Einer der Höhepunkt in dem monumentalen Geschichtswerk Herodots ist die sogenannte Verfassungsdebatte, bis heute gefeiert als die „erste staatstheoretische Abhandlung der Weltgeschichte.“
Herodot |
Interessanterweise verlegt Herodot seinen Versuch einer Verfassungstypologie und die Diskussion, in der auch um die Staatsform der Demokratie geht, nach Persien, genauer in einen persischen Adelsrat, und dazu in das ferne 6. Jahrhundert, genauer ins Jahr 521 v. Chr. Gerade war die Herrschaft des Kambyses unter äußeren und inneren Schrecken zu Ende gegangen. Ein Mager, ein Angehöriger einer persischen Priesterkaste, hatte sich als Sohn des Kyros und Bruder des Kambyses ausgegeben und die Macht an sich gerissen. Sieben persische Adlige stürzten den Usurpator, der als „falscher Smerdis“ in die Geschichte einging, und drei von ihnen diskutieren nun angesichts des Machtvakuums, ob Persien eine neue Verfassung und gegebenenfalls welche erhalten soll.
„Die Sprecher gehen nach einem festen Schema vor: Jeder von ihnen wirbt für eine Staatsform und weist eine andere zurück. Es lässt sich von These und Gegenthese sprechen, doch sie beziehen sich innerhalb einer Rede nicht auf dasselbe Objekt.“
„Die Debatte eröffnet ein Adliger namens Otanes. Er beleuchtet zunächst die Schattenseiten der Königsherrschaft. Dabei beginnt er mit der gegenwärtigen Situation – die Perser hätten mit der Monarchie, mit Kambyses und dem Mager, keine guten Erfahrungen gemacht –, um dann nach einer Aufzählung der allgemeinen Negativa der Monarchie zum Lob der Demokratie überzugehen.
Der nächste Redner, ein Mann namens Megabyzos, schließt direkt an und stellt nun die Argumente gegen die Demokratie vor. Danach spricht er der Oligarchie das Wort.
Dareios, der als dritter Redner folgt, umkreist das Thema. Im Mittelteil seiner Rede argumentiert er gegen Oligarchie und Demokratie, am Anfang und am Schluß für die Monarchie.“
Warum aber siedelt Herodot die Debatte überhaupt in Persien an? Vermutlich, weil er weiß, dass der neue Großkönig Dareios und sein Sohn Xerxes sind es, die Krieg gegen die Griechen führen werden. Hinzu kommt, dass die Alleinherrschaft in Griechenland nach dem Sturz der Tyrannenherrschaften keine Alternative mehr darstellte. Das machte es Herodot auch unmöglich, Griechen für diese Debatte zu wählen, z.B. Peisistratos (Alleinherrschaft), Isagoras (Oligarchie) und Kleisthenes (Demokratie).
Kleisthenes und die demokratischen Reformen in Athen |
So verwenden die persischen Adligen, die bei Herodot miteinander diskutieren, „griechische Begriffe, verwenden typische Stilfiguren der griechischen Rhetorik wie Alliterationen, rhetorische Fragen oder Steigerungen, und sie denken griechisch.
Die Debatte spiegelt offenbar wider, was in Griechenland in der zweiten Hälfte des 5. Jahrhunderts, beeinflußt von der Sophistik, über Staatsangelegenheiten reflektiert und diskutiert wurde“, denn hinter dem Aufbau der Debatte steht die berühmte Erkenntnis des Sophisten Protagoras, daß „es über jede Sache zwei Aussagen gebe, die einander entgegengesetzt seien.“
Weil die Darstellung der Diskussion durch Herodot eben noch keine lange Tradition besitzt, ist die verwendete Begrifflichkeit noch nicht felxibel. „Für Alleinherrschaft gebraucht Herodots Personal ohne Differenzierung Termini wie Moúnarchos und Týrannos, die `Herrschaft der Wenigen´ wird gleichermaßen als Oligarchie und Aristokratie bezeichnet. Das Wort „Demokratie“ fällt in der Diskussion überhaupt nicht. Die Rede ist dagegen nur vom Dêmos oder von Plêthos (Menge) als Subjekt des Handelns und von Isonomía, der gleichen Zuteilung von Rechten und Pflichten bzw. später der Gleichheit vor dem Gesetz.
„Herodot besaß sicherlich eine eigene Ansicht zum Thema, doch er versteckt sie. Die Form des Meinungsaustausches, die er wählt, bedeutet wohl auch, daß er sie nicht direkt äußern wollte. Er verstand sich als Historiker aller Griechen und nicht einer Gruppe von ihnen.“
Gelichwohl ist die Liste der Gründe, die Alleinherrschaft abzulehnen, bei Herodot lang: „Ein Monarch brauche keine Rechenschaft abzulegen. Die unkontrollierte Machtfülle führe zur Überhebung. So kümmere sich der Alleinherrscher nicht um überlieferte Satzung, schalte nach Belieben, verübe, von Hybris und Neid getrieben, Untaten an Bürgern und Frauen, töte ohne Recht und ohne Urteil.“
Während Argumente für die Herrschaft der Wenigen nahezu fehlen, spricht für die Demokratie bei Herodot eine Fülle von Argumenten. „Zunächst sei sie frei von all den Missständen, welche die Monarchie mitbringe (…). Zudem würden die Ämter durch Los vergeben, und deswegen herrsche Chancengleichheit. Alle Amtsinhaber seien rechenschaftspflichtig. Das beuge Amtsmißbrauch und Korruption vor. Schließlich würden alle Beschlüsse von der Gemeinschaft gefaßt.“
Allerdings werden auch die negativen Seiten der Demokratie verschwiegen: „Nichts sei unverständiger, nichts überheblicher als der unnütze Haufen. Der Menge fehle das Wissen, das einen Monarchen auszeichne. Ohne Verstand stürze sie sich auf die Staatsangelegenheiten, vergleichbar einem Sturzbach im Frühjahr. Wo das Volk regiere, dränge sich das Schlechte ein, und das führe – eine Vorstufe zum Kreislauf der Verfassungen, wie er später von Platon bis Cicero diskutiert wird – in einer Spirale der Abwärtsbewegung wieder zu einer Alleinherrschaft.“
"Ohne Verstand stürzt sich das Volk auf die Staatsangelegenheiten" |
Die Verfassungsdebatte ist weit davon entfernt, die Demokratie zu preisen, wie es beispiels Perikles in der berühmten Leichenrede bei Thukydides tut. Die Vorzüge scheinen zu überwiegen, trotz der Schattenseiten.
Es läßt sich vermuten, daß Herodot für die politische Verfassung Athens Sympathien hegte, expressis verbis gesagt hat er dies – im Gegensatz zur Hervorhebung der Verdienste der Stadt im Perserkrieg – aber nirgends. Herodot ist jedoch der erste Historiker, der das Wort „Demokratia“ verwendet. „Gleichsam nebenbei, versteckt in der Genealogie der Familie der Alkmeoniden, erfährt die Nachwelt von der Geburt der Demokratie. Bei der denkwürdigen Freierwahl gewinnt der Alkmeonide Megakles aus Athen die Tochter des Tyrannen von Sikyon, Agariste, und Herodot fährt fort: `Der Sohn dieses Paares war jener Kleisthenes, der die Phylen in Athen schuf und die Demokratie einrichtete.´ Dieser Satz ist gleichsam die Taufurkunde der Demokratie.“
Zitate aus: Wolfgang Will: Herodot und Thukydides. Die Geburt der Geschichte, München 2015 (C.H. Beck)
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