Harald Welzer |
Harald
Welzer ist seit 2012 Professor für Transformationsdesign an der Universität
Flensburg. Vor kurzem hat er die gemeinnützige Stiftung "Futur zwei"
gegründet, die es sich zum Ziel gesetzt hat, zukunftsfähige Lebensformen und
Projekte publik zu machen. In einem Beitrag für den Südwestfunk erläutert
Welzer Geschichte und Gegenwart der Kategorie "Autonomie".
„Gegenwärtig
verzeichnen wir Entwicklungen, die wie die totale Überwachung, Big Data,
Shitstorms und andere Hysterien, unseren traditionellen Vorstellungen von einem
selbstbestimmten Leben in einer freien Gesellschaft stark widersprechen:
Autonomie ist gefährdet.“
Zwar
halten wir uns alle selbst für autonome, also selbstbestimmte Persönlichkeiten,
aber erstaunlicherweise ist „Autonomie“ als Kategorie wissenschaftlich ziemlich
unerforscht. Manche halten sie für eine persönliche Eigenschaft, für eine
Fähigkeit, die man in bestimmten sozialen Situationen abrufen kann. Für andere
ist sie „eine nur unter bestimmten Bedingungen zur Entfaltung kommende
menschliche Eigenschaft – also philosophisch gesprochen, eine `dispositionelle
Eigenschaft´, die als Potential immer vorhanden ist, aber bestimmter
Voraussetzungen bedarf, um wirksam zu werden.“
Ebenso
wichtig ist allerdings die Frage nach den gesellschaftlichen Umständen, die
Autonomie ermöglichen, einschränken oder blockieren, d.h. letztlich die Frage
nach der Rolle von Kultur und Gesellschaft bei der Entfaltung von Autonomie.
Unbestreitbar
ist, dass unter Gesellschaftsverständnis auf dem Begriff „Autonomie“ beruht: „Die
parlamentarische Demokratie beruht auf der ganz selbstverständlichen
Voraussetzung, dass Menschen zu selbstbestimmten Entscheidungen fähig sind –
wäre das nicht so, wären schon Wahlen sinnlos.
Aber ein wichtiger Aspekt kommt
hinzu: Autonomie ist an Privatheit gebunden. Sie benötigt einen geschützten
Raum, in dem sich individuelle Meinungen, Auffassungen und Optionen erst
entwickeln können. Wird die Privatsphäre zerstört wie in den totalitären
Staaten des 20. Jahrhunderts, dann verschwindet auch der Raum für
Selbstbestimmung. Umgekehrt: Soll Demokratie dagegen gesichert werden, dann
muss es auch einen Bereich von Privatheit geben, in dem sich individuelle
Besonderheiten überhaupt erst entwickeln können.“
Das
20. Jahrhundert hat mehr als deutlich gezeigt, dass jeder Totalitarismus mit
einer zunächst schleichenden Veränderung sozialer Standards beginnt.
Geheimpolizei und Spitzel schnüffeln in die sozialen Beziehungen, sammeln
Informationen, die sich gegen vermeintliche und echte Systemgegner verwenden
lassen. „Das zerstört das zentrale Element, das Gesellschaften zusammenhält:
Vertrauen.“
Deutsches Jungvolk |
Vertrauen
wird in totalitären Regimes durch Kontrolle, vor allem durch wechselseitige
Kontrolle ersetzt. Im Nationalsozialismus wurden die Kinder schon in jungen
Jahren in "Jungvolk" und "Jungschar",
"Hitlerjugend" und "Bund Deutscher Mädchen" para-militärisch
organisiert und auf diese Weise dem vergleichsweise autonomen Rahmen der
Familie entzogen.
Der Stalinismus zerstörte das Vertrauen durch die willkürlich
wechselnde Definition dessen, wer gerade als "gut" bzw.
"schlecht" galt, als konform oder kriminell. Im Stalinismus war
Unberechenbarkeit das zentrale Herrschaftsmittel – niemand konnte wissen,
welcher Verwandte oder Kollege als Nächstes "entfernt" oder getötet
oder verbannt wurde. Dementsprechend konnte niemand aus seinem eigenen
Verhalten heraus sicher sein, dass er sich nichts hatte zuschulden kommen
lassen. Tatsächlich war es konstitutiv für das System der Schauprozesse, dass sich Menschen für Dinge schuldig sprechen mussten, die sie entweder nie
getan hatten oder die noch konform waren, als sie sie taten.
Totalitäre
Herrschaftssysteme gründen ihre soziale Macht auf die „Destruktion autonomer,
unkontrollierter Beziehungen zwischen den Menschen.“ Man zerstöre den bestehenden
sozialen Zusammenhang, setzt die Teile anders wieder zusammen und verwandelt
das veränderte soziale Beziehungsgefüge selbst in ein machtvolles
Herrschaftsinstrument, in der potentiell jeder zum Verräter des anderen wurde.
Zitate aus: Harald Welzer: Autonomie
gefordert! Über ein schwieriges Konzept der Demokratie Von Harald Welzer, SWR2
Wissen/Aula, Sendung vom 01. Mai 2017
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