Donnerstag, 17. Mai 2018

Leonardo da Vinci und die Naturphilosophie - Teil 2


Leonardo da Vinci
Von Leonardo da Vinci sind über 6000 Blätter voller Zeichnungen und Notizen erhalten, mit denen er versuchte, Naturgesetzen auf die Spur zu kommen und so zu erkennen, was die Welt „im Innersten zusammenhält“.

Mit Leonardo beginnt eine neue Weise, die Welt zu sehen. Er verließ sich nicht auf althergebrachtes Wissen, sondern versuchte die Welt vom Anbeginn an neu und analytisch zu erfassen. Ihm reichte es nicht, einfach nur irgendwo hinzuschauen sondern er war der Überzeugung, dass es notwendig ist, systematische Experimente machen. Diese Experimente macht er sowohl in der Natur selbst als auch im Bereich der Zeichnung.

So hat Leonardo zwischen seiner Kunst einerseits und seiner Wissenschaft andererseits überhaupt nicht getrennt.

„Wenn Du die wunderbaren Werke der Natur gesehen hast, und Du es eine abscheuliche Tat findest, sie zu zerstören, dann überlege Dir, wie unendlich abscheulich es ist, einem Menschen sein Leben zu nehmen“ (Leonardo Da Vinci).

Das Renaissance-Italien ist in viele Kleinstaaten zersplittert, es herrscht fast dauernd Krieg. Leonardo entwirft für die Fürsten, die ihn bezahlen, fürchterliche Kriegsmaschinen, mit denen man regelrechte Massaker hätte anrichten können – etwa eine riesige, 40 Meter lange Armbrust auf Rädern. Wie passt das zu seiner Menschenliebe?

Leonardo hat diese Kriegsmaschinen wirklich gezeichnet. Er hat mit diesen Zeichnungen seine Auftraggeber sicher auch beeindruckt. 

Das war genau das, was die von ihm wollten. Dafür waren sie bereit, Leonardo machen zu lassen. Vielleicht waren sie für Leonardo nur „Blendwerk“, nicht wirklich für die Umsetzung gedacht – aber das, was Auftraggeber sehen wollen und wofür Auftraggeber zu bezahlen bereit sind. Es gibt keinen historischen Beweis dafür, dass jemals eine von Leonardo erdachten Kriegsmaschinen gebaut wurde. Man hat im 20. Jahrhundert versucht, einige dieser Konstruktionen nachzubauen – aber sie funktionieren nicht ...

Leonardo da Vinci geht davon aus, dass sich Technik immer an der Natur orientieren müsse: „Der menschliche Schöpfergeist kann verschiedene Erfindungen machen (...), doch nie wird ihm eine gelingen, die schöner, ökonomischer oder geradliniger wäre als die der Natur, denn in ihren Erfindungen fehlt nichts und ist nichts zu viel.“

Leonardo könnte als Mitbegründer der heutigen Bionik gelten, die für technische Probleme Lösungen in der Natur sucht – etwa wenn man die Oberfläche von Taucheranzügen der Haut eines Hais nachbildet.

Ab 1487 entwirft Leonardo zahlreiche Pläne für Flugmaschinen und folgt auch hier der Natur. Leonardo hatte in seinen Zeichnungen das Prinzip eines funktionsfähigen Flügels erfasst. Er hatte nämlich erkannt, dass ein Flügel gewölbt ist. Er hat aber nicht erkannt, warum er gewölbt ist, nämlich wegen der unterschiedlichen Strömungsgeschwindigkeiten an der Ober- und Unterseite, die dann zu einem Unterdruck an der Oberseite führen und das ganze Ding nach oben heben.

Leonardos Flügel ist in sich beweglich, wie der eines Vogels, doch am Ende übertreibt er es mit der Anpassung an die Natur, denn künstliche Flügel, etwa beim Flugzeug, müssen starr sein.

„Man hat vor ganz kurzer Zeit versucht, Leonardos Konstruktionen in die Praxis umzusetzen und damit zu fliegen – und es gelang auch, allerdings mit dem großen Unterschied, dass man sich nicht eins zu eins an seine Konstruktionspläne gehalten hat, sondern eben statt dieser beweglichen Flügel einen starren Flügel hatte. Ansonsten war alles, was Leonardo sonst in diesem Bereich erforscht hatte, korrekt und ein solches Fluggerät konnte dann tatsächlich auch fliegen.

