Donnerstag, 11. Januar 2018

Elias Canetti und die Masse


Im April 1923 drängelten sich an die hunderttausend Menschen in Wien auf der Hohen Warte, weil sie beim Match Österreich gegen Italien dabei sein wollten. Nur 85000 ließ man ins Stadion ein. Die Überlastung brachte auf dem Hang der riesigen Naturtribüne die Erde zum Rutschen. Das Illustrierte Sportblatt schrieb: „Die Leute waren förmlich ineinander verkeilt. Viele hatten die Füße gar nicht am Boden und schwebten förmlich in der Luft.“ Es ist die Beschreibung der konzentrierten Form von Masse. 


Die Massen strömen ins Stadion ...
(Original Filmaufnahmen vom Länderspiel Österreich - Italien, Quelle: youtube)

Von Elias Canetti wissen wir, dass die Masse im Stadion ein Fall kollektiver Ethik ist. Er selbst erhielt die akustische Anregung für sein Werk Masse und Macht vom nahe gelegenen Rapid-Wien-Stadion. Von dort hörte Canetti das Publikum während der Spiele, seinen Aufschrei und sein Raunen, seinen Beifall und sein schnell aufbrausendes Stöhnen. Ja, er hörte Fußball. „An Feiertagen strömten große Menschenmengen hin, die sich ein Match dieser berühmten Mannschaft nicht leicht entgehen ließen. Ich hatte wenig darauf geachtet, da mich Fußball nicht interessierte.“

„Aber an einem Sonntag nach dem 15. Juli“ habe er „plötzlich den Aufschrei der Masse“ vernommen. Drei Monate hatte er schon hier gelebt und nie darauf geachtet. „Nun rührte ich mich nicht von der Stelle und hörte dem ganzen Match zu. Die Triumphrufe galten einem Tor, das geschossen wurde, und kamen von der siegreichen Seite“ – dass er dies zu präzisieren für nötig hält, zeigt den soziologischen Lauscher als Außenstehenden, der das Ritual des Spiels nicht selbstverständlich einordnet.

„Es war auch, er tönte anders, ein Aufschrei der Enttäuschung zu vernehmen. Sehen konnte ich von meinem Fenster aus nichts“, jedoch: „ich hörte die Masse, und sie allein, als spiele sich alles in nächster Nähe von mir ab.“

Canetti wahrte den Abstand des Intellektuellen. „Ich vermied es, in der Zeitung etwas darüber zu lesen, und ließ mich während der Woche auf keine Gespräche darüber ein.“

Elias Canetti
Seit den späten zwanziger Jahren arbeitete Elias Canetti an seiner breiten Studie Masse und Macht. Das Werk erschien 1960.

Darin behauptete der spätere Nobel-preisträger für Literatur, dass jegliche Menschenmenge, ob Hetzmasse oder Festmasse, ob offene oder geschlossene Masse, nach Dichte strebe und eine Richtung suche. Den Nationen schrieb er Massensymbole zu, den Deutschen das Heer, den „marschierenden Wald“ – im Hintergrund seiner Analyse standen für Canetti, der im englischen Exil lebte, Hitler und die NS-Bewegung. Darauf bezog er wohl auch seine Deutung, dass die Masse unbesehen Befehlen folge.

Mit diesen Gedanken zog er sich zum Teil heftige Kritik von marxistischer Seite zu, die meinte, dass dies viel zu kurz greife und dass im Buch Geschichte „vergeheimnist“ werde.

Dennoch bietet Canetti für das Verhalten im Stadion interessante Erklärungsansätze. Der wichtigste Vorgang für die Masse sei die Entladung, da werde Trennendes aufgehoben, so dass sich alle gleich fühlen. Dazu äußere sich das Bedürfnis nach Lärm, der eine Verstärkung bewirke und weitere Verstärkung in Aussicht stelle. Rhythmisch, mittels einer Choreographie von Händen und Füßen wie im Tanz, forme sich eine Gemeinde. Sie betreibe die Entladung mitunter bis zur Zerstörungssucht – was wir seit den achtziger, neunziger Jahren von den Hooligans kennen.

Ein auffallender Zug der Masse sei es, dass sie sich leicht verfolgt fühle und diese Empfindung stark auslebe. Daraus resultiere eine Reizbarkeit gegen jegliche, ein für alle Mal deklarierten Feinde.

Die Masse - nach außen abgegrenzt, nach innen eine Wand ...
Laut Canetti schafft die Arena eine zweifach geschlossene Masse. Sie ist nach außen abgegrenzt und bildet mit dem Rücken zur Stadt eine leblose Mauer, nach innen hingegen eine Wand von Menschen, die sich im Rund gegenseitig wahrnehmen. Der Raum und die Anzahl der Plätze sind beschränkt, die Masse muss sich nach innen entladen.

Nur ein derartiges Massenerlebnis vermag den Menschen ihre Furcht vor der Berührung durch Unbekannte zu nehmen.

Zeremonien und Regeln haben die Aufgabe, die Gemeinschaft in Bahnen zu lenken. Sie kommen einem starken Bedürfnis entgegen: Lieber ein Stadion voller Gläubiger als eine unsichere ganze Welt. Was Masse und Macht in diesem Zusammenhang einer Kirche zuweist, lässt sich in etwa auf die Sportarena übertragen: Gleichmäßigkeit des Besuchs, vertraute Rituale, genaue Wieder-holung sichern ein gezähmtes Erlebnis, das gelenkt werden kann.

Zitate aus: Klaus Zeyringer, Fußball. Eine Kulturgeschichte, Frankfurt a.M. 2014



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