Donnerstag, 22. Juni 2017

Ottfried Höffe und der Unterschied zwischen dem antiken und neuzeitlichen Menschen

In seinem Buch „Die Macht der Moral im 21. Jahrhundert. Annäherungen an eine zeitgemäße Ethik“ zeigt Otfried Höffe, daß Fragen zu Ethik und moralischem Handeln immer wieder neu gestellt werden müssen und versucht Antworten auf diese Fragen zu finden - ohne unverständliche Terminologie und vor allem ohne moralischen Zeigefinger.

Gegen die Kulturpessimisten, die die Welt werde mit jeder Generation schlechter, betont Höffe, dass in Wahrheit jede Zeit ihre eigenen Herausforderungen zu meistern habe, auf die sie in den letzten Dezennien mehr und mehr moralisch sensibel zu antworten sucht. Schon darin zeigt sich die Macht, sogar eine wachsende Macht der Moral.

Man darf freilich nicht so naiv sein zu glauben, man müsste deshalb mit der heutigen Welt zufrieden sein, weil sie all ihre Herausforderungen sachgerecht und zugleich moralisch angemessen meistere. Ohnehin ist beides umstritten, sowohl die Frage, worin die genaue Herausforderung, als auch die Anschlußfrage, worin die sachgerechte und zugleich moralisch angemessene Antwort liegt. In dieser Situation dürfte der Beitrag der Philosophie von Moral, der philosophischen Ethik, willkommen sein.

Eine Ethik, zumal eine für mündige Bürger, schlägt selbstverständlich keine Rezepte vor. Ihr Medium bilden Begriffe und Argumente, die sich durch eine Rückwendung des Menschen auf sich und seine Welt, also durch den Charakter einer möglichst erfahrungsgesättigten Reflexion, auszeichnen. In diesem Zusammenhang geht Höffe auch auf den Unterschied zwischen dem antiken und neuzeitlichen Menschen ein.

Im antiken Griechenland richtete sich der griechische Bürger selbst in Zeiten der Demokratie noch lange an den Normen der altgriechischen Adelsgesellschaft aus. Er war vor allem Landbesitzer, Krieger und an den politischen Geschäften beteiligt. Der Sphäre der Arbeit abgeneigt, sogar feindlich eingestellt, überließ er die Landarbeit lieber den Sklaven oder, falls zu arm, um einen Sklaven zu erwerben, einem Ochsen, wie Aristoteles in seiner „Politik“ (I 2, 1252b 10ff.) beschreibt. Handel und Gewerbe dagegen betrieben vorwiegend Nichtbürger, also Sklaven, niedergelassene Ausländer und Ausländer.

Griechische Bürger bei der Volksversammlung auf der Pnyx

Dieser weitgehend personalen Trennung von Staat und Gesellschaft tritt die Neuzeit mit einer institutionellen Trennung entgegen, die sich mit einer personalen Einheit verbindet. Anders als der antike Bürger muß der neuzeitliche Bürger nämlich in der Regel beides in einem sein, sowohl Arbeitssubjekt bzw. Wirtschaftsbürger als auch Staatsbürger, also Bourgeois - in einem weiten, auch Angestellte und Arbeiter umfassenden Sinn -  und Citoyen zugleich.

Diese Einheit beweist nicht bloß ein hohes Maß an sozialer Demokratisierung; sie eröffnet auch jedem große Chancen zur Selbstverwirklichung. Die Arbeit hilft nämlich nicht bloß, den Lebensunterhalt zu sichern und die materiellen Lebensbedingungen zu verbessern. Das könnte eine wohlhabende Gesellschaft einem Teil der Bevölkerung überlassen, um den anderen Teil unter dem so schön klingenden Titel „Bürgerlohn“ zu alimentieren.

In der modernen Welt leistet die Arbeit aber weit mehr. Das Mehr beginnt mit der Bildung und Ausbildung. Um später einen angemessenen Arbeitsplatz zu finden, muß der Jugendliche Kenntnisse, Fähigkeiten und Fertigkeiten erwerben, einschließlich der Fähigkeit zum beruflichen und sozialen Weiterlernen und zur beruflichen und sozialen Mobilität, sowie Einstellungen wie Arbeitswillen, Leistungs- und Kooperationsbereitschaft und nicht zuletzt Kreativität. Auf diese Weise kann er seine Begabungen entfalten, sie sogar zu Höchstleistungen fortbilden, und zwar zu begabungsrelativ, nicht nur absolut bewundernswerten Leistungen.

Immanuel Kant
Für den wichtigsten Moral-philosophen der Neuzeit, Kant, ist die Entfaltung der eigenen Talente ein moralisches Gebot. In der Regel genügt das normativ bescheidenere Argument, daß die für den Menschen unverzichtbare Anerkennung, sowohl die Selbstanerkennung (das Selbstwertgefühl) als auch die Fremdanerkennung, in hohem Maß vom Platz in der Berufs- und Arbeitswelt bestimmt wird.

Erneut widerspricht das aufgeklärte Selbst- und Sicherheitsinteresse einem zu hohen Sicherheitsdenken. Eine Wirtschafts- und Sozialpolitik sollte jedenfalls zweierlei durch die tatsächliche Politik statt bloß durch „fromme Worte“ prämieren, nämlich die Schaffung von Arbeitsplätzen und jene Suche nach ihnen, die auch Mühen und Durststrecken in Kauf nimmt. Wer diese Politik nicht schon aus Subsidiaritäts- und Gerechtigkeitsgründen einschlägt, sollte sie zumindest aus einem aufgeklärten Paternalismus verfolgen.


Zitate aus: Otfried Höffe: Die Macht der Moral im 21. Jahrhundert. Annäherungen an eine zeitgemäße Ethik, München 2014

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