Die Sorgfalt des Staates für den positiven Wohlstand
Wilhelm von Humboldt (1767 - 1835) |
Humboldt geht dabei von den Prämissen aus,
dass neben der Freiheit des Individuums „die Entwicklung der menschlichen
Kräfte noch etwas anderes [erfordert], obgleich mit der Freiheit eng
verbundenes, - Mannigfaltigkeit der Situationen“, denn „auch der freieste und
unabhängigste Mensch, in einförmige Lagen versetzt, bildet sich minder
aus."
So kommt Humboldt zu dem Schluss, „dass die wahre Vernunft
dem Menschen keinen anderen Zustand als einen solchen wünschen kann, in welchem
jeder Einzelne die ungebundenste Freiheit geniest“, um sich „aus sich selbst,
in seiner Eigentümlichkeit zu entwickeln.“ In diesem Zustand dürfe auch die
„physische Natur [des Menschen] keine andere Gestalt von Menschenhänden“
empfangen, als die, die jeder Einzelne sich selbst gibt, „nach dem Maß seiner
Bedürfnisse und seiner Neigungen, allein beschränkt durch die Grenzen seiner
Kraft und des Rechts.“
Im Hinblick auf den möglichen Zweck des Staates nennt Humboldt zwei gegensätzliche Antworten: Zum
einen kann der Zweck des Staates in der notwendigen Pflicht bestehen, „Übel zu verhindern“ und so für die Sicherheit der Bürger zu
sorgen und zum anderen kann der Staat sich versucht fühlen, das „Glück zu befördern“, also alle übrigen
Zwecke zu verfolgen, die „unter dem Namen des positiven Wohlstandes vereint“
werden können.
Baggern für den Wohlstand
(Foto: picture-alliance / Eibner-Presse/picture alliance)
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Unter positivem Wohlstand versteht Humboldt nun „den
Unterhalt der Einwohner, teils geradezu durch Armenanstalten, teils mittelbar
durch Beförderung des Ackerbaues, der Industrie und des Handels, von allen
Finanz- und Münzoperationen, Ein- und Ausfuhr-Verboten u.s.f. (in so fern sie
diesen Zweck haben) endlich allen Veranstaltungen zur Verhütung oder
Herstellung von Beschädigungen durch die Natur, kurz von jeder Einrichtung des
Staats, welche das physische Wohl der Nation zu erhalten, oder zu befördern die
Absicht hat.“
Alle diese Einrichtungen nun, behauptet Humboldt mit
überraschender Deutlichkeit, „haben nachteilige Folgen, und sind einer
wahren, von den höchsten, aber immer menschlichen Gesichtspunkten ausgehenden
Politik unangemessen.
Humboldt geht davon aus, dass in jeder dieser Maßnahmen „der
Geist der Regierung herrscht … und wie weise und heilsam dieser Geist auch sei,
so bringt er Einförmigkeit und eine fremde Handlungsweise … hervor.“
Einförmigkeit aber – darauf hatte schon Aristoteles hingewiesen – bedeutet das Ende der staatlichen Gemeinschaft: „Gerade die aus
der Vereinigung Mehrerer entstehende Mannigfaltigkeit ist das höchste Gut,
welches die Gesellschaft gibt, und diese Mannigfaltigkeit geht gewiss immer mit jedem Grade der Einmischung des Staats verloren.“
Dies führe dazu, dass eigentlich keine freien und
selbstbestimmten Bürger „mit sich in Gemeinschaft leben, sondern einzelne
Untertanen, welche mit dem Staat, d.h. dem Geiste, welcher in seiner Regierung
herrscht, in Verhältnis kommen, und zwar in ein Verhältnis, in welchem schon
die überlegene Macht des Staats das freie Spiel der Kräfte hemmt.“
Es ist die ewige Überzeugung des klassischen Liberalismus,
wenn Humboldt schreibt, dass „je mehr also der Staat mitwirkt, desto ähnlicher
ist nicht bloß alles Wirkende, sondern auch alles Gewirkte.“ Natürlich sei
genau das die eigentliche Absicht der Herrschenden: „Sie wollen Wohlstand und Ruhe.
Beide aber erhält man immer dann leicht, wenn das Einzelne wenig miteinander streitet.“ Dennoch ist das, „was der Mensch beabsichtigt und beabsichtigen
muss, … etwas [ganz] anders, es ist Mannigfaltigkeit und Tätigkeit. Nur dies gibt
vielseitige und kraftvolle Charaktere.“
Ruhe und Ordnung - erste Bürgerpflicht? |
Wer nun das Gegenteil davon verteidige, „den hat man, und
nicht mit Unrecht, in Verdacht, dass er die Menschheit missachtet, und aus
Menschen Maschinen machen will.“
„Alles im Menschen ist Organisation. Was in ihm gedeihen
soll, muss in ihm gesät werden.“ Diese überaus pädagogische Weisheit führt
Humboldt zu einem weiteren Argumentationsstrang gegen die Absicht des Staates,
den positiven Wohlstand – also das Glück – der Bürger zu verwirklichen.
Humboldt - und hier zeigt sich seine humanistische Herkunft
– geht davon aus, dass der Verstand des Menschen wie jede andere seiner Kräfte
auch, „nur durch eigene Tätigkeit und eigene Erfindungsgabe … gebildet“ werde.
„Anordnungen des Staates aber führen immer - mehr oder minder - Zwang mit sich,
und selbst, wenn dies der Fall nicht ist, so gewöhnen sie den Menschen zu sehr,
mehr fremde Belehrung, fremde Leitung, fremde Hilfe zu erwarten, als selbst auf
Auswege zu denken.“
So verfalle der Staat allzu gern darauf, „die Bürger [zu] belehren“,
indem er „das aufstellt, was er für das Beste erklärt, gleichsam das Resultat seiner
Untersuchungen, und entweder direkt durch ein Gesetz, oder indirekt
durch irgendeine die Bürger bindende Einrichtung befiehlt.“
Dagegen verteidigt Humboldt die Strategie, den
Menschen „gleichsam alle mögliche Auflösungen des Problems vorzulegen, und den
Menschen nur darauf vorzubereiten, die schicklichste selbst zu wählen, oder noch besser,
diese Auflösung selbst nur aus der gehörigen Darstellung aller Hindernisse zu erfinden.“
Der bessere Weg: Die Menschen darauf vorbereiten, selbst wählen zu können! |
Dies aber könne der Staat „bei erwachsenen Bürgern nur auf eine negative Weise“, also durch die Schaffung von Sicherheit und Freiheit erreichen, „die zugleich
Hindernisse entstehen lässt, und zu ihrer Hinwegräumung Stärke und Geschicklichkeit
gibt.“
Wolle der Staat aber auf eine „positive Weise“ für Wohlstand
sorgen, dann leide durch „eine zu ausgedehnte Sorgfalt des Staates die Energie
des Handelns überhaupt, und der moralische Charakter“: „Wer oft und viel
geleitet wird, kommt leicht dahin, den Überrest seiner Selbsttätigkeit
gleichsam freiwillig zu opfern. Er glaubt sich der Sorge überhoben, die er in
fremden Händen sieht, und glaubt genug zu tun, wenn er ihre Leitung erwartet und ihr
folgt.“
Das Glück aber würde man mit dieser Methode jedenfalls nicht
finden, denn das Glück, „zu welchem der Mensch bestimmt ist, ist auch kein
anderes, als welches seine Kraft ihm verschafft; und diese Lagen gerade sind
es, welche den Verstand schärfen, und den Charakter bilden.“
So wird das Postulat der Freiheit wieder zum Dreh- und
Angelpunkt des Verständnis vom Staat und vom Menschen bei Humboldt: „Allein freilich ist die Freiheit notwendige Bedingung, ohne welche selbst das seelenvollste Geschäft
keine heilsamen Wirkungen dieser Art hervor zu bringen vermag. Was nicht von
dem Menschen selbst gewählt, worin er auch nur eingeschränkt und geleitet wird,
das geht nicht in sein Wesen über, das bleibt ihm ewig fremd, das verrichtet er
nicht eigentlich mit menschlicher Kraft, sondern mit mechanischer Fertigkeit.“
Die Gefahr des positiven Wohlstands |
So verhindere der Staat durch sein Eingreifen „die
Entwicklung der Individualität und Eigentümlichkeit des Menschen in dem
moralischen und überhaupt praktischen Leben des Menschen“, weil letztlich jede Einschränkung mit der Ausbildung der freien und natürlichen Kräfte des
Menschen kollidiere.
Ein letztes Argument gegen die positive Wohlfahrt des
Staates betrifft die Auswirkungen auf den Staatsapparat selbst: Der Anspruch
des Staates, mit direkten Mitteln das Glück der Menschen zu befördern, führt
nicht nur dazu, „dass ein solcher Staat größerer Einkünfte bedarf, sondern er
erfordert auch künstlichere Anstalten zur Erhaltung der eigentlichen
politischen Sicherheit, die Ziele hängen weniger von selbst fest zusammen, die
Sorgfalt muss bei weitem tätiger sein.“
Auf diese Weise erhalte die staatliche Verwaltung jedoch
„eine Verflechtung, welche … eine unglaubliche Menge detaillierter
Einrichtungen bedarf und eben so viele Personen beschäftigt.“ Dadurch entstehe
aber ein Erwerbszweig, die „Besorgung von Staatsgeschäften, und dieser macht
die Diener des Staats so viel mehr von dem regierenden Teile des Staats, der
sie besoldet, als eigentlich von der Nation abhängig.“
Verwaltung von Glück? |
Das Ergebnis dieser Entwicklung ist für Humboldt
offensichtlich: „Die Menschen … werden um der Sachen, die Kräfte um der
Resultate willen vernachlässigt. Ein Staat gleicht nach diesem System mehr
einer aufgehäuften Menge von leblosen und lebendigen Werkzeugen der Wirksamkeit
und des Genusses, als einer Menge tätiger und genießender Kräfte. Bei der
Vernachlässigung der Selbsttätigkeit der handelnden Wesen scheint nur auf
Glückseligkeit und Genuss gearbeitet zu sein.“
Damit entferne sich der Einzelne gleichwohl immer weiter von
seiner Würde, denn der Mensch „genießt am meisten in den Momenten, in welchen
er sich in dem höchsten Grade seiner Kraft und seiner Einheit fühlt.“
Es sei wohl kein Zufall, dass „in den meisten Staaten von
Jahrzehnt zu Jahrzehnt das Personale der Staatsdiener [zunimmt], und der Umfang
der Registraturen, und die Freiheit der Untertanen ab.“
So kommt Humboldt abschließend zu einem eindeutigen Urteil:
„Der Staat enthalte sich aller Sorgfalt für den positiven Wohlstand
der Bürger, und gehe keinen Schritt weiter, als zu ihrer Sicherstellung gegen
sich selbst und gegen auswärtige Feinde notwendig ist; zu keinem anderen Endzwecke
beschränke er ihre Freiheit.“
Zitate
aus: Wilhelm von Humboldt: Ideen zu einem Versuch, die Gränzen der Wirksamkeit
des Staats zu bestimmen, Volltext im Deutschen Textarchiv, hier: Kapitel II und III.
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