Um 1500 herrschen in den italienischen Kleinstaaten enorme Unruhen, es gibt immer neue Kriege. Für Leonardo beginnt eine Zeit der Wanderschaft. Er lebt in verschiedenen Städten, arbeitet an Gemälden und Fresken, als Ingenieur und Architekt für Cesare Borgia und andere Auftraggeber und Mäzene. Ab 1506 ist er wieder in Mailand. Er seziert Dutzende Leichen, um die Funktionen des menschlichen Körpers zu verstehen, obwohl Sektionen eigentlich verboten sind.

Leonardo plant einen anatomischen Atlas, in dem er die Prinzipien, die er in der Mechanik erkannt hat, auf den menschlichen Körper überträgt. Er hat also gesehen, dass die Sehnen an der Muskulatur ganz offensichtlich so funktionieren wie Seile, mit denen ein Zug übertragen wird. Dass in Knochen ein Druckprinzip herrscht, dass das funktioniert wie Pfeiler. Dass Gelenke im Körper und in Maschinen ähnliche Funktionen erfüllen und ähnlichen Anforderungen standhalten müssen.

Leonardo hatte eine ganz neuartige Weise, die Funktionsweise des menschlichen Organismus zu analysieren: Er zeichnet zum Beispiel die Knochen des menschlichen Beins nicht nur einmal, in der Ansicht von vorn. Sondern er geht zeichnend quasi um den Knochen herum, stellt ihn aus verschiedenen Perspektiven dar.

Leonardo hatte eine ganz außergewöhnliche visuelle Begabung. Er hat in Bildern und in Formen gedacht und das sieht man in seinen Notizbüchern. Er muss in der Lage gewesen sein, unwahrscheinlich komplizierte Formen in Windeseile mental zu drehen. Er muss ein phantastisches räumliches Denken gehabt haben und das war seine Weise, die Welt zu erfassen. Darin unterschied er sich radikal von den Gelehrten seiner Zeit, die Bücher-Gelehrte waren, deren Medium das Wort war.

Leonardo ist auch der erste, der konsequent Analogieschlüsse nutzt – heute wissenschaftlicher Standard: Leonardo war ein Meister darin, Erkenntnisse, die er auf einem Gebiet gewonnen hat, in ein ganz anderes Gebiet zu übersetzen. Auf virtuose Weise tat er dies in seinen anatomischen Studien.

Anatomische Studien

Leonardo hat sich mit Anatomie Jahrzehnte nachdem er sich mit der Wasserbaukunst auseinander gesetzt hat, befasst – war aber in der Lage, das, was er über den Fluss des Wassers gelernt hatte, auf die Verhältnisse im menschlichen Blutkreislauf zu übersetzen. Und hat sofort gesehen – das ist eine tiefe Einsicht in die Einheit der Natur, das ist eine gewaltige Abstraktionsleistung –, dass die Strömungsverhältnisse beispielsweise im menschlichen Herzen denen in einer Schleusenkammer ähneln können.

Da Vinci geht aber noch weiter. Er zeichnet nicht nur das, was er gesehen hat, sondern beginnt zeichnend zu experimentieren, was in der Natur sein könnte – eine frühe Form virtueller Realität.

Leonardo war ein Pionier der experimentellen Methode Er hat als einer der ersten den Wert der Beobachtung und des systematischen Experiments erkannt.

Leonardo da Vinci war der erste, der so etwas erfunden hat wie künstliche Herzklappen. Leonardo da Vinci hat das Prinzip der Arteriosklerose erkannt. Er hat das nicht so genannt, aber er hat eingesehen, dass durch Verengung der Blutgefäße die Leistung des Herzens so stark geschwächt werden kann, dass ein Mensch sterben kann.

Die rund 6000 Seiten mit Leonardos Zeichnungen zeigen einen Menschen, der sich so vielfältig mit Natur und Kunst beschäftigt hat wie kaum ein anderer. Leonardo begründete, was man heute interdisziplinäre Forschung nennt. Darum sehen ihn immer mehr Wissenschaftler nicht mehr nur als Maler oder Ingenieur oder Anatom, sondern verstehen sein großartiges Werk als Einheit.


Zitate aus: Matthias Kußmann: Leonardo da Vincis Naturphilosophie Zeichnend die Welt verstehen, SWR2 Wissen, Sendung vom 8. Dezember 2017, Redaktion: Ralf Kölbel, Regie: Günter Maurer, Produktion: SWR 2017

Weitere Literatur: Stefan Klein: Da Vincis Vermächtnis oder Wie Leonardo die Welt neu erfand. Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt am Main 2014   -   Thomas Heichele: Die erkenntnistheoretische Rolle der Technik bei Leonardo a Vinci und Galileo Galilei im ideengeschichtlichen Kontext. Aschendorff Verlag, Münster 2016



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