Über den Zweck des Staates
In seiner 1792 verfassten Abhandlung „Ideen zu einem Versuch, die Grenzen der Wirksamkeit des Staates zu bestimmen“ verteidigt Humboldt das Anliegen, dass jeder Einzelne ein freies und selbstbestimmtes Leben führen kann - gegen einen umfassenden Ordnungsanspruch des Staates.
Das Denkmal vor der Humboldt-Universität Berlin |
Im Hinblick auf den Zweck des Staates wendet
sich Humboldt gegen die Ansicht, dass der Sinn des Staates darin bestünde, das „Glück zu befördern“, also alle übrigen Zwecke zu verfolgen, die „unter dem Namen des positiven Wohlstandes vereint“ werden können.
Stattdessen verteidigt Humboldt den Grundsatz,
dass allein „die Erhaltung der Sicherheit sowohl gegen auswärtige Feinde, als
innerliche Zwistigkeiten den Zweck des Staates ausmachen, und seine Wirksamkeit
beschäftigen muss.“
Ähnlich wie Thomas Hobbes und andere Vertreter des Liberalismus geht auch Humboldt von einem
pessimistischen Menschenbild aus. So wäre „schlechterdings keine
Staatsvereinigung notwendig“, wenn der Mensch nicht ständig „über die
rechtmäßig gezogenen Schranken hinaus in das Gebiet der anderen [Menschen]
eingreifen würde“, wenn es also das Übel der „Begierde nach Mehr“ - was die
Griechen mit dem Worte πλεονεξία umschrieben – „und die daraus entspringende
Zwietracht“ nicht gäbe.
Die Uneinigkeiten der Menschen – „denn bei der
Zwietracht entstehen Kämpfe aus Kämpfen“ – aber erfordern schlechterdings eine
solche … [staatliche] Gewalt, die allein die Sicherheit der Bürger garantieren
kann.
Der Mensch ist dem Menschen ein Wolf (Hobbes) © F.A.Z.-FOSSHAG |
Der Staat existiert also um der Sicherheit
willen, denn „ohne Sicherheit vermag der Mensch weder seine Kräfte ausbilden,
noch die Frucht derselben genießen, denn ohne Sicherheit ist keine Freiheit.“
Das Problem aber ist, dass der Einzelne allein sich
diese Sicherheit nicht verschaffen könne. Dies wird insbesondere dann deutlich, wenn es darum geht, die Sicherheit der Menschen „gegen auswärtige
Feinde“ zu verteidigen.
Vor allem aber gelte der Grundsatz, dass der
Staat für die innere Sicherheit der Bürger die Sorgfalt trage. Ein Blick in die
Geschichte mache deutlich, dass es schon in der klassischen Antike zu den Aufgaben der Herrscher
gehört habe, das friedliche Zusammenleben der Menschen zu garantieren:
„Siehe, die Völker schauen gesamt auf ihn,
der
Urteil spricht und Entscheidung
Nach durchgehendem Recht;
denn mit Nachdruck
redet er treffend,
Und weiß schnell auch ein großes Gezänk zu
versöhnen; mit Klugheit.
Darum sind Volkspfleger verstandvoll,
daß sie
den Völkern
Öffentlich vollen Ersatz für Beleidigung
schaffen
und Kränkung.“
(Hesiod, Theogonie, 84-89)
Um diesen Zweck zu erreichen, stünden dem Staat drei Wege
offen: Er könne sich zunächst damit „begnügen, begangene Unordnungen wieder
herzustellen, und zu bestrafen“. Weiter könne er „ihre Begehung überhaupt zu
verhüten suchen“. Schließlich könne der Staat „zu diesem Endzweck den Bürgern,
ihrem Charakter und ihrem Geist, eine Wendung zu erteilen bemüht sein, die
hierauf abzweckt.“
Im Unterschied zu den ersten beiden Wegen, an denen er wenig
auszusetzen hat, geht Humboldt mit der Absicht des Staates, das „moralische
Wohl der Bürger“ in eine bestimmte Richtung beeinflussen zu wollen, außerordentlich kritisch ins Gericht.
Ihm erscheint eine „vom Staat angeordnete oder geleitete
[moralische] Erziehung von vielen Seiten bedenklich.“ Schon in den vorangegangenen Kapiteln seiner Abhandlung hatte Humboldt darauf hingewiesen,
dass es bei der Bildung des Menschen vor allem auf „Mannigfaltigkeit der
Situationen“ ankäme. Wolle der Staat sich aber um das moralische Wohl der
Menschen kümmern, dann müsse er notwendigerweise „eine bestimmte Form [der
Moral] begünstigen.“
Humboldt entlarvt an dieser Stelle das eigentliche Interesse
der staatlichen Einflussnahme auf die moralische Verfassung seiner Bürger: „Sobald
der Untertan den Gesetzen gehorcht, und sich und die Seinigen im Wohlstande und
einer nicht schädlichen Tätigkeit erhält, kümmert den Staat die genauere Art
seiner Existenz nicht.“
Öffentliche moralische Erziehung ... ? (Bild: AKG) |
Eine öffentliche moralische Erziehung habe daher gar nicht
den Menschen als moralisches Wesen im Blick, sondern suche allein „ein
Gleichgewicht aller, da nichts so sehr, als gerade dies, die Ruhe hervorbringt
und erhält, welche eben diese Staaten am eifrigsten beabsichtigen.“ Humboldt
dagegen ist der Überzeugung, dass „die freieste … Bildung des Menschen überall
vorangehen“ müsse. Der so gebildete Mensch müsste dann in den Staat eintreten,
und die Verfassung des Staats gleichsam an sich selbst prüfen.
Wenn also die Erziehung überhaupt nur Menschen bilden
sollte, „so bedarf es des Staats nicht“, denn „unter freien Menschen gewinnen
alle Gewerbe bessern Fortgang; blühen alle Künste schöner auf; erweitern sich
alle Wissenschaften. Unter ihnen sind auch alle Familienbande enger, die Eltern
eifriger bestrebt für ihre Kinder zu sorgen, und, bei höherem Wohlstande, auch vermögender,
ihrem Wunsche hierin zu folgen. Bei freien Menschen entsteht Nacheiferung, und
es bilden sich bessere Erzieher, wo ihr Schicksal von dem Erfolg ihrer
Arbeiten, als wo es von der Beförderung abhängt, die sie vom Staate zu erwarten
haben.“
Vor allem aber erreiche eine öffentliche moralische
Erziehung überhaupt nicht den Zweck, die Sicherheit der Bürger zu
gewährleisten, denn „Tugend und Laster hängen nicht an dieser oder jener Art
des Menschen zu sein, sind nicht mit dieser oder jener Charakterseite notwendig
verbunden. (…) Jede bestimmte Charakterbildung ist daher eigener
Ausschweifungen fähig, und artet in dieselben aus.“
So liege also eine öffentliche Erziehung, die dem Menschen
eine bestimmte moralische Form erteilen will, eindeutig außerhalb der Grenzen
der Wirksamkeit des Staates.
Zitate aus: Wilhelm von
Humboldt: Ideen zu einem Versuch, die Gränzen der Wirksamkeit des Staats zu bestimmen, Volltext
im Deutschen Textarchiv, hier: Kapitel III bis VI. -
Weitere Literatur: Hesiod: Theogonie, online beim Projekt Gutenberg-De
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