Donnerstag, 24. Juli 2014

Sommerlektüre: Wilhelm von Humboldt und die Grenzen des Staates - Teil 4


Über den Zweck des Staates

In seiner 1792 verfassten Abhandlung „Ideen zu einem Versuch, die Grenzen der Wirksamkeit des Staates zu bestimmen“ verteidigt Humboldt das Anliegen, dass jeder Einzelne ein freies und selbstbestimmtes Leben führen kann - gegen einen umfassenden Ordnungsanspruch des Staates.

Das Denkmal vor der Humboldt-Universität Berlin

Im Hinblick auf den Zweck des Staates wendet sich Humboldt gegen die Ansicht, dass der Sinn des Staates darin bestünde, das „Glück zu befördern“, also alle übrigen Zwecke zu verfolgen, die „unter dem Namen des positiven Wohlstandes vereint“ werden können.

Stattdessen verteidigt Humboldt den Grundsatz, dass allein „die Erhaltung der Sicherheit sowohl gegen auswärtige Feinde, als innerliche Zwistigkeiten den Zweck des Staates ausmachen, und seine Wirksamkeit beschäftigen muss.“

Ähnlich wie Thomas Hobbes und andere Vertreter des Liberalismus geht auch Humboldt von einem pessimistischen Menschenbild aus. So wäre „schlechterdings keine Staatsvereinigung notwendig“, wenn der Mensch nicht ständig „über die rechtmäßig gezogenen Schranken hinaus in das Gebiet der anderen [Menschen] eingreifen würde“, wenn es also das Übel der „Begierde nach Mehr“ - was die Griechen mit dem Worte πλεονεξία umschrieben – „und die daraus entspringende Zwietracht“ nicht gäbe.

Die Uneinigkeiten der Menschen – „denn bei der Zwietracht entstehen Kämpfe aus Kämpfen“ – aber erfordern schlechterdings eine solche … [staatliche] Gewalt, die allein die Sicherheit der Bürger garantieren kann.

Der Mensch ist dem Menschen ein Wolf (Hobbes)
© F.A.Z.-FOSSHAG
Der Staat existiert also um der Sicherheit willen, denn „ohne Sicherheit vermag der Mensch weder seine Kräfte ausbilden, noch die Frucht derselben genießen, denn ohne Sicherheit ist keine Freiheit.“

Das Problem aber ist, dass der Einzelne allein sich diese Sicherheit nicht verschaffen könne. Dies wird insbesondere dann deutlich, wenn es darum geht, die Sicherheit der Menschen „gegen auswärtige Feinde“ zu verteidigen.

Vor allem aber gelte der Grundsatz, dass der Staat für die innere Sicherheit der Bürger die Sorgfalt trage. Ein Blick in die Geschichte mache deutlich, dass es schon in der klassischen Antike zu den Aufgaben der Herrscher gehört habe, das friedliche Zusammenleben der Menschen zu garantieren:

„Siehe, die Völker schauen gesamt auf ihn, 
der Urteil spricht und Entscheidung
Nach durchgehendem Recht; 
denn mit Nachdruck redet er treffend,
Und weiß schnell auch ein großes Gezänk zu versöhnen; mit Klugheit.
Darum sind Volkspfleger verstandvoll, 
daß sie den Völkern
Öffentlich vollen Ersatz für Beleidigung schaffen 
und Kränkung.“ 
(Hesiod, Theogonie, 84-89)

Um diesen Zweck zu erreichen, stünden dem Staat drei Wege offen: Er könne sich zunächst damit „begnügen, begangene Unordnungen wieder herzustellen, und zu bestrafen“. Weiter könne er „ihre Begehung überhaupt zu verhüten suchen“. Schließlich könne der Staat „zu diesem Endzweck den Bürgern, ihrem Charakter und ihrem Geist, eine Wendung zu erteilen bemüht sein, die hierauf abzweckt.“

Im Unterschied zu den ersten beiden Wegen, an denen er wenig auszusetzen hat, geht Humboldt mit der Absicht des Staates, das „moralische Wohl der Bürger“ in eine bestimmte Richtung beeinflussen zu wollen, außerordentlich kritisch ins Gericht.

Ihm erscheint eine „vom Staat angeordnete oder geleitete [moralische] Erziehung von vielen Seiten bedenklich.“ Schon in den vorangegangenen Kapiteln seiner Abhandlung hatte Humboldt darauf hingewiesen, dass es bei der Bildung des Menschen vor allem auf „Mannigfaltigkeit der Situationen“ ankäme. Wolle der Staat sich aber um das moralische Wohl der Menschen kümmern, dann müsse er notwendigerweise „eine bestimmte Form [der Moral] begünstigen.“

Humboldt entlarvt an dieser Stelle das eigentliche Interesse der staatlichen Einflussnahme auf die moralische Verfassung seiner Bürger: „Sobald der Untertan den Gesetzen gehorcht, und sich und die Seinigen im Wohlstande und einer nicht schädlichen Tätigkeit erhält, kümmert den Staat die genauere Art seiner Existenz nicht.“

Öffentliche moralische Erziehung ... ?
(Bild: AKG)

Eine öffentliche moralische Erziehung habe daher gar nicht den Menschen als moralisches Wesen im Blick, sondern suche allein „ein Gleichgewicht aller, da nichts so sehr, als gerade dies, die Ruhe hervorbringt und erhält, welche eben diese Staaten am eifrigsten beabsichtigen.“ Humboldt dagegen ist der Überzeugung, dass „die freieste … Bildung des Menschen überall vorangehen“ müsse. Der so gebildete Mensch müsste dann in den Staat eintreten, und die Verfassung des Staats gleichsam an sich selbst prüfen.

Wenn also die Erziehung überhaupt nur Menschen bilden sollte, „so bedarf es des Staats nicht“, denn „unter freien Menschen gewinnen alle Gewerbe bessern Fortgang; blühen alle Künste schöner auf; erweitern sich alle Wissenschaften. Unter ihnen sind auch alle Familienbande enger, die Eltern eifriger bestrebt für ihre Kinder zu sorgen, und, bei höherem Wohlstande, auch vermögender, ihrem Wunsche hierin zu folgen. Bei freien Menschen entsteht Nacheiferung, und es bilden sich bessere Erzieher, wo ihr Schicksal von dem Erfolg ihrer Arbeiten, als wo es von der Beförderung abhängt, die sie vom Staate zu erwarten haben.“

Vor allem aber erreiche eine öffentliche moralische Erziehung überhaupt nicht den Zweck, die Sicherheit der Bürger zu gewährleisten, denn „Tugend und Laster hängen nicht an dieser oder jener Art des Menschen zu sein, sind nicht mit dieser oder jener Charakterseite notwendig verbunden. (…) Jede bestimmte Charakterbildung ist daher eigener Ausschweifungen fähig, und artet in dieselben aus.“

So liege also eine öffentliche Erziehung, die dem Menschen eine bestimmte moralische Form erteilen will, eindeutig außerhalb der Grenzen der Wirksamkeit des Staates.
  
Zitate aus: Wilhelm von Humboldt: Ideen zu einem Versuch, die Gränzen der Wirksamkeit des Staats zu bestimmen, Volltext im Deutschen Textarchiv, hier: Kapitel III bis VI.   -   Weitere Literatur: Hesiod: Theogonie, online beim Projekt Gutenberg-De 

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