Donnerstag, 25. Januar 2018

Harald Welzer und die Autonomie - Teil 1

Harald Welzer
Harald Welzer ist seit 2012 Professor für Transformationsdesign an der Universität Flensburg. Vor kurzem hat er die gemeinnützige Stiftung "Futur zwei" gegründet, die es sich zum Ziel gesetzt hat, zukunftsfähige Lebensformen und Projekte publik zu machen. In einem Beitrag für den Südwestfunk erläutert Welzer Geschichte und Gegenwart der Kategorie "Autonomie".

„Gegenwärtig verzeichnen wir Entwicklungen, die wie die totale Überwachung, Big Data, Shitstorms und andere Hysterien, unseren traditionellen Vorstellungen von einem selbstbestimmten Leben in einer freien Gesellschaft stark widersprechen: Autonomie ist gefährdet.“

Zwar halten wir uns alle selbst für autonome, also selbstbestimmte Persönlichkeiten, aber erstaunlicherweise ist „Autonomie“ als Kategorie wissenschaftlich ziemlich unerforscht. Manche halten sie für eine persönliche Eigenschaft, für eine Fähigkeit, die man in bestimmten sozialen Situationen abrufen kann. Für andere ist sie „eine nur unter bestimmten Bedingungen zur Entfaltung kommende menschliche Eigenschaft – also philosophisch gesprochen, eine `dispositionelle Eigenschaft´, die als Potential immer vorhanden ist, aber bestimmter Voraussetzungen bedarf, um wirksam zu werden.“

Ebenso wichtig ist allerdings die Frage nach den gesellschaftlichen Umständen, die Autonomie ermöglichen, einschränken oder blockieren, d.h. letztlich die Frage nach der Rolle von Kultur und Gesellschaft bei der Entfaltung von Autonomie.

Unbestreitbar ist, dass unter Gesellschaftsverständnis auf dem Begriff „Autonomie“ beruht: „Die parlamentarische Demokratie beruht auf der ganz selbstverständlichen Voraussetzung, dass Menschen zu selbstbestimmten Entscheidungen fähig sind – wäre das nicht so, wären schon Wahlen sinnlos. 

Aber ein wichtiger Aspekt kommt hinzu: Autonomie ist an Privatheit gebunden. Sie benötigt einen geschützten Raum, in dem sich individuelle Meinungen, Auffassungen und Optionen erst entwickeln können. Wird die Privatsphäre zerstört wie in den totalitären Staaten des 20. Jahrhunderts, dann verschwindet auch der Raum für Selbstbestimmung. Umgekehrt: Soll Demokratie dagegen gesichert werden, dann muss es auch einen Bereich von Privatheit geben, in dem sich individuelle Besonderheiten überhaupt erst entwickeln können.“

Das 20. Jahrhundert hat mehr als deutlich gezeigt, dass jeder Totalitarismus mit einer zunächst schleichenden Veränderung sozialer Standards beginnt. Geheimpolizei und Spitzel schnüffeln in die sozialen Beziehungen, sammeln Informationen, die sich gegen vermeintliche und echte Systemgegner verwenden lassen. „Das zerstört das zentrale Element, das Gesellschaften zusammenhält: Vertrauen.“

Deutsches Jungvolk
Vertrauen wird in totalitären Regimes durch Kontrolle, vor allem durch wechselseitige Kontrolle ersetzt. Im Nationalsozialismus wurden die Kinder schon in jungen Jahren in "Jungvolk" und "Jungschar", "Hitlerjugend" und "Bund Deutscher Mädchen" para-militärisch organisiert und auf diese Weise dem vergleichsweise autonomen Rahmen der Familie entzogen. 

Der Stalinismus zerstörte das Vertrauen durch die willkürlich wechselnde Definition dessen, wer gerade als "gut" bzw. "schlecht" galt, als konform oder kriminell. Im Stalinismus war Unberechenbarkeit das zentrale Herrschaftsmittel – niemand konnte wissen, welcher Verwandte oder Kollege als Nächstes "entfernt" oder getötet oder verbannt wurde. Dementsprechend konnte niemand aus seinem eigenen Verhalten heraus sicher sein, dass er sich nichts hatte zuschulden kommen lassen. Tatsächlich war es konstitutiv für das System der Schauprozesse, dass sich Menschen für Dinge schuldig sprechen mussten, die sie entweder nie getan hatten oder die noch konform waren, als sie sie taten.

Totalitäre Herrschaftssysteme gründen ihre soziale Macht auf die „Destruktion autonomer, unkontrollierter Beziehungen zwischen den Menschen.“ Man zerstöre den bestehenden sozialen Zusammenhang, setzt die Teile anders wieder zusammen und verwandelt das veränderte soziale Beziehungsgefüge selbst in ein machtvolles Herrschaftsinstrument, in der potentiell jeder zum Verräter des anderen wurde.

(Fortsetzung folgt) 

Zitate aus: Harald Welzer: Autonomie gefordert! Über ein schwieriges Konzept der Demokratie Von Harald Welzer, SWR2 Wissen/Aula, Sendung vom 01. Mai 2017


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