Donnerstag, 24. März 2022

Herodot, Thukydides und die Begründung der abendländischen Geschichtsschreibung



Doppelherme: Thukydides (links) und Herodot (rechts)

Das kurze Vorwort Herodots zu seinen 9 Büchern zur Geschichte ist gleichsam die Gründungsurkunde der abendländischen Geschichtsschreibung. In nur vier Zeilen erklärt der Pater historiae, was ihn bewog, die Geschichte der Griechen und Barbaren, von Kroisos bis in seine eigene Zeit darzustellen:

„Des Herodot von Halikarnassos Darlegung der Erkundung (Historíe) ist diese, auf dass weder das von Menschen Geschehene (Genómena) durch die Wirkung der Zeit verblasse noch die großen und staunenswerten Werke (Érga), ob sie nun von Hellenen, ob von Barbaren aufgewiesen wurden, ohne Kunde würden; das andere, und insbesondere, aus welcher Verschuldung (Aitía) sie miteinander Kriege geführt haben.“

Der zentrale Begriff in der Einleitung ist Historíe. Bei Herodot bedeutet er „Erkundung“ i.S. dessen, was Herodot antreibt, also ein Wissenwollen und Fragen, bevor daraus dann Kenntnis und Erkenntnis erwachsen. Für das, was seine Nachfolger mit dem einen Wort „Geschichte“ sagen werden, verwendet Herodot noch zwei Wörter: Apódexis historíes, d.h. „Darlegung der Erkundung.“

Herodot möchte gleichermaßen verhindern, dass das Geschehene im Laufe der Zeit verschwindet und die großen Taten, also das, was sie getan, aber auch erdacht und ersonnen haben, ohne den verdienten Ruhm bleiben. „So begreift sich Herodot als Wahrer des Gedächtnisses, dessen Amt es ist, dem Vergessen entgegenzutreten.“

Herodot - Statue vor dem Wiener Parlament

Herodot ist kein kleingeistiger oder gar „nationalistischer“ Geschichtsschreiber, Barbaren wie Griechen stehen einander in ihren Leistungen nicht nach. Besonders interessieren Herodot die großen Auseinandersetzungen und Kriege zwischen Griechen und Persern, insbesondere deren Aitía – „Veranlassung“ oder „Gründen“.

Thukydides stellt sich - in dritter Person - und seinen Heimatort ebenfalls im ersten Satz des Werkes vor:

„Thukydides aus Athen hat den Krieg zwischen den Peloponnesiern und Athenern beschrieben, wie sie ihn gegeneinander geführt haben; er hat damit gleich bei seinem Ausbruch begonnen in der Erwartung, er werde bedeutend sein und denk-würdiger als alle vorangegangenen. Er schloß dies daraus, daß beide Konflikt-parteien in jeder Hinsicht auf dem Höhepunkt ihrer Macht in den Krieg traten, und weil er sah, daß sich das übrige Hellas jeweils einem der beiden Gegner anschloß, teils sofort, teils nach einigem Überlegen. Denn dies war die gewaltigste Erschütterung für die Hellenen und einen Teil der Barbaren, ja sozusagen für den größten Teil der Menschheit. Was sich nämlich davor und noch früher ereignet hatte, war wegen der Länge der Zeit zwar unmöglich zu erforschen, auf Grund von Anzeichen aber, von deren Richtigkeit ich mich bei der Prüfung eines langen Zeitraumes überzeugen konnte, bin ich der Meinung, daß es nicht bedeutend war, weder in Kriegen noch sonst.“ 

Auch für Thukydides sind große Taten sind erinnerungswürdig. In seinem Werk über den Peloponnesischen Krieg schlägt Thukydides in den Kapiteln der sog. Archäologie, die der Einleitung folgen, einen großen Bogen über die griechische Frühzeit, die Zeit der Wanderungen und Tyrannen bis zur Ankunft der Perser, um schließlich wieder zu seinem Ausgangspunkt zu kommen, der Hochrüstung der Kriegsgegner Sparta und Athen und dem Ausbruch des Krieges. 

Im Gegensatz zu den Epen Homers, bei denen der Dichter auch das Unglaubwürdige und Sagenhafte „in hymnischem Glanz überhöhte“ und anschließend die Menschen alles ungeprüft übernähmen, glaubt Thukydides ein System von Paradeígmata (Beweisen), Semeîa (Zeichen) und Tekméria (Indizien) entwickelt zu haben, mit dem sich zumindest der Lauf der Geschichte als sicher erweisen lässt. So versucht Thukydides, mit historischen Analogien, archäolo-gischen und topographischen Zeugnissen oder einfachen rationalen Überlegungen aus dem Mythos das herauszuschälen, was historischen Bestand hat. 

Explizit nennt Thukydides den Grund, der ihn veranlaßte, sich dem Krieg der Peloponnesier und der Athener zu widmen. „Wer aber klare Erkenntnis des Vergangenen erstrebt und damit auch des Künftigen, das wieder einmal nach der menschlichen Natur so oder ähnlich eintreten wird, der wird mein Werk für nützlich halten, und das soll mir genügen. Als ein Besitz für immer, nicht als Glanzstück für einmaliges Hören ist es aufgeschrieben.“ 

Thukydides setzt zwar voraus, daß der Mensch aus der Geschichte lernen kann, aber nicht in dem modernen Sinn, dass die Menschen in der Vergangenheit gemachte Fehler nicht wiederholen werden. Thukydides will keine Rezepte geben oder Vorschriften machen, er erwartet von seinen Lesern nur die Fähigkeit, die Gegenwart, ihre Gegenwart, mit der von ihm geschilderten Vergangenheit zu vergleichen, um eventuell auf Gemeinsames oder Ähnliches aufmerksam zu werden. 

Thukydides - Statue vor dem Wiener Parlament

„Daß das überhaupt möglich ist, liegt für ihn in der einzigen Konstante begründet, welche die Geschichte der Menschen besitzt, in der anthropeía phýsis oder dem anthrópinon, also der menschlichen Natur.“ Weil sie auch über größere Zeiträume gleichbleibe, könnten Vergleiche zwischen verschiedenen Abschnitten der Geschichte angestellt werden, um so ein Lernen aus der Geschichte zu ermög-lichen.

Am Beispiel der Darstellung der Pest in Athen zu Beginn des Peloponnesischen Krieges wird deutlich, wie Thukydides sein Werk verstehen möchte: „Es möge nun jeder, Arzt oder Laie, über sie seine Meinung sagen, woher sie wahrscheinlich ihren Ursprung genommen hat und welche Krankheitskeime die Kraft zu so tiefgreifenden Veränderungen bergen; ich will nur beschreiben, wie sie verlief; die Merkmale, bei deren Beachtung man die Krankheit bei einem neuerlichen Auftreten sicher erkennen könnte, wenn man schon etwas von ihr weiß, die will ich darstellen, der ich selbst krank war und andere leiden sah.“

Thukydides weist also alles, was nicht auf Anschauung beruht, als Spekulation zurück. „Er selbst will einzig das niederschreiben, was er mit eigenen Augen sah. Er tut das, weil er späteren Generationen die Möglichkeiten geben will, Vergangenes zu erkennen, so es sich wiederholt. Was für die Pestsequenz gilt, gilt aber auch für das Gesamtwerk, nämlich darzustellen, `was wieder einmal nach der menschlichen Natur so oder ähnlich eintreten wird´. Das ermöglicht Wieder-erkennen und sogar begrenzte Voraussage, aber kaum Heilung.“


Zitate aus: Wolfgang Will: Herodot und Thukydides. Die Geburt der Geschichte, München 2015 (C.H. Beck)



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