Das 19. Jahrhundert gilt den Historikern, insbesondere
den deutschen und französischen, als das Zeitalter des Nationalismus und der
Nationalstaaten. In seinem monumentalen Werk über die „Verwandlung der
Welt. Eine Geschichte des 19.Jahrhunderts“ wirft Jürgen Osterhammel einen
kritischen Blick auf diese so lange unwidersprochene These.
Am Anfang seiner Darstellung steht die begriffliche Klärung:
„Nationalismus“ definiert Osterhammel als „Wir-Gefühl“, „das sich auf ein
großes, sich als politischen Akteur und als Sprach- und
Schicksalsgemeinschaft begreifendes Kollektiv richtet.“
Seit dem Ende des 18. Jahrhundert hatte sich in Europaeine
Haltung entwickelt, die auf relativ einfachen und allgemeinen Ideen beruht: „Die
Welt zerfällt in Nationen als ihre `natürlichen´ Grundeinheiten; Imperien zum
Beispiel sind demgegenüber künstliche Zwangsgebilde.“ Entscheidend dabei ist,
dass die Nation – und nicht etwa die lokale Heimat oder gar eine Religionsgemeinschaft
– der primäre Bezugspunkt individueller Loyalität sei und damit auch zum maßgebenden
Rahmen für Solidaritätsbildung werde.
Eine Nation müsse daher „klare Kriterien der Zugehörigkeit
zum Großkollektiv formulieren“, was übrigens auch zur Konsequenz führt, „Minderheiten
als solche kategorisieren – eine Vorstufe zu einer möglichen, aber nicht
zwingenden Diskriminierung.“
Schließlich strebt eine „politische Autonomie auf einem
definierten Territorium.“ Sie benötigt zur Gewährleistung einer solchen
Autonomie logischerweise einen eigenen Staat. Aus der Nation wird der Nationalstaat.
Dennoch ist der Zusammenhang zwischen Nation und Staat damit
noch lange nicht leicht zu fassen. Hagen Schulze vertritt beispielsweise die These, dass in Europa zuerst der `moderne Staat´ entsteht und sich erst in einer zweiten Phase `Staatsnationen´ und dann `Volksnationen´herausbilden oder sich selbst als solche definieren. Erst in der Zeit nach der
Französischen Revolution, so Schulze, habe „ein gesellschaftlich breit
fundierter Nationalismus – Schulze sagt `Massennationalismus´ – das Formgehäuse
des Staates annektiert.“
Schulze spricht sogar einer deutlich erkennbaren Periodisierung
der Idee des Nationalstaates, beginnenden mit dem `revolutionären´ Nationalstaat
(1815–1871), über den `imperialen´ (1871–1914) und schließlich den `totalen´
Nationalstaat (1914–1945). So erscheint der Nationalstaat als „das
Kompositprodukt oder die aufhebende Synthese von Staat und Nation: nicht einer
virtuellen, sondern einer mobilisierten Nation.“
Europa, Heimat der nationalen Identitäten (Satirische Landkarte aus dem 19. Jahrhundert) |
Wolfgang Reinhard dagegen kommt zu einem anderen Ergebnis
als Schulze. Für ihn war die Nation „die abhängige, die Staatsgewalt aber die
unabhängige Variable der historischen Entwicklung.“
Demnach sei der Nationalstaat, den auch Reinhard erst im
19. Jahrhundert erkennen kann, nicht „das nahezu unvermeidliche Resultat
einer massenhaften Bewusstseinsbildung und Identitätsformierung `von unten´,
sondern das Produkt eines konzentrierenden Machtwillens `von oben´.“
So sei der Nationalstaat gerade nicht die staatliche Hülle
einer gegebenen Nation, sondern vielmehr ein „Projekt von Staatsapparaten und
machthabenden Eliten“, oder auch von „revolutionären oder antikolonialen Gegeneliten.“
Immer aber knüpfe der Nationalstaat an ein bereits
vorhandenes Nationalgefühl an, instrumentalisiere es dann aber für eine Politik der
Nationbildung. Das Ziel der nationalstaatlichen, bzw. nationalistischen Politik
besteht in der Folge darin, mehreres zugleich zu schaffen: „einen aus eigenen
Kräften lebensfähigen Wirtschaftsraum, einen handlungsfähigen Akteur der
internationalen Politik und manchmal auch eine homogene Kultur mit eigenen
Symbolen und Werten.“
So gibt es Reinhard zufolge nicht nur Nationen auf der Suche
nach einem eigenen Nationalstaat, sondern umgekehrt auch „Nationalstaaten auf
der Suche nach der perfekten Nation, mit der sie sich im Idealfall zur Deckung
bringen könnten.“
Es sei also wenig erstaunlich, dass die meisten Staaten, die
sich heute als Nationalstaaten bezeichnen, in Wahrheit multinationale
Staaten sind, „mit erheblichen Anteilen sich zumindest im
vorpolitisch-gesellschaftlichen Raum organisierender Minderheiten.“
Diese Minderheiten unterscheiden sich vor allem dadurch
voneinander, ob ihre politischen Führer die Existenz des Gesamtstaates
separatistisch in Frage stellen wie beispielsweise die Katalanen in Spanien
oder ob sie sich mit einer Teilautonomie zufrieden geben wie etwa die Schotten.
