Unter dem Begriff „Befreiungskriege“ werden üblicherweise
die kriegerischen Auseinandersetzungen in Mitteleuropa von 1813 bis 1815
zusammengefasst, mit denen die französische Vorherrschaft unter Napoleon
Bonaparte über große Teile des europäischen Kontinents beendet wurde.
Gegen das Französische Kaiserreich, das sich
mit Großbritannien seit 1793 nahezu ununterbrochen in einem weltumspannenden
See- und Kolonialkrieg befunden hatte, bildete sich im Jahr 1813 nach Napoleons
Niederlage im Russlandfeldzug von 1812 erneut ein Militärbündnis. Dieses wurde
zunächst von Russland und Preußen getragen, später schlossen sich Österreich
und andere Staaten an. In Deutschland entstand in diesem Kontext eine
antifranzösische und national orientierte Publizistik, die eine Basis für den
deutschen Nationalismus im 19. und 20. Jahrhundert bildete. Der anfänglich auch
mit ideologischen Untertönen geführte Volkskrieg wurde insbesondere von
Metternich in einen Krieg der Regierungen zur Wiederherstellung eines
Gleichgewichts der alten Mächte umgewandelt.
Nach einem wechselhaften Kriegsverlauf wurde Napoleon
im Oktober 1813 in der Völkerschlacht bei Leipzig geschlagen. Er musste sich
über den Rhein zurückziehen. Der von Napoleon geschaffene Rheinbund löste sich
nach dieser Niederlage auf. Mit dem Rückzug Napoleons endete die französische
Herrschaft über Teile Deutschlands.
Die letzte Schlacht Napoleons vor seiner Abdankung 1814 Das Gefecht auf der Brücke über die Aube bei Arcis-sur-Aube |
An der Jahreswende zu 1814
überquerten die Alliierten den Rhein, im März wurde Napoleon schließlich in der
Schlacht bei Arcis-sur-Aube endgültig geschlagen und dankte ab. Die Sieger aus
Russland, Preußen, Großbritannien und Österreich marschierten in Paris ein.
Ab diesem Moment verwandelte sich die
französische Hauptstadt, in den Worten Metternichs, in „ein riesiges, weitläufiges,
herrliches Irrenhaus“. Nicht allein die europäischen Majestäten mitsamt ihrer
Minister und Generäle waren herbeigeströmt, sondern auch ihre Ehefrauen, Geliebten
und die übrigen Hofschranzen.
Die Neuankömmlinge hatten sich überall
einquartiert, wo es ihnen möglich war, und besonders gern die Privatwohnungen
von Funktionsträgern des napoleonischen Regimes in Anspruch genommen.
Fürst von Metternich, eigentlich: Clemens Wenceslaus Nepomuk Lothar von Metternich-Winneburg zu Beilstein |
Jacques Claude Beugnot, der ehemalige Kommissar
Napoleons im Großherzogtum Berg und jetzt Innenminister der provisorischen
Regierung Talleyrands, war wenige Tage nach dem Einzug der Alliierten nach
Paris zurückgekehrt. „Ich wollte meine Wohnung beziehen“, berichtet er. „Aber
sie war von Lord Burghess belegt, der nicht im mindesten geneigt war, mir auch
nur zum kleinsten Teil derselben Zugang zu gewähren. Er gab mir zu verstehen,
daß er sie besonders wegen meiner Bibliothek schätze.“
Charles William Stewart, britischer Offizier, Politiker und Diplomat (später der 3.
Marquess of Londonderry) übernahm das Hôtel particulier der Familie
Montesquiou, wo er begann, große Gesellschaften zu geben. Der ewige Leichtfuß
kam eines Abends wie üblich betrunken nach Hause, riß sich die Uniform vom Leib
und warf sich aufs Bett, ohne sich die Mühe zu machen, die zum Garten gehende
Terrassentür zu schließen. Als er wieder erwachte, stellte er fest, daß ihm
nicht nur sein üppig mit Goldlitzen und diamantenen Orden besetzter Dolman,
sondern auch jedes andere Kleidungsstück gestohlen worden war. Er mußte so
lange im Haus ausharren, bis ihm ein Schneider eine neue Uniform genäht hatte;
dann nahm er sein ausschweifendes Leben sofort wieder auf.
Der Preußenkönig Friedrich Wilhelm III. hatte das
Palais von Fürst Eugène, dem Stiefsohn Napoleons, bezogen und besichtigte von
hier aus unter kundiger Führung von Humboldts Bruder Alexander die
Sehenswürdigkeiten von Paris.
Der preußische Staatskanzler, Baron Karl August
von Hardenberg sah sich ebenfalls eifrig die Stadt an, allerdings erforschte er
weniger die kulturellen Sehenswürdigkeiten, sondern vielmehr systematisch alle
berühmten Pariser Restaurants, angefangen bei Robert, über Véry im
Palais-Royal, bis hin zum Rocher de Cancale.
Andere interessierten sich mehr für das Angebot
der Läden. Metternich machte sich auf die Suche nach edlen Seidenstoffen, die
er Wilhelmine schicken wollte. Als sie in Paris eintraf, ging sie zusammen mit
ihm einkaufen und half ihm bei der Auswahl von Kleidern für seine Frau. Er
erstand auch Möbel, Silberzeug und Stoffe für sein Haus in Wien und buchte für
den dort vorgesehenen Kongreß Tänzerinnen und Tänzer der Oper.
Russische Kosaken in Paris |
„Niemals ist mehr Gold in Paris gerollt“,
schrieb ein in österreichischen Diensten stehender französischer Offizier nach
Wien. „Tausende von Dukaten werden täglich in diesem ungeheuren Bordell
umgesetzt. Die Kaufleute leeren ihre Läden bis zur Neige; sechzigtausend Dirnen,
von den anständigen Damen ganz zu schweigen, stehen fortwährend im Dienst,
desgleichen die Frauen der Angestellten, seien es nun zivile oder militärische.“
Paris war die größte Metropole Europas, sein
intellektueller und kultureller Mittelpunkt, maßgebend für Geschmack und Mode,
und nun war es auch das politische Epizentrum des Kontinents.
Magisch zog es die Menschen an, und niemanden
mehr als die Briten, eine Nation unermüdlicher Touristen, die, abgesehen
von einer kurzen Unterbrechung während des Friedens von Amiens, zwei Jahrzehnte
lang vom Kontinent abgeschnitten waren. Ausflüge nach Paris waren nun in der
Londoner Gesellschaft der letzte Schrei. „Es regnet Engländer“, schrieb
Metternich an seine Frau und behauptete, daß jeden Tag bis zu sechshundert von
ihnen kämen; wie er hinzufügte, machten die Huren am Palais-Royal satte
Gewinne. Er schilderte auch die Ankunft einiger englischer Damen, deren
Kleidung ihn entsetzte. „Man muß das mit eigenen Augen gesehen haben, sonst
würde man es nicht glauben“, versicherte er ihr.
Lady Castlereagh |
Nachdem ihnen der Kontinent so lange versperrt
gewesen war, hatten die britischen Frauen den Anschluß an die europäischen
Modeentwicklungen verloren und ihrer Phantasie freien Lauf gelassen – mit
desaströsen Folgen. Eine Gruppe englischer Touristen erregte großes Aufsehen in
Genf, wo die Stadtverwaltung den Damen Ausgehverbot erteilte, nachdem
sich jedes Mal, sobald sie vor die Tür traten, eine schwer zu bändigende Menge
versammelte; man fürchtete Tumulte. Vorherrschend war ein irgendwie
nachlässiger, wenn auch kecker Stil mit kurzen Röcken, selbst unter älteren
Frauen. Schwarzenberg war über Lady Castlereaghs, die Frau des britischen Außenministers, Geschmack erstaunt. „Sie ist
sehr dick und kleidet sich so jugendlich, so knapp,
so unverhüllt“, schrieb er.
Eine der größten Attraktionen von Paris war das
Musée Napoléon im Louvre. Konzipiert, organisiert und seinem Zweck zugeführt
hatte es der Kunstexperte und Künstler Baron Dominique-Vivant Denon. Es war das
Ergebnis von Plünderungen in großem Maßstab während der Revolution und der Herrschaft Napoleons. Viele
Besitztümer des Museums entstammten den königlichen französischen Sammlungen,
beschlagnahmten Schlössern, entweihten Kirchen und aufgelösten religiösen
Einrichtungen.
Eine außergewöhnliche Sammlung von Altertümern
hatten wissenschaftliche Begleiter mitgebracht, die 1798 an Napoleons Invasion
Ägyptens teilgenommen hatten. Aber das meiste stammte aus Europa und war aus
dem Vatikan, aus Königs- oder Herzogspalästen, Klöstern und anderen
Institutionen überall in Italien, Belgien, den Niederlanden, Spanien, Portugal,
Deutschland und Polen entweder erplündert oder den Eigentümern abgepreßt worden.
Dominique-Vivant Denon |
Das Museum war einzigartig. Nie zuvor war so
viel vom künstlerischen Erbe des alten Ägyptens, Griechenlands, Roms und
Europas zusammengetragen, nie so klug ausgestellt oder so umfassend präsentiert
worden. Im Bereich der mittelalterlichen italienischen Malerei etwa hatte Denon
in Lagern und auf Dachböden Kunst aufgestöbert, die keine hohe Wertschätzung
mehr genoß; indem er sie aber einer größeren Öffentlichkeit zeigte und in
Katalogen beschrieb, wertete er sie wieder auf und brachte sie in Mode.
Die kultivierteren alliierten Diplomaten und
Offiziere strömten in den Louvre, und Maler wie Benjamin Haydon und William
Wilkie reisten eigens aus England an, um sich diese Schätze anzusehen. Hier bot
sich ihnen die einmalige Gelegenheit, Werke von Künstlern zu betrachten, über
die sie bisher nur gelesen hatten.
Der um die Zukunft seines großen Werkes
ängstlich besorgte Denon empfing mit der gleichen Liebenswürdigkeit Monarchen
wie Leutnants und führte sie beflissen durch die Sammlungen. Er verlängerte die
Öffnungszeiten und richtete Sonderausstellungen für bestimmte Werkgruppen ein,
um so viele Menschen wie möglich in sein Museum zu locken. Überdies stellte er
in Aussicht, alle Werke zurückzugeben, die nicht Teil der Dauerausstellung
waren, ungefähr zweihundert Gemälde, mehrere Dutzend Skulpturen und Hunderte
anderer Kunstwerke.
Er hätte nichts befürchten müssen. Alle, die
den Louvre besuchten, waren von der Erlesenheit der Sammlung überwältigt. Man
war der einhelligen Meinung, daß hier die Kunstwerke zugänglicher seien, daß
sie besser zur Geltung kämen und besser betreut wurden als dort, wo sie herkamen. Wichtiger noch, die Besucher begriffen, daß das
Museum als solches ein großes Kunstwerk und eine Institution von weltweit
unschätzbarer kultureller Bedeutung war.
Zitate aus: Adam Zamoyski: 1815 – Napoleons Sturz und der Wiener
Kongreß, München 2014
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