Donnerstag, 12. April 2018

Elias Canetti und die Masse - Teil 3


Fortsetzung vom 05.04.2018


Im Jahre 1961 erschien Elias Canettis Buch „Masse und Macht“, eines der faszinierendsten und umstrittensten Bücher der Weltliteratur – bis heute.

Neben der Dichte und der Gleichheit der einzelnen Mitglieder hat die Masse hat noch eine dritte Eigenschaft: Die Masse will immer wachsen: „Das heißt also, die Masse empfindet Lust dabei, immer größer zu werden. Und alles, was wie ein Mensch, so schreibt Canetti, aussieht, darf zu ihr stoßen. Sie ist also, wenn man so will, universelles Phänomen; und die Masse hat ein Ziel, dieses Ziel (...) ist jener Ort, an dem die Masse das tut, wo das Sensationsgefühl am aller- intensivsten ist. Sie entlädt.“

Die Masse will immer wachsen!

Canetti schreibt dazu: „In der Entladung werden die Trennungen abgeworfen und alle fühlen sich gleich. In dieser Dichte, da kaum Platz zwischen ihnen ist, da Körper sich an Körper presst, ist einer dem anderen so nahe wie sich selbst. Ungeheuer ist die Erleichterung darüber. Um dieses glücklichen Augenblickes Willen, da keiner mehr, da keiner besser als der andere ist, werden die Menschen zur Masse.“

Die Entladung ist der wichtigste Moment einer Masse. Sie muss entladen, schreibt Canetti, um all ihre Energien freisetzen zu können. Gleichzeitig ist dies auch der kritischste Moment. Wie entlädt sich die Masse? In der Zerstörungssucht. Das bedeutet, dass sie – so argumentiert Canetti für viele Soziologen etwas überraschend – eigentlich nur ein Bedürfnis hat, indem sie Fenster einschlägt, Türen eintritt, Mauern niederbrennt. Diese Häuser, also die Häuser in denen sie als Subjekte, als Individuen, als Personen vereinsamt leben, zu zerstören. Canetti sagt: Die Zerstörungssucht, die eigentliche Körpersensation, ist ein Zerstören der zukünftigen Gefängnisse der Personen, der Menschen.

Das Klirren von zerbrechendem Glas, schreibt Canetti, ist wie Beifall für die Masse. Aber hat sie sich einmal entladen, zerfällt sie ebenso schnell, wie sie entstanden ist. Es sei denn, jemand sorgt dafür, dass ihre Dynamik erhalten bleibt, dass sie genutzt wird. An diesem Punkt kommt Canettis zweiter Begriff ins Spiel: die Macht.

Was aber meint Elias Canetti mit Macht? Er beginnt den Abschnitt seines Buches dazu mit einem Beispiel aus der Tierwelt: mit der Katze, die eine Maus fängt und dann mit ihr spielt - sie los lässt und ihr erlaubt, ein Stück zu laufen, nur um sie am Ende doch wieder zu fangen und zu fressen.

Elias Canetti
„Der Raum, den die Katze überschattet, die Augen-blicke der Hoffnung, die sie der Maus lässt, aber unter genauester Bewachung, ohne dass sie ihr Interesse an ihr und ihrer Zerstörung verliert, das alles zusam-men, Raum, Hoffnung, Bewachung und Zerstö-rungs-Interesse, könnte man als den eigentlichen Leib der Macht oder einfach als die Macht selbst bezeichnen.“

Mit seinem ursprünglichen Ziel, allein Massen zu charakterisieren und zu beschreiben, kommt Canetti nicht aus. Denn ohne das Phänomen der Macht lässt sich nicht erklären, wie Massen entstehen und handeln. Darum muss er auch diejenigen in den Blick nehmen, die ihre Macht missbrauchen.

Im Interview mit Alexander Mitscherlich erklärte Canetti 1961 dazu: „Ich würde sogar so weit gehen zu sagen, dass die Diktaturen, die wir erlebt haben, ganz aus Massen bestehen, dass ohne das Wachstum der Massen, das besonders wichtig ist, und ohne die bewusste und künstliche Erregung von immer größeren Massen, die Macht von Diktatoren ganz undenkbar wäre.“

Damit kommt ein weiterer Aspekt ins Spiel: Für Canetti wird jeder Mensch von der Angst vor dem eigenen Tod gequält. Allein in der Masse kann der Einzelne seine Todesfurcht für wenige Augenblicke vergessen. Und noch mehr: er triumphiert über seine Todesfurcht, wenn er andere überlebt. Auch – und dieser Gedanke macht Canetti bis heute so umstritten – wenn er andere Menschen tötet oder der Tötung anderer beiwohnt. Das konkrete Überleben wird für Canetti zu einem Moment des Macht-Habens über andere, der, wie er sagt, Überlebenstriumph.

Die Angst vor dem Tod

Um dieses Gefühl geht es laut Canetti auch auf der höchsten Ebene der gesellschaftlichen Hierarchie. Denn auch der einzelne tyrannische Machthaber, der Mächtige, wird seine Todesfurcht laut Canetti nur dadurch los, dass er andere tötet. Jeder Tote ist ein Triumph für ihn.

„Der Augenblick, in dem ein Mensch den anderen überlebt, ist ein sehr konkreter Augenblick und ich glaube, dass das Erlebnis, die Erfahrung dieses Augenblicks sehr schwerwiegende Folgen hat. Ich glaube, dass diese Erfahrung verdeckt ist durch die Konvention, durch die Dinge, die man empfinden soll, wenn man den Tod eines anderen Menschen erlebt, dass aber darunter verborgen gewisse Gefühle der Genugtuung liegen können. 

Und dass, wenn diese Gefühle der Genugtuung, die sogar manchmal Triumph sein können, zum Beispiel im Fall eines Kampfes, dass wenn diese Gefühle sich summieren, häufiger sich ereignen, etwas ganz Gefährliches resultieren kann und dieses gefährliche, gehäufte Erlebnis des Todes anderer Menschen glaube ich, ist ein ganz wesentlicher Keim der Macht.“

Für Canetti ist die Menschheitsgeschichte daher eine Aneinanderreihung von Leichenbergen durch verschiedenste Diktatoren und Tyrannen: „Aus der Bemühung Einzelner, den Tod von sich abzuwenden, ist die ungeheuerliche Struktur der Macht entstanden.“


(Fortsetzung folgt) 


Zitate aus: Lukas Meyer-Blankenburg: Elias Canetti, „Masse und Macht“ neu entdeckt, SWR2 Wissen, Sendung vom 08.03.2018, Redaktion: Anja Brockert, Regie: Andrea Leclerque, Produktion, SWR 2018


Weitere Literatur: Elias Canetti, "Masse und Macht", Hanser Verlag, München 1994  -  Elias Canetti, "Das autobiographische Werk", Verlag Zweitausendeins, Frankfurt a.M. 2001   -  Elias Canetti, "Das Hörwerk 1953-1991: sämtliche Lesungen eigener Texte, Gespräche, Vorträge", Verlag Zweitausendeins, Frankfurt a.M. 2006  -  Shinichi Furuya, "Masse, Macht und Medium", Transcript Verlag, Bielefeld 2017


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