„Der Islam befindet sich in einer Krise, es
findet eine langsame Implosion statt: Immer mehr Muslime zweifeln an ihrem
Glauben, viele konvertieren, andere schwören der Religion ganz ab. Und man
sieht, dass die Säkularisierung bei Muslimen ebenso oder sogar stärker
auftritt als bei Christen.“ Zu diesem Ergebnis kommt Dr. Michael Blume, Gründungsvorsitzender der Christlich-Islamischen
Gesellschaft (CIG).
Michael Blume |
Allerdings wehrt sich Blume vehe-ment gegen das im
Westen immer noch gängige Erklärungsmuster für diesen schockierenden
Niedergang, das den Grund für die Überwältigung und Zerstörung der islamischen
Gesellschaften und Institutionen im Wesentlichen auf die Rolle westlicher
Imperien und Kolonialmächte sieht. Diese Erklärung, so Blume, würde gerade
nicht die Frage beantworten, wie es denn überhaupt so weit kommen konnte, „dass
die mächtigen, islamischen Reiche nach Jahrhunderten der auch militärischen
Expansion plötzlich in die Defensive gerieten und unterworfen werden konnten.“
„Schützt den Islam vor den Fanatikern,
sonst müsst ihr die Welt vor dem Islam
schützen.“
Dieses populäre, türkische Sprichwort wird
Mevlana Rumi zugeschrieben, dem großen, islamischen Mystiker des 13.
Jahrhunderts, auf den unter anderen die „tanzenden Derwische von Konya“
zurückgehen.
Es dient Blume als Leitfaden bei der Suche nach
Antworten auf die Frage, wieso ab dem 18. Jahrhundert der Zerfall und
Niedergang der islamischen Staatenwelt einsetzte und bis heute noch nicht
beendet ist.
Blume zufolge gibt es ein Schicksalsjahr, an
dem sich die Erstarrung und der bis heute reichende Niedergang der islamischen
Welt festmachen lässt. Es ist das Jahr 1485. Das Osmanische Reich steht am Gipfel seiner
Macht. Erst wenige Jahrzehnte zuvor, 1453, haben die Osmanen Konstantinopel
erobert, das alte Byzanz und die Hauptstadt des oströmischen Reiches.
Bazazid II (1447-1512) |
In unmittelbarer Nähe der Hagia Sophia
residiert nun Sultan Bayazid II., ein mächtiger und auch gelehrter Herrscher.
Seine Truppen sind längst tiefer nach Europa eingedrungen und haben große
Teile des Balkans erobert, Aber der Sultan hat auch großmütig jüdische und
muslimische Flüchtlinge aus Andalusien aufgenommen und dabei über die
intoleranten Spanier gespottet, die ihre besten, gebildeten Bürger in sein
blühendes Reich treiben.
Im Jahre 1485 bat nun eine Delegation von
Kaufleuten bei der Hohen Pforte in Istanbul um Erlaubnis, eine ganz bestimmte
Maschine aus Europa einführen und aufbauen zu dürfen: Eine Druckerpresse mit
beweglichen Lettern.
Auch wenn die Überlieferungen leider lückenhaft
sind, so spricht doch viel für die Annahme, dass es die Ulama waren, die osmanisch-islamischen
Schriftgelehrten, die den Sultan dringend vor der Erlaubnis warnten.
Schließlich galt Arabisch als die heilige
Sprache des Koran und ihre Beherrschung war wenigen, ehrwürdigen Männern
vorbehalten, die dazu eine jahrelange Ausbildung durchliefen. Wenn nun diese heilige
Kunst plötzlich entwertet und den Marktplätzen ausgeliefert würde, dann – so befürchteten
die Ulama – würde auch die tragende Säule des osmanischen Reiches gefährdet
sein.
Und so verbot Sultan Bayazid II. um 1485 den
Buchdruck arabischer Lettern bei Todesstrafe. Sein Sohn und Nachfolger Selim,
der auch als erster Osmane den Kalifentitel annehmen würde, bestätigte dieses
Verbot um 1515 noch einmal und es blieb bis ins 18. Jahrhundert in Kraft.
