Zur 21. Fußballweltmeisterschaft in Russland
(14. Juni 2018 – 15. Juli 2018)
„Fußball – in den Regeln einfach, in den
Zusammenhängen komplex – bringt starke Emotionen hervor. Er bespielt auch
die Räume des Symbolischen und kann mythische Bedeutungen fördern.“ So
beschreibt jedenfalls Klaus
Zeyringer in seinem Buch wichtige Elemente der Kulturgeschichte
des Fußballs.
Fußball ist zunächst ein Massenspektakel, denn er
gibt dem Kollektiv eine Erfahrung von Sieg und Niederlage. Somit vermag er ein
Gruppenbewusstsein zu stärken oder überhaupt erst zu schaffen. Fußball er sich
zur Entwicklung von Identitäten einsetzen, lokal und regional und national. Das
ist zunächst wertneutral. Weil aber Männlichkeitsrituale die Inszenierung des
Fußballs dominieren, ermöglicht Fußball auch die scheinbar unschuldige Möglichkeit
zum scheinbar folgenlosen Ausleben von Chauvinismus, Rassismus und Sexismus.
Einer, der es wissen muss: Albert Camus |
Albert Camus, 1957 Nobelpreisträger für Literatur, hatte in Algier beim Racing Universitaire als Tormann gespielt
und war später Anhänger von Racing Paris. Alles, was er über die Moral des
Menschen wisse, erklärte er, verdanke er dem Fußball.
Ähnlich drücken es andere Leute aus, die es
wissen müssen: Fußball ist eine „Sozialisationsmaschine“ (Roberto DaMatta,
brasilianischer Anthropologe), ein „aussagekräftiger Reflex auf die Welt“ (Martin
Gessmann, Philosoph), „Fußball ist ein Kulturgut“ (Jürgen Klinsmann,
Fußballspieler und Trainer).
Ein anderer Trainer hat es noch simpler
ausgedrückt und wurde dafür gleich von manchem für einen Philosophen gehalten,
der Komplexes auf den Punkt zu bringen wisse: „Der Ball ist rund“, soll Sepp
Herberger gesagt haben. Peter Handke, Schriftsteller, hob dieses Wort sogleich
ins Metaphysische: „Die Kugelform des Fußballs ist gerade zu einem Symbol des
unberechenbaren Zufalls geworden.“ 2008 erschien der Sammelband Football
and Philosophy mit dem Untertitel „going deep“.
Das Runde muss ins Eckige - Das ist schon die ganze Wahrheit ... |
Über Fußball kann man also vieles sagen. „Er
eignet sich zu Welterklärungen ebenso wie zu metaphysischen Aufschwüngen oder
zu Kalendersprüchen – und zu kulturgeschichtlichen Ansichten und
Einblicken.“
Zahlreiche Sozialwissenschaftler sehen im
Fußball ein Ersatzphänomen: Ersatz für Religion und Nation, Ersatz für ein
Klassenbewusstsein.
Der Verein fungiert als Ersatzfamilie und der
Star als Ich-Ersatz. „Dazu gehört die Erhöhung ins Metaphysische. Vom `begnadeten
Spieler´ ist die Rede, vom `Fußballgott´. Das Stadion von Rapid Wien nennen die
Anhänger seit Jahren nach dem früheren Star und Architekten, der es erbaute,
Sankt Hanappi, so dass nunmehr auch die Medien diese Bezeichnung verwenden.“
„Eine Sakralisierung öffnet das Reich des
Transzendentalen ins Bodenständige. Sie ermöglicht die Übernahme geheiligter
Vorbilder in viele Lebensbereiche.“
Cacau vom VfB Stuttgart |
Seit mehr als hundert Jahren werden sakrale
Elemente und Formen hin und her verschoben. Sie kommen in Politik, Kunst,
Medien und Sport zum Ausdruck. „Historisch“ ist mittlerweile beinahe jedes
Spiel, jedes Tor. „Den Ball flachhalten“ wäre hier vielleicht angeraten.
Das Stadion ist Kultstätte, Ort der Liturgie
mit ausgeprägten Riten und Mythen. „Es konzentriert den kollektiven Glauben an
ein auserwähltes Höheres, es führt ihn auf. Die Zugehörigkeit zur auserwählten
Masse ist durch die Kleidung erkennbar betont, der Ritus folgt einer
Choreographie: Auftritt und Präsentation des Sakralpersonals, Einnebelung und
Wandlung, Heben des Trinkpokals und Sanctus, Auszug und Nachwirkung. Nach der
Messe ist vor der Messe.“
Wunder-Diskurs („Das Wunder von Bern“!) und
Ekstase sind Teil dieses säkularen Heiligenkults, der den Menschen in der
Kultmasse eine andere, »höhere« Wirklichkeit vorspiegelt.
Zur populären Begeisterung für den Fußball und
zu seiner medialen Verbreitung habe es wesentlich beigetragen, dass sich
hier – wie nur an wenigen Orten der Moderne – die ursprüngliche
Erfahrung des Religiösen machen lasse.
Gott ist rund ist der Titel eines Buches von
Dirk Schümer; und wenn im Stadion in Israel ein Tor erzielt wird, rufen die
Fans Yesh Elohim, „Gott ist da“.
Der »heilige Rasen« wird das Londoner
Wembley-Stadion genannt. Der Gründungsmythos, der die Arena aus der
Gewöhnlichkeit erhebt, geht auf den 28. April 1923 zurück. „Für
das Pokalendspiel Bolton Wanderers gegen West Ham United hatte man über 125000 Karten
verkauft, dazu drängen noch 70000 durch die Tore. Die Menge füllt
nicht nur die Tribünen, sondern auch das Spielfeld. Niemand weiß, wie man die
gefährliche Lage bewältigen solle.
Da erscheint in der Mitte eine hohe Gestalt auf
einem weißen Pferd, geradezu ein biblisches Bild: der Constabler George Scorey
auf seinem Schimmel Billy. Vom Mittelkreis aus schafft er es, die Masse aus dem
Stadion zu kommandieren.“
Das White-Horse-Cup-Final wird zur Legende ... |
Ein anderes geschichtsträchtiges Ereignis, das „Wembley-Tor“
im Endspiel der Weltmeisterschaft 1966 dient dann eher als Symbol
anhaltender Ungewissheit und andauernder Debatte.
Zitate aus: Klaus Zeyringer: Fußball. Eine Kulturgeschichte, Frankfurt a.M. 2014
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