Donnerstag, 10. März 2022

Paul Nolte und die multiple Demokratie

Demokratie ist aktuell wie kaum zuvor – und wirft wie nie zuvor Fragen auf. In seinem Buch „Was ist Demokratie? Geschichte und Gegenwart“ verknüpft Paul Nolte die historischen Perspektiven und grundsätzlichen Fragen mit den aktuellen Problemen und zeigt auf, dass die Geschichte der Demokratie nie nur von Wachstum, Fortschritt und Erfüllung handelte. Sie war immer zugleich eine krisenhafte Suche nach der Auflösung von Konflikten und Widersprüchen. 

Während sich manche Etappen in der Geschichte der Demokratie klar benennen ließen – beispielsweise beim Wandel von Regierungsformen oder auch mit Blick auf die Ausweitung politischer Rechte der Bürger (Abschaffung eines Wahlzensus, Einführung des Frauenstimmrechts), so gibt es seit den 70er Jahren zunehmend Demokratisierungsprozesse, die nicht gradlinig verlaufen, sondern in denen viele verschiedene, auseinanderlaufende und sich überkreuzende Wege eingeschlagen werden, deren Ziele mithin unsicher geworden sind. 

Zivilgesellschaft

Dennoch, trotz Vielfalt und zuweilen auch Unübersichtlichkeit des jüngsten demokratischen Wandels, die „Entdeckung der `Zivilgesellschaft´ hat den scheinbar saturierten westlichen Demokratien Impulse aus dem spätkommu-nistischen Osteuropa vermittelt – und umgekehrt die westliche Protest- und Bürgerdemokratie dort als subversive Kraft etabliert.“

Zwar hinke die europäische Einigung mit ihren Institutionen dem Muster einer nationalstaatlichen Demokratie hinterher, wirke aber gleichzeitig als mächtige Triebkraft im Ausbau von Grundrechten, für bürgerliche Freiheitsrechte gegenüber dem Staat und für die justizielle Demokratie. „Die neue Rolle des Konsumbürgers ist nicht auf die ökonomische Sphäre des privaten Verbrauchs begrenzt, sondern hat die gesamte Existenz des politischen Bürgers neu eingefärbt, der seine politischen Ansprüche viel mehr als früher aus der persönlichen Lebenswelt und privaten Lebensführung definiert.“

Auch die deliberative Demokratie sei  nicht nur ein theoretisches Konzept, „viel-mehr finden sich wichtige Spuren ihrer Praxis in neuen Formen der außerparlamentarischen Aushandlung und Konsensbildung, an `Runden Tischen´, in Schlichtungs- oder Mediationsverfahren.

„Über einen Kamm scheren lassen sich die verschiedenen Trends jedoch nicht ohne weiteres. Sie laufen öfters parallel oder konkurrieren miteinander. Engagierte Bürgerinnen und Bürger kämpfen für mehr direkte Demokratie in Volksinitiativen und Abstimmungen; viele andere halten das nicht für die Arena, in der sich demokratische Zukunft überwiegend entscheidet. Internet-Aktivismus und «face-to-face»-Politik können sich gegenseitig befeuern, aber auch in Konkurrenz zueinander treten; von der Ambivalenz des Internets als Freiheitstechnologie zu schweigen.“

Das Besondere an dieser Entwicklung all dieser Facetten der „neuen“ Demokratie ist sicherlich ihr Verhältnis zu den Regeln und Institutionen des repräsentativen Systems und der verfassungsmäßigen Demokratie. „Die neuen Trends haben sich zu einem erheblichen Teil informell herausgebildet, sie spiegeln soziale und kulturelle Veränderungen und neue politische Praxisformen, ohne in der Verfassung verankert zu sein. Möglicherweise lässt sich das nachholen, und man könnte sich ein Grundgesetz vorstellen, das zivilgesellschaftlichen Aktivismus, NGOs oder neue Institutionen der außerparlamentarischen und außergerichtlichen Konflikt-regulierung ausdrücklich in seine Artikel aufnimmt. Wahrscheinlicher ist jedoch, dass Verfassungsdemokratie und außerkonstitutionelle Demokratie nebeneinander bestehen bleiben, so wie das auch für die Europäische Union gilt.“

Partizipation und Mitsprache

Gleichwohl aber werde die klassische Demokratie der individuellen Freiheitsrechte, der Gewaltenteilung und des parlamentarischen Regierungssystems durch die neuen Entwicklungen keinesfalls abgelöst, denn wo es noch keine Demokratie gibt - in Diktaturen oder in autoritären Regimen -, steht ihre Etablierung ganz oben auf der Wunschliste der Menschen. Eine der klassischen Demokratie überlegene Form der Sicherung von Grundrechten, Rechtsstaatlichkeit und legitimer Regierung auf Zeit ist bisher jedenfalls noch nicht gefunden worden.