Buchdruckerwerkstatt |
Und da in arabischen Lettern auch Osmanisch und
Persisch geschrieben wurde, blieb die Buch- und Lesekultur in der islamischen
Welt tatsächlich auf kleine und häufig nichtmuslimische Eliten beschränkt.
Natürlich förderte der Buchdruck nicht nur die
Verbreitung von guten und gelehrten Werke. Stattdessen dominierten schon damals
- wie heute im Internet auch – oft üble Pamphlete, Provokationen,
Sensationsberichte und Verschwörungsmythen.
Erstausgabe der Lutherbibel (1534) |
Den Wendepunkt markierte die Übersetzung der
Bibel durch Martin Luther. Im September 1522 war eine erste Auflage des Neuen
Testaments fertig, ab 1534 lag eine deutsche Vollbibel vor, an der Luther
zeitlebens weiter Verbesserungen anbrachte.
Luther forderte nun, dass alle Menschen – auch
Frauen – Lesen und Schreiben lernen sollten. Und er begründete auch selbst das
beispielgebende, evangelische Pfarrhaus, in dem die Eltern den Kindern nicht
mehr Land und Luxus zu vererben versuchten, sondern „Bildung“.
Dieser Begriff verweist darauf, dass jeder
Mensch nach Gottes Ebenbild geformt und also aufgerufen sei, seine ganzen
Potentiale auszubilden. Heute ist die mit diesem Begriff verknüpfte
geistesgeschichtliche Revolution kaum noch nachvollziehbar. Das Privileg der
religiösen Elite auf die Schrift endete jedenfalls mit dem Buchdruck!
Zwar zerbrach die Kirche entlang von
Sprachgrenzen und Europa taumelte – nach der Phase der Konfessionskriege –
schließlich in die Aufklärung und damit in die Moderne.
Das Osmanische Reich blieb demgegenüber
weitergehend stabil – und erstarrte. Die technologische und militärische
Überlegenheit ging schleichend verloren nach dem letzten Versuch, Wien
einzunehmen (1683), begann der langsame und quälende Verfall des „kranken
Mannes am Bosporus“.
Zwar öffnete im 18. Jahrhundert die erste
Buchdruckerei in Istanbul ihre Türen – allerdings durften keine religiösen
Werke gedruckt werden, doch da es an Lesern und damit an Nachfrage fehlte,
musste die Druckerei bald wieder schließen.
Um 1800 konnte bereits die Hälfte der
deutschsprachigen Bevölkerung Lesen und Schreiben. Im Osmanischen Reich aber
lag der Anteil der Menschen, die Lesen und Schreiben konnte, weiterhin bei nur
zwei Prozent!
Diesen riesigen Bildungsabstand hat die
islamische Welt bis heute nicht aufgeholt und nicht verdaut. Eine Tatsache mag
dies drastisch veranschaulichen: 2013 wiesen die USA 244.000 Patente aus, Japan
sogar 340.000, China 154.000 und Südkorea 123.000. Deutschland war mit 82.000
Patenten dabei, Frankreich mit 43.000 und Großbritannien mit 22.000. Der gesamte
arabische Raum mit über 370 Millionen Menschen erreichte 2013 lediglich 1.800
Patentanmeldungen.
Zitate aus:
Michael Blume: Eine Religion am Ende? Die Krise des Islam, SWR2 Wissen: Aula, Sendung
vom 31. Dezember 2017, Redaktion: Ralf Caspary, Produktion: SWR 2017
Weitere Literatur: Michael Blume: Islam
in der Krise. Eine Weltreligion zwischen Radikalisierung und stillem Rückzug.
Patmos 2017 - Ders.: Evolution und Gottesfrage. Charles
Darwin als Theologe. Herder 2013 - Ders.: Gott, Gene und Gehirn. Warum Glaube
nützt. Zur Evolution der Religiosität. Hirzel 2012
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