„Solche Minderheiten waren die `Völkerschaften´ und (in einem vormodernen
Wortsinne) `Nationen´ der großen Imperien. Die Polyethnizität aller Imperien
hat sich in die Nationalstaaten hinübergerettet, gerade auch in die jungen des
19. Jahrhunderts, auch wenn diese das stets hinter homogenisierenden
Diskursen zu verbergen versuchen.“
Imperium = ein Beziehungsgeflecht zwischen einem Zentrum und einer Peripherie, die in Form von staatenübergreifenden Sozialstrukturen verbunden sind |
Für Osterhammel schließlich ist das 19. Jahrhundert weniger
ein Zeitalter der Nationalstaaten als vielmehr der Imperien.
Selbst nach dem Ende des Ersten Weltkrieg, „der drei Imperien – das
osmanische, das hohenzollernsche und den habsburgischen Vielvölkerstaat –
zerstörte“, dauerte die imperiale Epoche an. Nicht nur bestanden die westeuropäischen
Kolonialreiche fort, sondern auch der neuen Sowjetmacht gelang es innerhalb
weniger Jahre, den kaukasischen und innerasiatischen Gürtel des spätzarischen
Russischen Reiches wiederherzustellen. Schließlich bauten „Japan, Italien und –
sehr kurzlebig – das nationalsozialistische Deutschland bauten neue Imperien
auf, welche die älteren Reiche imitierten und karikierten.“
So kommt Osterhammel zum Schluss, dass das 19. Jahrhundert
zwar kein `Zeitalter der Nationalstaaten´ war, dass es gleichwohl die Epoche
des Nationalismus war, „in der diese neue Denkweise und politische
Mythologie entstand, als Doktrin und Programm formuliert und als
massenbewegendes Sentiment mobilisierend wirksam wurde.“
Häufig enthielt der Nationalismus eine starke anti-imperiale
Komponente. In Deutschland war es gerade die Erfahrung französischer
`Fremdherrschaft´, die den Nationalismus radikalisierte. „Im Zarenreich, in der
Habsburger Monarchie, im Osmanischen Reich, in Irland: überall regten sich
Widerstände im Namen neuer nationaler Vorstellungen.“
Deutscher Nationalismus und die Sehnsucht nach einem Nationalstaat: Der Zug zum Hambacher Schloss |
Gleichwohl waren diese Widerstände nicht immer unweigerlich
mit dem Ziel nationalstaatlicher Unabhängigkeit verknüpft. Manchmal ging es
schlicht um den Schutz vor Übergriffen oder Diskriminierung oder um stärkere
Repräsentation der eigenen Interessen innerhalb des imperialen Verbandes, meist
mit dem Ziel, Spielräume für die eigene Sprache und Kultur zu gewinnen.
Erst im 20. Jahrhundert, „als neue, mit dem Westen vertraute
Bildungseliten sich mit dem Modell des Nationalstaates angefreundet und die
mobilisierende Kraft einer national-emanzipatorischen Rhetorik erkannt hatten
... war der eigene Nationalstaat, wie vage auch immer imaginiert, als
Entfaltungs- und Gestaltungsrahmen politischer Führungsgruppen, die sich keiner
höheren Autorität mehr unterordnen wollten, ein immer attraktiveres Ziel.
So war das 19. Jahrhundert weniger das „Zeitalter der
Nationalstaaten“, sondern mehr eine „Zeit der Bildung von Nationalstaaten.“ Dabei ist es gerade nicht immer
leicht anzugeben, wann ein Zustand der Nationalstaatlichkeit tatsächlich erreicht
war, „wann die `äußere´ und die `innere´ Nationalstaatsbildung hinreichend
ausgereift waren.“
Gerade der `innere´ Aspekt der nationalstaatlichen Bildung
ist viel schwieriger zu erfassen, weil er Entscheidungen darüber verlangt, „wann
ein bestimmtes territorial organisiertes Gemeinwesen innerhalb meist
evolutionär verlaufender Wandlungen einen Grad der strukturellen Integration
und homogenisierenden Bewusstseinsbildung erreicht hat, der es von seinem
früheren Zustand (als Fürstenstaat, Imperium, alteuropäische Stadtrepublik,
Kolonie usw.) qualitativ deutlich verschieden macht.“
Viel einfacher dagegen ist zu entscheiden, „wann ein
Gemeinwesen international handlungsfähig wird, also die äußere Form
eines Nationalstaates annimmt.“
Die Europa beherrschenden Nationalstaatbildungen der Epoche
jedenfalls, so Osterhammel, „folgten nicht dem polykephalen, sondern einem
hegemonialen Modell, bei dem eine regionale Vormacht die Initiative ergreift,
militärische Mittel einsetzt und dem neu entstandenen Staat ihren Stempel
aufdrückt“, wie man am Beispiel Preußens als der „unifizierende Hegemon“ für
den deutschen Nationalstaat hervorragend sehen kann.
Zitate aus: Jürgen Osterhammel: Die Verwandlung der Welt, Eine Geschichte des 19. Jahrhunderts, München 2010 (C.H. Beck) - Weitere Literatur: Wolfgang Reinhard: Geschichte
der Staatsgewalt: Eine vergleichende Verfassungsgeschichte Europas von den
Anfängen bis zur Gegenwart, München 2003 (C.H.Beck)
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen