Donnerstag, 21. Januar 2021

Michael Walzer und der richtige Abstand der Kritik


Unter Kritik versteht man üblicherweise die die Beurteilung eines Gegenstandes oder einer Handlung anhand von Maßstäben. „Kritik“ ist in den Augen von vielen Autoren der Politischen Philosophie somit eine Grundfunktion der denkenden Vernunft und wird, sofern sie auf das eigene Denken angewandt wird, ein Wesens-merkmal der Urteilsbildung. Manche halten sie im Sinne einer Kunst der Beurteilung für eine der wichtigsten menschlichen Fähigkeiten.

Neben der Bedeutung der prüfenden Beurteilung und deren Äußerung in entsprechenden Worten bezeichnet die „Kritik“ aber auch eine Beanstandung oder Bemängelung von Zuständen und hier insbesondere auch Fehler und Versäumnisse in der politischen und gesellschaftlichen Entwicklung. An dieser Stelle stellt sich die Frage nach der Rolle des Kritikers bzw. der Gesellschaftskritik.

Kritik beruht letztlich auf der Tatsache, dass weder Traditionen noch Über-zeugungen – auch nicht die eigenen! - aus einem Guß sind, sondern eine gewisse Vielfalt, innere Spannungen oder Widersprüche aufweisen. Im Allgemeinen ist Kritik immer dann besonders treffend, wenn sie genau auf solche Diskrepanzen aufmerksam macht. 

Michael Walzer (* 1935)

Auch Michael Walzer hat sich in seinen Werken mit der Rolle des Gesellschafts-kritikers beschäftigt. Sein Werk „Just and Unjust Wars“ (1977) enthält eine eine Kritik an einer bestimmten Form des Krieges, darunter auch einige seiner eigener Nation. In „Spheres of Justice“ (1983) - kritisiert Walzer die Dominanz von Geld und Macht. 

Walzer beschäftigt aber vor allem die Frage, wie die Rolle des Gesellschaftskritikers zu verstehen ist. „Ist der Kritiker, wie es Intellektuelle oft sind, nur ein Konformist der Nonkonformität? Schon Rousseau hatte es vermutet, wenn er im Ersten Discours schrieb, sie seien nur `Feinde der allgemeinen Meinungen, und um sie zu den Altären zurückzubringen, brauchte man sie nur für Atheisten zu erklären´.“

Walzers Idee der Gesellschaftskritik wird vor allem von der Frage beherrscht, wie weit sich der Kritiker von der Gemeinschaft, die er kritisiert, entfernen darf.  Nach Meinung Walzer wird der kritische Abstand „in Zentimetern gemessen“. Damit will Walzer deutlich machen, dass die Kritik nur dann effektiv sein kann, wenn der Kritiker den Menschen nahe bleibt. „Wie sonst soll sie die Herzen der Menschen erreichen? Wie sonst könnte sie verständlich sein? Was wie ein Gebot der Effizienz klingt, ist zugleich das Gebot einer Hermeneutik, die nicht über die Menschen, sondern mit ihnen reden will.“

Eine Totalkritik, die alles Bestehende für verdorben hält – Walzer nennt als passendes Beispiel die Gesellschaftskritik Marcuses - lässt den kritischen Abstand zu groß werden. „Der Kritiker muss auf dem Teppich bleiben. Er muss, wie Walzer es in Anspielung auf Platon ausdrückt, in der `Höhle´ bleiben, der Versuchung widerstehen, sich in eine geistige Exterritorialität zu flüchten. Wenn dies geschieht, schlägt Kritik in Hybris oder in einen Herrschaftsanspruch um. Der Kritiker wird zum selbsternannten Führer aus dem Jammertal, so als ob die Kritisierten nicht selber in der Lage wären, ihren Weg zu gehen.“

Letztlich sind die von Walzer aufgeworfenen Fragen nicht neu. Sie begleiten die politische Philosophie seit ihrer Geburt, seit Platon und Sokrates. Letzterem war es beispielsweise gelungen - allerdings um den Preis seines Todes -, die Rolle des Bürgers und die des kritischen Philosophen in einer Person zu vereinen: „Obwohl er hätte fliehen können, blieb er im Gefängnis. Er unterwarf sich dem Urteil seiner Mitbürger. Damit wollte er den Gesetzen seiner Stadt Respekt bezeugen, und damit wollte er Zeugnis dafür ablegen, dass sein Philosophieren ein Dienst an der Stadt gewesen war.“

Johann Gottfried Schadow - Sokrates im Kerker (um 1800)

Sokrates war vielleicht der letzte Philosoph, der Philosoph und Bürger zugleich sein wollte. Nach seinem Tod wurden die Rollen für immer getrennt. Theoretisches und politisches Leben fielen auseinander. Michael Walzer will diese beiden Lebensformen wieder zusammenführen, auch wenn er sich bewusst ist, dass da immer ein gewisser Abstand bestehen bleibt. Er hofft nur, dass dieser klein gehalten, eben „in Zentimetern gemessen“ werden kann.

In „The Company of Critics“ (1988) beispielsweise liefert Walzer Einzelporträts verschiedener Kritiker, wobei er stets die Spannung zwischen kritischer Distanz und Verbundenheit mit dem Kritisierten, also zwischen Abstand und Nähe fokussiert. Er warnt ohne Umschweife vor dem „Verrat der Intellektuellen“. (1991, 324). So verstehen manche den Intellektuellen als „Feind der Welt“, und als einen solchen hat man auch Sartre charakterisiert. Aber Sartre sei, so Walzer nur in Frankreich ein „Feind der Welt“ gewesen. Er habe „seine Feindschaft aufgegeben, wenn er Kuba besuchte.“

Sartre, de Bevauvoir und Fidel Castro 

"Die Geschichte der Intellektuellen angesichts der totalitären Versuchungen
ist eine Geschichte der Täuschungen und Enttäuschungen.
(Joachim Fest)

Walzer dagegen verweist darauf, dass der Kritiker in dem Sinne Unabhängigkeit benötigt, als dass er „Freiheit von Regierungsverantwortung, von religiösen Autoritäten, von der Macht der Großunternehmen und von der Parteidisziplin“ braucht. So bleibt er idealerweise „mitten unter den Menschen“. Er steht in Opposition, aber niemals „absolut“.

Es mag vielleicht überraschen, dass für Walzer ausgerechnet eine Gestalt aus dem Alten Testament – der Prophet Amos – das Vorbild eines guten Kritikers ist. Der Kritiker Amos hat – und das stellt Walzer heraus - sein Volk nicht verlassen. Anders als andere Kritiker ist Amos jemand, der „die Grundwerte der Männer und Frauen kennt, die er kritisiert“. Er ist „einer von ihnen“, während andere Propheten nur Botschafter von außen sind, solche, die kommen und wieder gehen. Amos aber versteht seine Rolle als Kritiker moralisch, wenn er einen völkerübergreifenden Minimalkodex einklagt - „eine Art von religiösem Völkerrecht“, wie Max Weber es genannt hatte.  (1991, 93). 

Vor allem aber gilt die Sorge des Amos diesem, seinem Volk. Amos bleibt nur „wenige Zentimeter“ von seiner Nation und ihrer Geschichte entfernt, er kennt sie und es ist diese Kenntnis, die seine Kritik so reich, so radikal, so konkret macht.


Zitate aus: Henning Ottmann: Geschichte des politischen Denkens. Band 4: Das 20. Jahrhundert. Teilband 2: Von der Kritischen Theorie bis zur Globalisierung, J.B. Metzler (Stuttgart 2012)

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