Im April 1923 drängelten sich an die hunderttausend Menschen in Wien auf der Hohen Warte, weil sie beim Match Österreich gegen Italien dabei sein wollten. Nur 85000 ließ man ins Stadion ein. Die Überlastung brachte auf dem Hang der riesigen Naturtribüne die Erde zum Rutschen. Das Illustrierte Sportblatt schrieb: „Die Leute waren förmlich ineinander verkeilt. Viele hatten die Füße gar nicht am Boden und schwebten förmlich in der Luft.“ Es ist die Beschreibung der konzentrierten Form von Masse.
Die Massen strömen ins Stadion ... (Original Filmaufnahmen vom Länderspiel Österreich - Italien, Quelle: youtube) |
Von Elias Canetti wissen wir, dass die Masse im Stadion ein Fall kollektiver Ethik ist. Er selbst erhielt die akustische Anregung für sein Werk Masse und Macht vom nahe gelegenen Rapid-Wien-Stadion. Von dort hörte Canetti das Publikum während der Spiele, seinen Aufschrei und sein Raunen, seinen Beifall und sein schnell aufbrausendes Stöhnen. Ja, er hörte Fußball. „An Feiertagen strömten große Menschenmengen hin, die sich ein Match dieser berühmten Mannschaft nicht leicht entgehen ließen. Ich hatte wenig darauf geachtet, da mich Fußball nicht interessierte.“
„Aber an einem Sonntag nach dem 15. Juli“ habe
er „plötzlich den Aufschrei der Masse“ vernommen. Drei Monate hatte er schon
hier gelebt und nie darauf geachtet. „Nun rührte ich mich nicht von der Stelle
und hörte dem ganzen Match zu. Die Triumphrufe galten einem Tor, das geschossen
wurde, und kamen von der siegreichen Seite“ – dass er dies zu präzisieren für
nötig hält, zeigt den soziologischen Lauscher als Außenstehenden, der das
Ritual des Spiels nicht selbstverständlich einordnet.
„Es war auch, er tönte anders, ein Aufschrei
der Enttäuschung zu vernehmen. Sehen konnte ich von meinem Fenster aus nichts“,
jedoch: „ich hörte die Masse, und sie allein, als spiele sich alles in nächster
Nähe von mir ab.“
Canetti wahrte den Abstand des Intellektuellen.
„Ich vermied es, in der Zeitung etwas darüber zu lesen, und ließ mich während
der Woche auf keine Gespräche darüber ein.“
Elias Canetti |
Seit den späten zwanziger Jahren arbeitete
Elias Canetti an seiner breiten Studie Masse
und Macht. Das Werk erschien 1960.
Darin behauptete der spätere Nobel-preisträger
für Literatur, dass jegliche Menschenmenge, ob Hetzmasse oder Festmasse, ob
offene oder geschlossene Masse, nach Dichte strebe und eine Richtung suche. Den
Nationen schrieb er Massensymbole zu, den Deutschen das Heer, den „marschierenden
Wald“ – im Hintergrund seiner Analyse standen für Canetti, der im englischen
Exil lebte, Hitler und die NS-Bewegung. Darauf bezog er wohl auch seine
Deutung, dass die Masse unbesehen Befehlen folge.
Mit diesen Gedanken zog er sich zum Teil heftige
Kritik von marxistischer Seite zu, die meinte, dass dies viel zu kurz greife
und dass im Buch Geschichte „vergeheimnist“ werde.
Dennoch bietet Canetti für das Verhalten im
Stadion interessante Erklärungsansätze. Der wichtigste Vorgang für die Masse
sei die Entladung, da werde Trennendes aufgehoben, so dass sich alle gleich
fühlen. Dazu äußere sich das Bedürfnis nach Lärm, der eine Verstärkung bewirke
und weitere Verstärkung in Aussicht stelle. Rhythmisch, mittels einer
Choreographie von Händen und Füßen wie im Tanz, forme sich eine Gemeinde. Sie
betreibe die Entladung mitunter bis zur Zerstörungssucht – was wir seit den
achtziger, neunziger Jahren von den Hooligans kennen.
Ein auffallender Zug der Masse sei es, dass sie
sich leicht verfolgt fühle und diese Empfindung stark auslebe. Daraus
resultiere eine Reizbarkeit gegen jegliche, ein für alle Mal deklarierten
Feinde.
Die Masse - nach außen abgegrenzt, nach innen eine Wand ... |
Laut Canetti schafft die Arena eine zweifach
geschlossene Masse. Sie ist nach außen abgegrenzt und bildet mit dem Rücken zur
Stadt eine leblose Mauer, nach innen hingegen eine Wand von Menschen, die sich
im Rund gegenseitig wahrnehmen. Der Raum und die Anzahl der Plätze sind
beschränkt, die Masse muss sich nach innen entladen.
Nur ein derartiges Massenerlebnis vermag den Menschen
ihre Furcht vor der Berührung durch Unbekannte zu nehmen.
Zeremonien und Regeln haben die Aufgabe, die Gemeinschaft in Bahnen zu
lenken. Sie kommen einem starken Bedürfnis entgegen: Lieber ein Stadion voller
Gläubiger als eine unsichere ganze Welt. Was Masse und Macht in
diesem Zusammenhang einer Kirche zuweist, lässt sich in etwa auf die Sportarena
übertragen: Gleichmäßigkeit des Besuchs, vertraute Rituale, genaue Wieder-holung
sichern ein gezähmtes Erlebnis, das gelenkt werden kann.
Zitate aus: Klaus Zeyringer, Fußball. Eine Kulturgeschichte, Frankfurt a.M. 2014
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