Donnerstag, 6. August 2020

Konrad Liessmann und die Veränderung des Menschen durch Bildung (Teil 2)


Fortsetzung vom 30. Juli 2020

Es ist eine zentrale These moderner Bildungstheorien, dass sich Menschen und Gesellschaften durch Bildung verändern lassen. Mit dieser Ansicht setzt sich Konrad Liessmann in seinem Beitrag für die Reihe Wissen des SWR 2 kritisch auseinander, denn vielen gilt Bildung immer noch als jenes Instrumentarium, mit dem nicht nur die Menschen einen hochwertigen Arbeitsplatz und ihr individuelles Glück finden, sondern mit dem auch die drängenden sozialen, politischen und ökologischen Probleme unserer Zeit gelöst werden können.

Liessmann differenziert die Idee der "Selbstveränderung durch Bildung" nach den drei Bedeutungsebenen des Begriffes „Selbstveränderung“. Nach den ersten beiden Ebenen - Selbstveränderung als Selbstbildungsautonomie und Selbstveränderung als Selbstverwirklichung - geht es abschließend um das Verständnis von Selbstveränderung als eine bestimmte Form der Lebens-veränderung:

Drittens: Ich muss nicht nur mich oder mein Selbst, ich muss mein ganzes Leben ändern. Bildung als radikaler Einschnitt, Bildung als Zäsur in einer Biografie.“

Geht es allerdings darum, nicht nur sein Selbst, sondern sein Leben überhaupt zu ändern, setzt dies einerseits Kriterien voraus, an denen man das Ungenügen des Lebens messen oder erfahren kann, andererseits kann es aber nur eine bestimmte Form der Lebensveränderung sein, die ausgerechnet durch Bildung ermöglicht werden soll.

Sehr oft werden Lebensveränderungen ja durch andere Umstände bewirkt, etwa durch einen Orts-, Partner- oder Berufswechsel. Redewendungen wie „Es ist Zeit, sich zu verändern“ oder „Man sollte sich man wieder neu erfinden“ markieren weniger die Sehnsucht danach, sein Leben radikal gerade durch Bildung umzustellen, als vielmehr den Wunsch, einmal ein anderes Lebenskonzept auszuprobieren. Liessmann nennt dies das Rilke-Sloterdijksche Anforderungsprofil.

In Rainer Maria Rilkes berühmten Gedicht „Archaïscher Torso Apollos“ hat der Betrachter einer kopflosen antiken Statue plötzlich das Gefühl, von diesem Kunstwerk selbst betrachtet zu werden: "... denn da ist keine Stelle, die dich nicht sieht". Der Betrachter fühlt sich plötzlich des Ungenügens seiner Existenz schlagartig überführt und weiß nun: „Du musst dein Leben ändern.“

"Du musst Dein Leben ändern!"

Der Philosoph Peter Sloterdijk hat diesen Vers – Du musst dein Leben ändern – zu Titel und Programm eines umfangreichen Buches gemacht. Dieses rilke-sloterdijksche Modell der radikalen Lebensänderung geht also von einer markanten ästhetischen Bildungserfahrung aus: Das Kunstwerk hilft uns, uns zu erkennen und zu verändern.

Solche Bildungserfahrungen sind gleichwohl nicht planbar oder gar in eine Didaktik zu überführen: Die Lektüre dieses Rilke-Gedichts in der Sekundarstufe eines Gymnasiums wird wahrscheinlich weniger zu eminenten Ansprüchen an Selbstveränderung als vielmehr zu Klagen über die vermeintliche ökonomische Nutzlosigkeit und Lebensferne von Gedichten führen.

Aber immerhin: Es ist dieses Konzept, das noch am ehesten einen Widerspruch zwischen individueller Bildung und gesellschaftlicher oder politischer Macht aufbrechen lassen könnte. Denn es kann auch nicht ausgeschlossen werden, dass ein Mensch durch die Lektüre eines Gedichts oder durch den Besuch eines Museums beschließt, mit den Normen und Vorgaben zum Beispiel einer effizienzorientierten Wettbewerbsgesellschaft oder einer medial inszenierten Spaßkultur zu brechen.

Dass es ein Gedicht ist und zwar von Rainer Maria Rilke, das diesen Impuls zur Veränderung setzt, ist aber alles andere als zufällig. Darin drückt sich jener Bildungsanspruch aus, der eben keine beliebigen Gegenstände, an denen sich vielleicht Kompetenzen erwerben und erproben ließen, kennt, sondern ein ästhetisches Ereignis ersten Ranges postuliert, das allein diesen Veränderungsimperativ „Du musst dein Leben ändern“ aussprechen darf.

Existentielle Bildungserfahrungen lassen sich nicht an beliebigen, sondern nur an exzeptionellen Objekten machen. An misslungenen oder drittklassigen Kunstwerken kann wohl die Urteilskraft geschult werden, aber die tiefe Berührung, aus der die Kraft zu einer Lebensveränderung entspringen kann, bleibt wohl jenen Werken vorbehalten, deren ästhetische Qualität uns eine Ahnung von den tiefen Dimensionen des Menschseins zu geben vermag. Sofern Bildung ästhetische Bildung ist, werden die vielzitierten Bildungserlebnisse um solche Begegnungen und Konfrontationen kreisen, so Liessmann.

Nur ästhetische Qualität vermag uns eine Ahnung von den
tiefen Dimensionen des Menschseins zu geben.

Diese durchaus umstrittene Form einer krisenhaften Bildungserfahrung, die als reflexive Kritik an bestehenden Lebenskonfigurationen in Erscheinung tritt, gehorcht letztlich der Einsicht, dass Bildung etwas Kompliziertes und nur für wenige Erreichbares sei, und dass Bildung letztlich einsam mache: Nur ich ändere mein Leben, auch wenn Rilke zu all seinen Lesern spricht. Solche ästhetischen Bildungserfahrungen lassen sich weder verallgemeinern noch in einen engen Kompetenzraster zwängen, schon gar nicht standardisieren oder curricular regeln. Sie bleiben jenen vielleicht sogar schicksalhaften Zufälligkeiten überantwortet, die sich jeder Form von Bildungsplanung, Überprüfung, Kontrolle und Evaluation entziehen.

Sein Leben zu ändern ist kein Output, den Bildungsprogramme, wie wohl-meinend gedacht auch immer, versprechen könnten. Dass solches trotzdem immer wieder versucht wird, gehört zu den unfreiwillig komischen Seiten institutionalisierter Bildungsanstrengungen.

Liessmann geht allerdings noch einen Schritt weiter in seinem Gedankengang: Es gehört zu den Topoi der Selbstbeschreibung der Moderne, dass moderne Gesellschaften ohnehin nur im Modus der Veränderung existieren können. Lässt sich also nicht nur der Einzelne, sondern sogar ganze Gesellschaften durch Bildung verändern?

Die These, dass die Menschheit im Zeitalter der Beschleunigung lebt, ist eine Selbstverständlichkeit geworden, dass die Welt in wenigen Jahren eine ganz andere sein wird als heute, scheint vielen gewiss zu sein. Die Dynamik dieser Veränderung resultiert aber schon lange nicht mehr aus sozialen Spannungen und daraus abgeleiteten politischen und sozialen Revolutionen, die auch durch Bildung verstanden als Aufklärung initiiert oder motiviert sein können, sondern diese Veränderungen entstehen aus technologischen Innovationen und den damit verbundenen technischen Revolutionen. Der vielzitierte Prozess der Digitalisierung aller Lebensbereiche ist dafür nur das aktuellste Beispiel. Ob damit allerdings der Bildung gedient ist, ist ziemlich fraglich.

Digitalisierung aller Lebensbereiche - Das Ende der Bildung?

Die Frage, ob Bildung etwas zur Veränderung von Gesellschaften beitragen kann, geht allerdings in einem weiteren Sinn von der Vorstellung aus, dass gebildete Menschen weniger anfällig für jene Vorurteile, Stereotype, Ängste und Aggressionen sind, die unserer gegenwärtig Gesellschaft so zu schaffen machen. So ist etwa der Gedanke, dass demokratische Gesellschaften nur mit gebildeten Bürgern funktionieren können, weit verbreitet. Gegen Fremden-feindlichkeit, Rechtspopulismus und totalitäre Versuchungen aller Art soll Bildung wie eine Schutzimpfung wirken, die nicht früh genug verabreicht werden kann. Auch wenn dies der historischen Erfahrung widerspricht, gehört der Glaube an Bildung als eine gesellschaftspolitische Hygienemaßnahme zum Arsenal unserer aufklärerischen Bildungslegitimationen.

In elaborierter Form hat dies etwa die amerikanische Philosophin Martha Nussbaum vorgeführt und vor allem in der musischen Bildung, in der Auseinandersetzung und Produktion mit und von Literatur und Musik jene Voraus-setzungen gesehen, die zu toleranten, verständnisvollen und partizipierenden Akteuren einer demokratischen Gesellschaft führen sollen.

Hinter diesem Konzept verbirgt sich ein bildungspolitischer Imperativ, der gegen alle Formen der Anpassung, Qualifikation und bloßen Talentpflege das unverstellte Menschsein im Auge hat und von dem nicht gesagt werden kann, ob er überhaupt gelingen kann. Bildung erscheint hier als Anspruch, der die Herrschaftsverhältnisse, denen sie gleichwohl unterliegt, konterkariert. Das Postulat, Gesellschaften durch diese Form von Bildung zu verändern, unterstellt, dass diese Gesellschaften durch inhumane oder ungerechte Verhältnisse charakterisiert sind, die dennoch in ihrer Mitte, das heißt an ihren Schulen und Universitäten, die Möglichkeiten zu ihrer eigenen Kritik, vielleicht sogar Beseitigung bereitstellen sollten.

Liessmann fordert daher, dass Augenmerk auf jenen Diskurs zu legen, der die verändernde Kraft von Bildung weniger in einer sozialen und politischen Veränderung des Gemeinwesens, als vielmehr in der Auseinandersetzung mit den neuen gesellschaftsverändernden Technologien sieht. Diese Technologien und die damit verbundenen Versprechungen haben ja mittlerweile das mutige soziale Denken mehr oder weniger aufgezehrt. 

Gegenüber den modernen Verheißungen der Technik hinkt Bildung entweder nach – wenn etwa davon die Rede ist, dass die Umwandlung der Arbeitswelt in Richtung "Industrie 4.0", Digitalisierung und Automatisierung zu einer permanenten Selbstschulung in Sachen digitaler Kompetenz zwingen werde; oder die Bildung soll als kritisches Korrektiv fungieren – wenn etwa Sensibilisierungsprogramme für den Umgang mit sozialen Medien, Fake-News, Big Data, Suchalgorithmen und Selbstoptimierungstechnologien als neue Bildungsziele formuliert werden.

Wirklich gesellschaftsverändernde Potenziale schreibt diesen Bildungs-programmen allerdings kaum noch jemand zu, auch wenn manchmal der Hoffnung Ausdruck verliehen wird, dass bestimmte Formen von Wachheit, Aufmerksamkeit und Reflexivität zu einem geänderten Verhalten führen könnten, das imstande sein konnte, die Macht der Internet-Konzerne in die Schranken zu weisen.

Wachheit, Aufmerksamkeit und Reflexivität

Ob also Bildung ein Selbstveränderungspotenzial in Hinblick auf Individuen oder Gesellschaft zugesprochen werden kann, hängt also letztlich vom Mut ab, Bildung inhaltlich und normativ zu bestimmen. Solange Bildung nur formal als Durchlaufen von Zertifizierungsstellen oder Sammeln von Leistungspunkten definiert oder auf den Erwerb von Kompetenzen und zeitgemäßen Kultur-techniken reduziert wird, erwächst aus diesen Bestimmungen weder eine notwendige noch eine mögliche Kraft zur Veränderung.

Allenfalls, so Liessmann, kann höchstens der Zufall dafür sorgen, dass jemand, der an beliebigen Texten eine veritable Lesekompetenz erworben hat, auch ein Buch entdeckt, das sein Leben verändert. In der Idee der Kompetenz steckt dieses Veränderungspotenzial nicht; wohl aber in der Idee, dass Menschen mit dem Anspruch auf Bildung bestimmte Bücher lesen können sollten, weil diese aufgrund ihrer Qualität, Bedeutung, Schönheit oder Widerständigkeit die Möglichkeit in sich tragen, einem Leben ganz andere Perspektiven zu eröffnen.

Zitate aus: Konrad Liessmann: Veränderung durch Bildung? Über eine rhetorische Figur, SWR2 Wissen: Aula, Sendung vom 10. Februar 2019

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