Kant teilte das Credo des klassischen
Liberalen, demzufolge die Herrschaft des Gesetzes garantiert, dass die Freiheit
des einen neben der Freiheit des anderen bestehen könne. Wie die
rechtschaffenen Bürger ihr eigenes Glück besorgen, gehe den Staat jedoch nichts
an.
Immanuel Kant |
„Im
Staatsrecht ist nicht das Glück der Bürger (denn das mögen sie selbst besorgen)
sondern das Recht derselben, was das Prinzip der Verfassung ausmacht. Der
Wohlstand des Ganzen ist nur das Mittel, ihr Recht zu sichern und sie dadurch
in den Stand zu setzen, sich selbst auf alle Weise glücklich zu machen. Daher
müssen sie auch die Armen selbst versorgen, Schulen unterhalten und ihre Kinder
selbst erziehen, aber auch die Freiheit dazu haben, ihre Religion selbst
bestimmen, aber nur durch Einstimmung sie verändern.“ (AA XIX, S. 560
Reflexionen 7938)
Der Staat sei also nicht dazu da, seine Bürger
glücklich zu machen, ihre Wohlfahrt zu besorgen. Und jeder Versuch, es doch zu sein,
ist im Ansatz despotisch:
„Eine
Regierung, die auf dem Prinzip des Wohlwollens gegen das Volk als eines Vaters
gegen seine Kinder errichtet wäre, d. i. eine väterliche Regierung (imperium
paternale), wo also die Untertanen als unmündige Kinder, die nicht
unterscheiden können, was ihnen wahrhaftig nützlich oder schädlich ist, sich
bloß passiv zu verhalten genötigt sind, um, wie sie glücklich sein sollen, bloß
von dem Urteile des Staatsoberhaupts, und, daß dieser es auch wolle, bloß von
seiner Gütigkeit zu erwarten: ist der größte denkbare Despotismus (Verfassung,
die alle Freiheit der Untertanen, die alsdann gar keine Rechte haben, aufhebt).“ (WA 9, S. 146).
Kant wendet sich gegen den paternalistischen
Wohlfahrtsstaat. Mit dem heutigen fraternalistischen Wohlfahrtsstaat hat dieser
allerdings wenig gemein. Was beide eint, ist gleichwohl die Tendenz, die
individuelle Freiheit zu zerstören.
Rebellion als Mittel gegen den Souverän
schließt Kant jedoch aus. Er schreibt klipp und klar:
„Daß alle
Widersetzlichkeit gegen die oberste gesetzgebende Macht, alle Aufwiegelung, um
Unzufriedenheit der Untertanen tätlich werden zu lassen, aller Aufstand, der in
Rebellion ausbricht, das höchste und strafbarste Verbrechen im gemeinen Wesen
ist; weil es dessen Grundfeste zerstört.“ (WA 9, S. 155 f.)
Mit der Freiheit der Feder ... gegen Paternalismus! |
Kant schweben nur friedliche Mittel gegen den
paternalistischen Wohl-fahrtsstaat vor, genauer gesagt ein friedliches Mittel:
Redefreiheit, die Freiheit der Feder.
„Also ist
die Freiheit der Feder – in den Schranken der Hochachtung und Liebe für die
Verfassung worin man lebt, durch die liberale Denkungsart der Untertanen, die
jene noch dazu selbst einflößt, gehalten (und dahin beschränken sich auch die
Federn einander von selbst, damit sie nicht ihre Freiheit verlieren) – das
einzige Palladium der Volksrechte. (WA 9, S. 161)
Wie gesagt, Kant sah im paternalistischen
Wohlfahrtsstaat eine Gefahr für die Freiheit der Bürger. Der fraternalistische
Wohlfahrtsstaat, der später mit Bismarck die Bühne betrat, konnte noch nicht sein
Thema sein. Gleichwohl ist in diesem Zusammenhang interessant, wie Kant das
Armenproblem behandelt, auch wenn er dies nur am Rande tut. Er plädiert klar
für eine Mindestabsicherung durch den Staat. Kant begründet seine Auffassung
nicht mit dem Recht der Armen als Bürger, sondern mit den Bedürfnissen der
Armen als Menschen, ganz gleich ob deren Situation selbst verschuldet ist oder
nicht. (AA XIX, S. 578 f.)
Kant dürfte in dem, was er „allgemeine
Ungerechtigkeit“ nennt, ein Motiv für staatliche Armenfürsorge gesehen haben.
Dieses Motiv bekommt durch das Streben des Menschen nach Glück eine
interessante Wende; eine Wende, die staatliche Armenfürsorge und individuelle
Freiheit ohne gegenseitige Beeinträchtigung nebeneinander bestehen lässt.
Wer nämlich einem Elenden eine Wohltat
erzeiget, um in Kants Worten zu sprechen, trägt damit nur seinen Teil der
Schuld an der allgemeinen Ungerechtigkeit ab, die er trotz aller Rechtschaffenheit
auf sich geladen hat:
„Man kann
mit Anteil haben an der allgemeinen Ungerechtigkeit, wenn man auch nach den
bürgerlichen Gesetzen und Einrichtungen kein Unrecht thut. Wenn man nun einem
Elenden eine Wohltat erzeiget, so hat man ihm nichts umsonst gegeben, sondern
man hat ihm das gegeben, was man ihm durch eine allgemeine Ungerechtigkeit hat
entziehen helfen. Denn wenn keiner die Güter des Lebens mehr an sich ziehen
möchte, als der andre, so wären keine Reiche aber auch keine Arme.“ (AA XVII, S. 416)
Wenn man nun einem Elenden eine Wohltat erzeiget, so hat man ihm nichts umsonst gegeben ... |
Es liegt auf der Hand, dass derjenige, der die
ungleiche Güterverteilung nicht als allgemeine Ungerechtigkeit und
Armenfürsorge nicht als Beförderung seines Glückes versteht, Kant nicht folgen
kann. Er kann das Muss zur Armenfürsorge nicht als ein selbstbestimmtes Muss,
das seiner freien Entscheidung entspringt, verstehen. Er kann es nur als eine
Beschneidung der Freiheit sehen, was es in seinem Fall auch ist. Das Gleiche
gilt für die Unterhaltung von Schulen und die Erziehung von Kindern.
Nur gewollt – wobei die Motive, es zu wollen,
unterschiedlich sein können – sind sie mit Freiheit vereinbar.
Zitate aus: Kant’s Gesammelte
Schriften, „Akademieausgabe“ (AA), Königlich Preußische Akademie der
Wissenschaften, Berlin 1900ff - Immanuel Kant, Werkausgabe (WA), hg. von Wilhelm
Weischedel, 1977ff - Weitere Literatur: Hardy Bouillon
(Hrsg.): Freiheit, Vernunft und Aufklärung. Ein Immanuel-Kant-Brevier. Zürich
2015 (Verlag Neue Zürcher Zeitung)
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