„Angesichts postmoderner Auflösung von Hierarchien und Zentren, angesichts der kulturellen Prägekraft digitaler Netzwerkarchitekturen mag es umstritten sein, noch von einem Zentrum oder Fundament der Demokratie zu sprechen. Aber anders wird man der fortwirkenden Bedeutung des demokratischen Verfassungsstaates, wie er sich spätestens in der Mitte des 20. Jahrhunderts in Westeuropa und Nordamerika etabliert hatte, kaum gerecht.

Ein freies Wahlregime und Grundrechte stehen im Mittelpunkt der `eingebetteten Demokratie´, die ohne die sie umgebende Zivilgesellschaft ärmer wäre – umgekehrt macht die Zivilgesellschaft aber noch keinen demokratischen Staat. Auch sollte man nicht vergessen, dass schon die klassische Demokratie (…) in ein zivilgesellschaftliches Leben eingebettet war und sich aus ihm speiste: mit Vereinen und Verbänden, Parteien und wohltätigen Organisationen, die bereits in der Mitte des 19. Jahrhunderts florierten.“

Während aber in der klassischen Theorie der liberalen, pluralistischen Demokratie die Vereine, Parteien, Verbände Als `intermediäre Institutionen´ zwischen dem Individuum und dem Staat standen, und auf diese Weise eine Sicherung gegen die unmittelbare Vereinnahmung der Individuen durch einen alles umgreifenden Staat bildeten, wird die Zivilgesellschaft heute eher als eine „Veranstaltung vergemein-schafteter Individuen gegenüber dem Staat, als Kontrollinstanz und Stachel in dessen Fleisch“ verstanden. 

In diesem Sinn sei der demokratische Staat weniger ein unmittelbarer Ausdruck der pluralistischen Gesellschaft, sondern vielmehr ihr Gegenüber, „in zugespitzter Sichtweise und Kritik auch: eine schon nicht mehr demokratische Herrschafts-ordnung, die durch den gesellschaftlichen Protest `radikaler Demokratie´ ständig herausgefordert werden muss, um Freiheitsspielräume noch zu wahren. In der neueren linken Theorie spricht man sogar von `insurgent democracy´, von einer rebellischen oder aufständischen Demokratie, mit der sich Bürgerinnen und Bürger gegen einen Staat wehren, der selber durch den neoliberalen Kapitalismus seines demokratischen Gehalts beraubt sei.“

Radikale Demokratie

Die Politikwissenschaft bietet mittlerweile eine Vielzahl von Begriffen und Konzepten für die neuen Entwicklungen an, von denen sich aber noch keiner recht durchgesetzt hat. Zu den etablierteren Termini gehört sicherlich der Begriff der `partizipatorischen Demokratie´, „der auf die vielfältigen Formen des unmittel-baren Bürgerengagements und der politischen Teilhabe an der Basis abhebt, jenseits der klassischen Rolle des Wahlbürgers.“ Ging man etwa in den 70er Jahren davon aus, „dass nach der erreichten politischen Demokratie dasselbe formale Prinzip nun in andere Lebensbereiche – die Wirtschaft, die Bildung, die Religion, die Familie usw. – getragen werden müsse“, geht es heute „weniger um die `Demokratisierung aller Lebensbereiche´, sondern um die `Demokratisierung der Demokratie´ (Claus Offe).“ Der amerikanische Politikwissenschaftler Benjamin Barber hatte im Zusammenhang mit den Formen einer par partizipatorischen Politik schon 1984 von einer `starken Demokratie´ gesprochen. 

Wenn also heutzutage nicht mehr ein „Aggregatzustand der Demokratie“ von einem anderen abgelöst wird,  sondern Vielfalt und Überlagerungen von klassischer und neuer Demokratie die Wende zum 21. Jahrhundert bestimmen, könnte man mit Nolte durchaus von einer `multiplen Demokratie´ sprechen.

Wenn man berücksichtigt, dass sich Demokratie immer dreifach verstehen lässt – „als Erfüllung von Erwartungen, als Suche nach neuen Möglichkeiten und als Krise in politischer Realität und Selbstreflexion“ - dann stünden die neuesten Entwick-lungen am ehesten unter der Überschrift einer Suchbewegung, eines Experimentierens mit unsicherem Ausgang. 

Die „großen Erwartungen“ mögen noch nicht überall auf der Welt – wenn auch innerhalb der westlichen Länder – erfüllt sind, aber die „große Krise“ des frühen und mittleren 20. Jahrhunderts scheint überwunden, auch wenn manche Intellektuelle heute wieder „den Stern der Demokratie sinken sehen“. Aber trotz manchen Missbehagens und lebhafter Kritik spiegelt sich dies sicher nicht in den Einstellungen einer breiten Bevölkerung der demokratischen Länder wider. „Die Suche aber geht weiter.“


Zitate aus: Zitate aus: Paul Nolte: Was ist Demokratie? Geschichte und Gegenwart, München 2012 (C.H. Beck)


Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen