In seinem Buch „Die Macht der Moral im 21. Jahrhundert. Annäherungen
an eine zeitgemäße Ethik“ zeigt Otfried Höffe, daß Fragen zu Ethik und
moralischem Handeln immer wieder neu gestellt werden müssen und versucht
Antworten auf diese Fragen zu finden - ohne unverständliche Terminologie und
vor allem ohne moralischen Zeigefinger.
Gegen die Kulturpessimisten, die die Welt werde mit jeder
Generation schlechter, betont Höffe, dass in Wahrheit jede Zeit ihre eigenen
Herausforderungen zu meistern habe, auf die sie in den letzten Dezennien mehr
und mehr moralisch sensibel zu antworten sucht. Schon darin zeigt sich die
Macht, sogar eine wachsende Macht der Moral.
Man darf freilich nicht so naiv sein zu glauben, man müsste
deshalb mit der heutigen Welt zufrieden sein, weil sie all ihre
Herausforderungen sachgerecht und zugleich moralisch angemessen meistere.
Ohnehin ist beides umstritten, sowohl die Frage, worin die genaue
Herausforderung, als auch die Anschlußfrage, worin die sachgerechte und
zugleich moralisch angemessene Antwort liegt. In dieser Situation dürfte der
Beitrag der Philosophie von Moral, der philosophischen Ethik, willkommen sein.
Eine Ethik, zumal eine für mündige Bürger, schlägt
selbstverständlich keine Rezepte vor. Ihr Medium bilden Begriffe und Argumente,
die sich durch eine Rückwendung des Menschen auf sich und seine Welt, also
durch den Charakter einer möglichst erfahrungsgesättigten Reflexion,
auszeichnen. In diesem Zusammenhang geht Höffe auch auf den Unterschied
zwischen dem antiken und neuzeitlichen Menschen ein.
Im antiken Griechenland richtete sich der griechische Bürger
selbst in Zeiten der Demokratie noch lange an den Normen der altgriechischen
Adelsgesellschaft aus. Er war vor allem Landbesitzer, Krieger und an den
politischen Geschäften beteiligt. Der Sphäre der Arbeit abgeneigt, sogar
feindlich eingestellt, überließ er die Landarbeit lieber den Sklaven oder,
falls zu arm, um einen Sklaven zu erwerben, einem Ochsen, wie Aristoteles
in seiner „Politik“ (I 2, 1252b 10ff.) beschreibt. Handel und Gewerbe dagegen
betrieben vorwiegend Nichtbürger, also Sklaven, niedergelassene Ausländer und
Ausländer.
Dieser weitgehend personalen Trennung von Staat und Gesellschaft
tritt die Neuzeit mit einer institutionellen Trennung entgegen, die sich mit
einer personalen Einheit verbindet. Anders als der antike Bürger muß der
neuzeitliche Bürger nämlich in der Regel beides in einem sein, sowohl
Arbeitssubjekt bzw. Wirtschaftsbürger als auch Staatsbürger, also Bourgeois
- in einem weiten, auch Angestellte und Arbeiter umfassenden Sinn - und Citoyen zugleich.
Diese Einheit beweist nicht bloß ein hohes Maß an sozialer
Demokratisierung; sie eröffnet auch jedem große Chancen zur Selbstverwirklichung.
Die Arbeit hilft nämlich nicht bloß, den Lebensunterhalt zu sichern und die
materiellen Lebensbedingungen zu verbessern. Das könnte eine wohlhabende
Gesellschaft einem Teil der Bevölkerung überlassen, um den anderen Teil unter
dem so schön klingenden Titel „Bürgerlohn“ zu alimentieren.
In der modernen Welt leistet die Arbeit aber weit mehr. Das
Mehr beginnt mit der Bildung und Ausbildung. Um später einen angemessenen
Arbeitsplatz zu finden, muß der Jugendliche Kenntnisse, Fähigkeiten und Fertigkeiten
erwerben, einschließlich der Fähigkeit zum beruflichen und sozialen Weiterlernen
und zur beruflichen und sozialen Mobilität, sowie Einstellungen wie
Arbeitswillen, Leistungs- und Kooperationsbereitschaft und nicht zuletzt
Kreativität. Auf diese Weise kann er seine Begabungen entfalten, sie sogar zu
Höchstleistungen fortbilden, und zwar zu begabungsrelativ, nicht nur absolut
bewundernswerten Leistungen.
Immanuel Kant |
Für den wichtigsten Moral-philosophen der Neuzeit, Kant, ist
die Entfaltung der eigenen Talente ein moralisches Gebot. In der Regel genügt
das normativ bescheidenere Argument, daß die für den Menschen unverzichtbare
Anerkennung, sowohl die Selbstanerkennung (das Selbstwertgefühl) als auch die
Fremdanerkennung, in hohem Maß vom Platz in der Berufs- und Arbeitswelt
bestimmt wird.
Erneut widerspricht das aufgeklärte Selbst- und
Sicherheitsinteresse einem zu hohen Sicherheitsdenken. Eine Wirtschafts-
und Sozialpolitik sollte jedenfalls zweierlei durch die tatsächliche Politik
statt bloß durch „fromme Worte“ prämieren, nämlich die Schaffung von
Arbeitsplätzen und jene Suche nach ihnen, die auch Mühen und Durststrecken in
Kauf nimmt. Wer diese Politik nicht schon aus Subsidiaritäts- und
Gerechtigkeitsgründen einschlägt, sollte sie zumindest aus einem aufgeklärten
Paternalismus verfolgen.
Zitate aus: Otfried Höffe: Die Macht der Moral im
21. Jahrhundert. Annäherungen an eine zeitgemäße Ethik, München 2014
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