Individuelle versus religiöse Moral
Wilhelm von Humboldt (1767 - 1835) |
Im Hinblick auf den Zweck des Staates wendet
sich Humboldt gegen die Ansicht, der Sinn des Staates bestünde darin, das „Glück zu befördern“, also alle übrigen Zwecke zu verfolgen, die „unter dem Namen des positiven Wohlstandes vereint“ werden können.
Stattdessen verteidigt Humboldt den Grundsatz,
dass allein „die Erhaltung der Sicherheit sowohl gegen auswärtige Feinde, als
innerliche Zwistigkeiten den Zweck des Staates ausmachen, und seine Wirksamkeit
beschäftigen muss.“
Allerdings erscheint Humboldt eine „vom Staat
angeordnete oder geleitete [moralische] Erziehung von vielen Seiten
bedenklich.“ Schon in den vorangegangenen Kapiteln seiner Abhandlung hatte Humboldt darauf hingewiesen, dass es bei der Bildung des Menschen vor allem auf
„Mannigfaltigkeit der Situationen“ ankäme. Wolle der Staat sich aber um das
moralische Wohl der Menschen kümmern, dann müsse er notwendigerweise „eine
bestimmte Form [der Moral] begünstigen.“
Dies betrifft insbesondere die Religion bzw.
religiöse Moral, der sich Humboldt im 7. Kapitel seiner Abhandlung widmet.
Humboldt will hier vor allem deutlich machen, „dass die
Moralität, auch bei der höchsten Konsequenz des Menschen, schlechterdings nicht
von der Religion abhängig, oder überhaupt notwendig mit ihr verbunden ist.“
Auch wenn die moralische Qualität einer Handlung
„unleugbar in einem ganz vorzüglichen Grade durch religiöse Gefühle empfohlen
wird, so ist dies weder das einzige, noch auch bei weitem ein auf alle
Charaktere anwendbares Mittel.“
Humboldt will also keinesfalls den potentiell
positiven Einfluss der Religion auf die Sittlichkeit leugnen, „es fragt sich
nur immer, ob er von einigen bestimmten Religionssätzen abhängt? und dann ob er so entschieden ist, dass Moralität und Religion darum in unzertrennlicher
Verbindung mit einander stehen? Beide Fragen müssen, glaube ich, verneint
werden.“
Unter Bezugnahme auf Kants Unterscheidung zwischen dem "Handeln aus Pflicht" und dem "pflichtgemäßen Handeln" argumentiert auch Humboldt: Auch der „kalte, bloss nachdenkende Mensch,
in dem die Erkenntnis nie in Empfindung übergeht, dem es genug ist, das Verhältnis der Dinge und
Handlungen einzusehen, um seinen Willen darnach zu bestimmen, bedarf keines Religionsgrundes,
um tugendhaft zu handeln, und, soviel es seinem Charakter nach möglich ist,
tugendhaft zu sein.“
So gebe es durchaus charakterstarke
Persönlichkeiten unabhängig von der religiösen Verfassung, „in welchen eine so
innige Konsequenz aller Ideen und Empfindungen herrscht, die eine so große
Tiefe der Erkenntnis und des Gefühls besitzen, dass daraus eine Stärke und
Selbstständigkeit hervorgeht, welche das Hingeben des ganzen Seins an ein fremdes
Wesen, das Vertrauen auf fremde Kraft, worin sich der Einfluss der Religion […]
äußert, weder fordert noch erlaubt.“
An dieser Stelle wird Humboldts Idee des
Individualismus erkennbar, der sich allein in Freiheit und ohne äußere
Beeinflussung entwickeln kann: So beruhe die religiöse Überzeugung auf der „Vorstellungsart,
nach welcher ein Wesen die Welt schuf und ordnete, und mit sorgender Weisheit
erhält.“ Für Humboldt dagegen „ist gleichsam die Kraft des Individuums heiliger“,
ihn „fesselt diese mehr, als die Allgemeinheit der Anordnung, und es stellt
sich […] daher öfter und natürlicher der […] entgegengesetzte Weg dar, auf welchen das Wesen der Individuen selbst, indem es sich in sich
entwickelt, und durch Einwirkung gegenseitig modifiziert, sich selbst zu der
Harmonie stimmt, in welcher allein der Geist, wie das Herz des Menschen, zu
ruhen vermag.“
Vor diesem Hintergrund stellt sich nun die
Frage, ob der Staat durch die Religion überhaupt auf die Sitten und das
moralische Verhalten der Bürger einwirken darf oder nicht. Es verwundert wenig,
wenn Humboldt zu dem Ergebnis kommt, „dass alles, was die Religion betrifft,
außerhalb der Grenzen der Wirksamkeit des Staates liegt.“
Wohl habe der Staat die Pflicht, die freie
Religionsausübung zu ermöglichen. Daher seien „Wegräumung der Hindernisse, mit
Religionsideen vertraut zu werden, und Begünstigung des freien Untersuchungsgeistes
[…] folglich die einzigen Mittel, deren der Gesetzgeber sich bedienen darf.“
Ginge er aber weiter und versuchte, „die Religiosität direkt zu befördern, oder
zu leiten“ nehme „gar gewisse bestimmte Ideen in Schutz“, so stelle er den
Glauben an eine Autorität über die wahre Überzeugung und hindert so „das Aufstreben
des Geistes, die Entwicklung der Seelenkräfte.“ Auf diese Weise bringe der
Staat vielleicht den Respekt vor den Gesetzen, „aber nie wahre Tugend hervor.
Denn wahre Tugend ist unabhängig von aller, und unverträglich mit befohlener, und
auf Autorität geglaubter Religion.“
Religion sei schließlich „ein fremdes, von außen
einwirkendes Mittel“ zur Erziehung des Menschen. Viel besser wäre es, die
Moralität der Bürger dadurch zu erhöhen, „dass sie alle Triebfedern zur
Beförderung des Zwecks des Staats allein in der Idee des Nutzens finden,
welchen ihnen die Staatseinrichtung zu Erreichung ihrer individuellen Absichten
gewährt. Zu dieser Einsicht aber ist Aufklärung und hohe Geistesbildung
notwendig, welche da nicht emporkommen können, wo der freie Untersuchungsgeist
durch Gesetze beschränkt wird.“
Wenn der Staat also die Religion als Mittel der
moralischen Erziehung der Bürger einsetzt, dann dürfe man „doch nie einseitig
vergessen, ihren Nutzen gegen ihren Schaden abzuwägen. Wie vielfach aber der
Schade eingeschränkter Denkfreiheit ist, bedarf wohl, nachdem es so oft gesagt,
und wieder gesagt ist, keiner weitläufigen Auseinandersetzung mehr.“
Es ist der „Nutzen freier Untersuchung“,
den Humboldt unter allen Umständen verteidigt. In einem Menschen, „der gewohnt
ist, Wahrheit und Irrtum, ohne Rücksicht auf äußere Verhältnisse für sich und
gegen andere zu beurteilen, und von anderen beurteilt zu hören, sind alle Prinzipien
des Handelns durchdachter, konsequenter, aus höheren Gesichtspunkten hergenommen.“
Der Glaube dagegen ist letztlich „Vertrauen auf fremde Kraft, fremde intellektuelle
oder moralische Vollkommenheit.“ So sei in dem untersuchenden und kritischen Denker
„mehr Selbstständigkeit, mehr Festigkeit; in dem vertrauenden Gläubigen mehr
Schwäche, mehr Untätigkeit.“
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Deutlich wird der Unterschied zwischen beiden Geisteshaltung bei der Entdeckung von Irrtümern und Denkfehlern. Der selbstständig
denkende Mensch ist sich „der Stärke seiner Seele bewusst, er fühlt, dass seine
wahre Vollkommenheit, seine Glückseligkeit eigentlich auf dieser Stärke beruht;
statt dass Zweifel an den Sätzen, die er bisher für wahr hielt, ihn drücken
sollten, freut es ihn, dass seine Denkkraft so viel gewonnen hat, Irrtümer
einzusehen, die ihm vorher verborgen blieben.“
„Der Glaube hingegen kann nur Interesse an dem
Resultat selbst finden, denn für ihn liegt in der erkannten Wahrheit nichts
mehr. Zweifel, die seine Vernunft erregt, peinigen ihn. Denn sie sind nicht,
wie in dem selbst denkenden Kopfe, neue Mittel zur Wahrheit zu gelangen; sie
nehmen ihm bloß die Gewissheit, ohne ihm ein Mittel anzuzeigen, dieselbe auf
eine andre Weise wieder zu erhalten.“
Daher habe jede Unterdrückung der Vernunft, jede
Einschränkung der Geistesfreiheit fatale Folgen für die Ausbildung moralischer
Urteilskraft der Bürger. Natürlich habe der Staat ausreichende Mittel zur
Verfügung, den Respekt vor den Gesetzen durchzusetzen und Verbrechen zu
verhüten. Aber alle diese Mittel „wehren nur den Ausbrüchen“ und bringen nur
„äußere Handlungen hervor.“ Geistesfreiheit aber „und die Aufklärung, die nur
unter ihrem Schutz gedeiht“, wirkt „auf die Neigungen und Gesinnungen“ und
schaffe so „eine innere Harmonie des Willens und des Bestrebens.“
Wenn also etwas einen positiven Einfluss auf die
Erhaltung der inneren Sicherheit und die moralische Urteilskraft der Bürger
hat, dann ist es die Freiheit: „Je freier ferner der Mensch ist, desto selbstständiger
wird er in sich, und desto wohlwollender gegen andere.“
So würde auch der in Fragen der Religion völlig
frei entscheidende Bürger “nach seinem individuellen Charakter
religiöse Gefühle in sein Inneres verweben, oder nicht; aber in jedem Fall wird
sein Ideensystem konsequenter, seine Empfindung tiefer, in seinem Wesen mehr
Einheit sein, und so wird ihn Sittlichkeit und Gehorsam gegen die Gesetze mehr
auszeichnen. Der durch mancherlei Anordnungen beschränkte hingegen wird - trotz
derselben - eben so verschieden Religionsideen aufnehmen, oder nicht; allein in
jedem Fall wird er weniger Konsequenz der Ideen, weniger Innigkeit des Gefühls,
weniger Einheit des Wesens besitzen, und so wird er die Sittlichkeit minder ehren,
und dem Gesetz öfter ausweichen wollen.
Daher liege alles, was die Religion betrifft,
außerhalb der Grenzen der Wirksamkeit des Staates „und dass die Prediger, wie
der ganze Gottesdienst überhaupt, eine, ohne alle besondere Aufsicht des Staats
zu lassende Einrichtung der Gemeinen sein müssten.“
Nachtrag:
Ähnlich argumentiert Humboldt im 8. Kapitel hinsichtlich der Frage, "ob der Staat positiv auf die Sitten zu wirken versuchen dürfe", ob er also "einzelne Handlungen der Bürger zu verbieten, oder zu bestimmen, die teils an sich unsittlich sind […], teils leicht zur Unsittlichkeit führen."
Letztlich gehe es dabei um die Frage, ob es dem "dem wahren Endzweck des Staats angemessen [sei], die Sinnlichkeit — aus welcher eigentlich alle Kollisionen unter den Menschen entspringen, […] in den gehörigen Schranken zu halten; und, weil dies freilich das leichteste Mittel hierzu scheint, so viel als möglich zu unterdrücken."
Auch wenn die Sinnlichkeit die "Quelle einer großen Menge physischer und moralischer Übel sei", und die Vorstellung sich anbiete, "der Sittenverderbnis durch Gesetze und Staatseinrichtungen entgegen zu kommen", so dürfe es dennoch dem Staate grundsätzlich nicht erlaubt sein, "mit positiven Endzwecken auf die Lage der Bürger zu wirken."
Auch wenn solche Gesetze und Einrichtungen wirksam wären, "so würde nur mit dem Grade ihrer Wirksamkeit auch ihre Schädlichkeit steigen. Ein Staat, in welchem die Bürger durch solche Mittel genötigt oder bewogen würden, auch den besten Gesetzen zu folgen, könnte ein ruhiger, friedliebender, wohlhabender Staat sein; allein er würde mir immer ein Haufe ernährter Sklaven, nicht eine Vereinigung freier, nur, wo sie die Grenze des Rechts übertreten, gebundener Menschen scheinen."
Weder würde durch diese Form staatlicher Bevormundung die "Kraft der Seele" der Menschen erhöht, noch erhielten seine Ideen "mehr Aufklärung", noch sein "Wille mehr Kraft", die unsittlichen Neigungen zu besiegen. "An wahrer, eigentlicher Vollkommenheit gewinnt er folglich nichts."
Wer also den Menschen "bilden, nicht zu äußeren Zwecken erziehen will, wird sich dieser Mittel nie bedienen. Denn abgerechnet, dass Zwang und Leitung nie Tugend hervorbringen; so schwächen sie auch noch immer die Kraft", denn "Die Freiheit erhöht die Kraft […] Zwang erstickt die Kraft."
So verteidigt Humboldt schließlich den Grundsatz, "dass der Staat sich schlechterdings alles Bestrebens, direkt oder indirekt auf die Sitten und den Charakter der Nation anders zu wirken, als insofern dies als eine natürliche, von selbst entstehende Folge seiner übrigen schlechterdings notwendigen Maßregeln unvermeidlich ist, gänzlich enthalten müsse, und dass alles, was diese Absicht befördern kann, vorzüglich alle besondere Aufsicht auf Erziehung, Religionsanstalten, Luxusgesetze usf. schlechterdings außerhalb der Schranken seiner Wirksamkeit liege."
Zitate aus: Wilhelm von
Humboldt: Ideen zu einem Versuch, die Gränzen der Wirksamkeit des Staats zu
bestimmen, Volltext
im Deutschen Textarchiv, hier: Kapitel III bis VII.
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