Louis Guisan (1911–1998), von Beruf Rechtsanwalt, ist das geradezu perfekte Beispiel eines Liberalen mit starken Überzeugungen, eng vertraut mit der geistigen Tradition und dem Wesen des Liberalismus. Giusan war Regierungsrat des Kantons Waadt, Nationalrat, Ständerat, Präsident der Liberalen Partei der Schweiz und Direktor der ehemaligen, urliberalen Gazette de Lausanne (gegründet 1798). Sein Engagement in der Politik hinderte ihn gleichwohl nicht daran, seine grundlegende liberale Skepsis gegenüber der politischen Macht auszudrücken. Er sprach sich kompromisslos für die individuelle Freiheit und gegen Gleichmacherei aus.
Innenpolitisch liegt die Herausforderung für den liberalen Politiker bekanntlich darin, die Gesetzgebung auf deren einzigen Daseinsgrund zu beschränken, nämlich den Schutz der individuellen Freiheit: „Der Zweck der Gesetze besteht darin, den Ge-brauch der Freiheit sicherzustellen und `einen komfortablen Rahmen anzubieten, in dem der Bürger Herr über seine Handlungen bleibt´ und `nicht vor irgendeinem Vorhaben jemanden um Erlaubnis fragen muss´. Dies gilt für alle gleich.
Damit der Gebrauch der Freiheit ohne irgendwelche Vorrechte garantiert ist, liegt `das wesentliche politische Gut´ in der Gleichheit vor dem Recht, von der selbst die staatliche Autorität abhängt, denn Willkür entzöge dem Staat jede Legitimität. „Ein Liberaler wird sich daher unablässig dafür einsetzen, die Gesetzgebung zu vereinfachen, sie schlüssig zu machen und möglichst klein zu halten, indem er jede Einengung der individuellen Freiheit in Frage stellt.“
Die gleichmässige Anwendung des Rechts hängt vor allem davon ab, wie der Staat die individuellen Eigentumsrechte definiert und schützt: „Das Eigentum `schafft eine Schutzschicht um jedes Individuum´. Dieser Grundsatz, angefangen beim Eigentum am eigenen Leib, den eigenen Fähigkeiten und den Früchten seiner Arbeit ist das geeignete Mittel, um die Freiheit eines jeden in einer freien Gesellschaft zu garantieren. Die Gerechtigkeit der Politik bemisst sich somit an der Höhe des Eigentumsschutzes, nicht an der Regulierungsdichte. Der Schutz des Lebens und der Freiheit aller geht allein aus dem Eigentum hervor. Die Politik dient diesem Ziel.“
Wer also verhindern möchte, „dass der Rechtsstaat seine Befugnisse übertritt und das individuelle Eigentum antastet, muss sich gegen die Intensität und das Tempo der Gesetzgebung zur Wehr setzen und Zurückhaltung fordern.“
Die Gefahr der Überregulierung für die Freiheit |
Der Mensch kann nur frei sein und bleiben, wenn er den gesetzlichen Rahmen kennt, in dem er sich bewegt. „Sollte er eines Tages nicht mehr wissen, was gut und böse und was gesetzeskonform ist, weil die Gesetze zu zahlreich oder zu kompliziert sind, dann fällt er der Macht des Staates anheim, der allein das Recht kennt und über alles entscheidet. Dann füllt eine inflationäre Gesetzgebung die Gesetzesbücher und höhlt die persönliche Freiheit aus. Das Fortschreiten der Gesetze führt zum Niedergang des Rechts.“
Diese Dissonanz zwischen freiheitsbedrohenden Gesetzen einerseits und dem Recht auf Eigentum zur Erhaltung der Freiheit anderseits führt dazu, dass das Recht seine natürliche Berechtigung verliert, wenn es von einer grenzenlosen und willkürlichen Gesetzgebung in Beschlag genommen wird und am Ende nicht mehr die Freiheit schützt und das Eigentum garantiert, sondern zu deren Bedrohung geworden ist.
Die Degeneration des Rechts durch die Gesetzgebung ist nicht die Frucht eines Zufalls oder einer finsteren Macht, sondern die einer interventionistischen Politik, die sich von der Politik bis zur Verwaltung erstreckt und von Sonderinteressen genährt wird, die Bevorzugung und Schutz vor der Freiheit der anderen und vor dem wirtschaftlichen Wettbewerb suchen. „Die Parlamentarier werden nicht müde, Anfragen, Postulate und Motionen einzureichen. In der Verwaltung treiben die Beamten ihre Dienste zu immer größerer Perfektion. Jeder möchte für sich ein Gesetz: die Getreide- und die Weinproduzenten, die Eisenbahn- und die Straßentransporteure, die See- und die Flussfischer, die Primar-, die Sekundar- und die Hochschullehrer. Und sie möchten nicht nur Gesetze, sondern auch Verordnungen, Reglemente und Vorschriften.“
Aus der Maßlosigkeit der Gesetze und der Reglemente ergibt sich eine Reihe von Folgen: Der Interventionismus, der Subventionismus, der Dirigismus und der Protektionismus im Verbund mit der Erhebung von unbegrenzten Steuern schaden nicht nur der Wirtschaftsfreiheit und damit dem Wohlstand, sondern sie verstärken auch das Gefühl, ungerecht behandelt zu werden.
„Die Staatsmacht wird bald alle gegen sich haben: die Acker- und die Weinbauern, die Arbeitgeber und die Arbeitnehmer, die Beamten und die Freischaffenden, die Importeure und die Exporteure, die alle nach Hilfe und Unterstützung rufen und sich dadurch selbst zu Knechten machen.“
Die Lösung ist einfach: Verzicht auf Gesetzgebung. „Im Allgemeinen ist es besser, kein Gesetz zu machen, denn ein jedes schränkt die Freiheit ein.“ Guisan veranschaulicht die Unbeweglichkeit, die sich aus der krankhaften Reglementierung ergibt, anhand eines praktischen Beispiels: „Nehmen wir an, es gäbe eine perfekte Baugesetzgebung, die alles vorschreibt: die Höhen- und Breitenmasse, die Materialien und die Farben, die Kosten und die Höhe der Mieten – gäbe es dann noch jemanden, der bauen möchte?“ In diesem Fall wäre der Bürger nicht mehr wirklich Bürger, sondern Untertan, denn er wäre nicht mehr frei. Er würde zu einem einfachen Objekt der Verwaltung: jemandem, der nur noch Gesetze und Reglemente befolgt.
Grenzenloser politischer Aktivismus der Politiker = Desillusion der Bürger! |
Das Paradox des grenzenlosen politischen Aktivismus besteht darin, „dass der Staat, wenn er sich überall einmischt, nicht in der Lage ist, die Bevölkerung zu- friedenzustellen. Er wird vielmehr zum allseitig verhassten Feind, da er Verdruss und enttäuschte Erwartungen anhäuft. Daraus folgt, dass sich die Bürger von den öffentlichen Angelegenheiten abwenden.“ Dies erkläre nicht zuletzt auch die stets anwachsende Zahl der Desillusionierten und der Nichtwähler.
Da eine einzige Stimme in der Politik im Allgemeinen nichts bewirkt, kümmern sich die Leute vernünftigerweise vor allem um das, was sie direkt betrifft, und was sie tatsächlich kontrollieren können, wie etwa die Gründung einer Familie, den Kauf eines Autos oder eines Hauses sowie ihr berufliches Vorwärtskommen: „Die Bürger kümmern sich um ihre Privatangelegenheiten und erwarten nicht viel vom Staat, außer, dass dieser sich ihnen gegenüber sehr zurückhält. Initiativen der Staatsgewalt wecken ihr Mistrauen. Sie verlangen von ihr eher die Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung als deren Veränderung zu ihrem angeblichen Vorteil. Die Stimmenthaltung liegt dann so hoch, dass man sagen kann, dass selbst die verführerischsten gesellschaftlichen Neuerungen immer nur von einer kleinen Minderheit im Volk gewollt werden.“ Dies relativiere auch das kollektivistische Märchen eines `Volkswillens´, der einer Reihe politischer Vorhaben zweifelhafte Legitimität verleiht.
Die politische Mehrheitsregel sollte sich auf einige große Fragen beschränken, die eine kollektive Entscheidung verdienen; der Rest gehört in die Privatsphäre. „In einem allgegenwärtigen Staat, in dem persönliche Fragen kollektiviert worden sind, hält sich die Mehrheit bei Wahlen und Abstimmungen oft zurück, insofern dass die Auswahl oft gar keine echte Wahl ist. Kommt hinzu, dass es bei politischen Kompromissen oft nicht möglich ist, mit ja oder nein zu antworten, da das geringere Übel nicht immer überzeugt.“
Das Fehlen von Nuancen im politischen Entscheidungsprozess und sein Eingriff ins Privatleben führt deshalb ein Stück weit zur Tyrannei des Status Quo beziehungsweise zur Abhängigkeit von den organisierten Interessen.
„Die Lösung besteht darin, sich zuerst von der Illusion zu befreien, dass alles, was `von oben´ organisiert wird, am besten, am effizientesten und am vernünftigsten herauskommt; dann, ein System von unten nach oben zu bauen, beginnend bei den Anwendern und Eigentümern, über die Gemeinden und Kantone bis schließlich zur Eidgenossenschaft, und den übergeordneten Stufen nur anzuvertrauen, wozu die unteren Stufen zu lösen nicht berufen sind. Nur so wird die Politik in Zukunft die Entscheidungen so nah wie möglich bei den Menschen fällen.“
Zitate aus: Pierre Bessard, Erst denken, dann handeln. Liberale in der Politik, LI-Essay, Liberales Institut, Zürich 2017
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