Donnerstag, 4. Oktober 2018

Das Lernen und die Selbststeuerung - Teil 1


Hinter dem Konzept des selbstständigen Lernens steht die Idee, dass Kinder möglichst früh ihren Lernprozess selber steuern und strukturieren. Die Lehrkraft arrangiert Lernumgebungen, in denen die Kinder viele Entscheidungen selber treffen, etwa mit welchen Inhalten sie sich wann und in welcher Form beschäftigen.

Ein Blick in didaktische Ratgeber für Lehrkräfte und ein Vergleich mit der Schulpraxis zeigen, dass dieses Konzept zwar vieles verspricht, aber oft auch an seine Grenzen kommt. Das behauptet zumindest Nicole Vidal, Professorin für Erziehungswissenschaften an der PH Freiburg in einem Feature der Reihe „Wissen – Aula“ des SWR 2.

Selbstständiges Lernen erfolgt beispielsweise im Rahmen des Stationenlernens. Stationen, das sind verschiedene Orte, an denen Materialien bereitliegen, mit denen sich die Kinder Informationen selbst erschließen können.

Stationenlernen in der Grundschulidylle

Die Lehrkraft greift möglichst wenig ein, die Kinder sollen sich und ihren Lernprozess selbst organisieren. Dazu gehört auch, dass sie ihre Ergebnisse selbständig überprüfen. Die richtigen Lösungen zu allen Stationen hängen umgedreht an der Tafel und die Kinder können zwischendurch dort nachschauen. Auf einem Laufzettel sollen sie ankreuzen, welche Stationen sie besucht und welche Aufgaben sie dort bearbeitet haben.

Das Stationenlernen ist eine von vielen Unterrichtsmethoden, die selbstständiges Lernen fördern und den individuellen Lernvoraussetzungen der Kinder gerecht werden sollen. Die Kinder entscheiden nämlich nicht nur selbst darüber, in welchem Tempo und in welcher Reihenfolge sie die Aufgaben bearbeiten, sondern auch, in welchem Umfang sie das tun.

Bei dieser Form von Unterricht bereitet die Lehrkraft zwar Lernumgebungen vor, aber sowohl deren Nutzung als auch die Überprüfung der Ergebnisse obliegt den Schülerinnen und Schülern.

Die Rahmenvorgaben für diese Unterrichtsform liefert der Bildungsplan - und dessen Kompetenzbeschreibungen lassen viel Freiheit bei der Unterrichtsgestaltung. Der Schwerpunkt von Kompetenzen liegt, vereinfacht gesagt, auf dem Können und Verstehen von etwas und nicht primär auf dem Wissen über etwas. Unterricht soll darauf abzielen, Problemlöse- und Transferfähigkeiten zu entwickeln. Es werden üblicherweise „Lernarrangements“ eingefordert, die Handlungs- und Projektorientierung sowie „entdeckendes Lernen“. Schüleraktivitäten sollen dabei stets im Vordergrund stehen.

In der Praxis bedeutet dies: Kompetenzorientierungen haben Lernziel-formulierungen abgelöst, problemorientierter Unterricht soll Schülerinnen und Schüler befähigen, selbstständig zu lernen und Lösungen zu erarbeiten.

Die Grundidee des sog. „schülerzentrierten Unterrichts“ ist an sich nicht neu. Schon die reformpädagogische Bewegung zu Beginn des 20. Jahrhunderts setzte auf kindliche Selbsttätigkeit und Eigeninitiative beim Lernen. Dennoch lässt sich in den letzten beiden Jahrzehnten ein grundlegend verändertes Verständnis von Unterricht in Theorie und Praxis beobachten, das in der Pädagogik auch unter dem Stichwort „Neue Lernkultur“ diskutiert wird.

Innenleben eines selbstständigen Lerners: Verarbeiten und Lösungen erarbeiten

Die aktuelle Popularität von Konzeptionen, die Eigenverantwortung beim Lernen zum Ausgangspunkt didaktischer Überlegungen machen, ist nach Ansicht von Vidal im Wesentlichen auf zwei Entwicklungen zurückzuführen:

Zum einen hatten die PISA-Studien zu Beginn der 2000er Jahre massive Kritik an den Unterrichtspraktiken in deutschen Klassenzimmern ausgelöst. Dort herrsche, so hieß es damals, etwa im Vergleich zu skandinavischen Ländern, eine relative Methodenmonotonie vor. Das unterdurchschnittliche Abschneiden Deutschlands in der internationalen Leistungsvergleichsstudie wurde in der Folge immer wieder mit lehrerzentriertem Frontalunterricht in Verbindung gebracht und eine Reform der Unterrichtspraxen eingefordert.

Schülerzentrierte Methoden sind, wie es der Name nahelegt, dadurch geprägt, dass deren Aktivität im Vordergrund steht: Lehrkräfte bereiten Lernumgebungen vor, in denen Schüler dann eigenverantwortlich agieren.

Eine zweite Entwicklung, die der Idee des selbstständigen Lernens aktuell Auftrieb verschafft, ist die jüngst noch einmal gesteigerte Heterogenität der Schüler: Bei vielen Kindern werden mittlerweile spezielle Förderbedarfe festgestellt. Das stellt Lehrkräfte vielerorts vor neue Herausforderungen.

Während sie noch vor einigen Jahren der Heterogenität durch „Binnendifferenzierung“ gerecht werden sollten, z.B. in dem sie Aufgaben mit unterschiedlichen Niveaus bereitgestellt haben, heißt die aktuelle Lösung „individualisierter Unterricht“. Der soll den Kindern mehr Wahlfreiheit mit Blick auf Inhalte und Materialen einräumen und ihnen zeitliche Flexibilität bei der Bearbeitung von Aufgaben ermöglichen.

Ausgangsüberlegung ist, dass die Kinder in einer Klasse so unterschiedliche Lernvoraussetzungen mitbringen, dass es gar nicht möglich ist, sie als Gruppe gemeinsam zu unterrichten. Deshalb sollen Lernarrangements geschaffen werden, die jedem Kind optimale Bedingungen bieten.

Es ist verständlich, dass Lehrkräfte Unterrichtsformen und -methoden wohlwollend gegenüberstehen, die angeblich allen Kindern gerecht werden, weil jedes dort abgeholt wird, wo es steht und anschließend in seinem Tempo weiterlernen kann.

Das Problem ist, dass das Konzept des selbstständigen Lernens überhaupt nicht praktisch leisten kann, was die darauf basierenden Unterrichtsformen und -methoden versprechen, so die zentrale These von Vidal.


Literatur: Nicole Vidal: Selbstgesteuertes Lernen. Ein fragwürdiges pädagogisches Konzept? SWR 2, Wissen, Aula, Sendung vom 30.09.2018

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen