsameren fördern. Die Stärkeren und Schnelleren müsste er den Eltern
wegnehmen, sie aus der Schule verbannen, ihnen jede Möglichkeit nehmen,
Zeitung zu lesen, Rundfunk zu hören, Fernsehen zu schauen, Museen zu besuchen,
ins Internet zu gehen.“
Beim Start in die Bildungslaufbahn müssten nach
Kraus daher selbstverständlich alle die gleichen Ausgangschancen haben, gleiche
Zielchancen kann es aber nicht geben.
Schon 1972 habe der Begabungsforscher
Christopher Jencks in seinem Buch „Inequality“ die Behauptung vertreten, Chancengleichheit
durch Bildung sei eine Illusion, „denn selbst wenn Bildung am Ende gleichmäßig
verteilt wäre, schlagen doch andere Unterschiede durch: familiäre Förderung,
Begabung usw.. Die kompensatorische Erziehung kann die Handicaps der
Unterprivilegierten nicht total kompensieren.
(Fortsetzung folgt)
Zitate aus: Josef Kraus: Durchgefallen!
Warum
Deutschland als Bildungsnation gescheitert ist, SWR2 Aula, Sendung vom Sonntag,
02. Juli 2017, 8.30 Uhr, Redaktion: Ralf Caspary, SWR 2017
Weitere Literatur von Josef Kraus: Wie
man eine Bildungsnation an die Wand fährt. Und was Eltern jetzt wissen
müssen, München 2017 - Helikopter-Eltern. Schluss mit Förderwahn
und Verwöhnung, Reinbek 2013 - Ist die Bildung noch zu retten? - eine
Streitschrift, München 2009 - Der Pisa-Schwindel. Unsere Kinder sind besser
als ihr Ruf. Wie Eltern und Schule Potentiale fördern können, Wien 2005 - Spaßpädagogik.
Sackgassen deutscher Schulpolitik, München 2., ergänzte Auflage, 1998.
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