Fortsetzung vom 05.04.2018
Im Jahre 1961 erschien Elias Canettis Buch „Masse und Macht“, eines der faszinierendsten und umstrittensten Bücher der Weltliteratur – bis heute.
Neben der Dichte und der Gleichheit der einzelnen Mitglieder hat die Masse hat noch eine dritte Eigenschaft: Die
Masse will immer wachsen: „Das heißt also, die Masse empfindet Lust dabei,
immer größer zu werden. Und alles, was wie ein Mensch, so schreibt Canetti,
aussieht, darf zu ihr stoßen. Sie ist also, wenn man so will, universelles
Phänomen; und die Masse hat ein Ziel, dieses Ziel (...) ist jener Ort, an dem
die Masse das tut, wo das Sensationsgefühl am aller- intensivsten ist. Sie
entlädt.“
Die Masse will immer wachsen! |
Canetti schreibt dazu: „In der Entladung werden
die Trennungen abgeworfen und alle fühlen sich gleich. In dieser Dichte, da
kaum Platz zwischen ihnen ist, da Körper sich an Körper presst, ist einer dem
anderen so nahe wie sich selbst. Ungeheuer ist die Erleichterung darüber. Um
dieses glücklichen Augenblickes Willen, da keiner mehr, da keiner besser als
der andere ist, werden die Menschen zur Masse.“
Die Entladung ist der wichtigste Moment einer
Masse. Sie muss entladen, schreibt Canetti, um all ihre Energien freisetzen zu
können. Gleichzeitig ist dies auch der kritischste Moment. Wie entlädt sich die
Masse? In der Zerstörungssucht. Das bedeutet, dass sie – so argumentiert
Canetti für viele Soziologen etwas überraschend – eigentlich nur ein Bedürfnis
hat, indem sie Fenster einschlägt, Türen eintritt, Mauern niederbrennt. Diese
Häuser, also die Häuser in denen sie als Subjekte, als Individuen, als Personen
vereinsamt leben, zu zerstören. Canetti sagt: Die Zerstörungssucht, die
eigentliche Körpersensation, ist ein Zerstören der zukünftigen Gefängnisse der
Personen, der Menschen.
Das Klirren von zerbrechendem Glas, schreibt
Canetti, ist wie Beifall für die Masse. Aber hat sie sich einmal entladen,
zerfällt sie ebenso schnell, wie sie entstanden ist. Es sei denn, jemand sorgt
dafür, dass ihre Dynamik erhalten bleibt, dass sie genutzt wird. An diesem
Punkt kommt Canettis zweiter Begriff ins Spiel: die Macht.
Was aber meint Elias Canetti mit Macht? Er
beginnt den Abschnitt seines Buches dazu mit einem Beispiel aus der Tierwelt:
mit der Katze, die eine Maus fängt und dann mit ihr spielt - sie los lässt und
ihr erlaubt, ein Stück zu laufen, nur um sie am Ende doch wieder zu fangen und
zu fressen.
Elias Canetti |
„Der Raum, den die Katze überschattet, die
Augen-blicke der Hoffnung, die sie der Maus lässt, aber unter genauester
Bewachung, ohne dass sie ihr Interesse an ihr und ihrer Zerstörung verliert,
das alles zusam-men, Raum, Hoffnung, Bewachung und Zerstö-rungs-Interesse, könnte
man als den eigentlichen Leib der Macht oder einfach als die Macht selbst
bezeichnen.“
Mit seinem ursprünglichen Ziel, allein Massen
zu charakterisieren und zu beschreiben, kommt Canetti nicht aus. Denn ohne das
Phänomen der Macht lässt sich nicht erklären, wie Massen entstehen und handeln.
Darum muss er auch diejenigen in den Blick nehmen, die ihre Macht missbrauchen.
Im Interview mit Alexander Mitscherlich erklärte
Canetti 1961 dazu: „Ich würde sogar so weit gehen zu sagen, dass die
Diktaturen, die wir erlebt haben, ganz aus Massen bestehen, dass ohne das
Wachstum der Massen, das besonders wichtig ist, und ohne die bewusste und
künstliche Erregung von immer größeren Massen, die Macht von Diktatoren ganz
undenkbar wäre.“
Damit kommt ein weiterer Aspekt ins Spiel: Für
Canetti wird jeder Mensch von der Angst vor dem eigenen Tod gequält. Allein in
der Masse kann der Einzelne seine Todesfurcht für wenige Augenblicke vergessen.
Und noch mehr: er triumphiert über seine Todesfurcht, wenn er andere überlebt.
Auch – und dieser Gedanke macht Canetti bis heute so umstritten – wenn er
andere Menschen tötet oder der Tötung anderer beiwohnt. Das konkrete Überleben
wird für Canetti zu einem Moment des Macht-Habens über andere, der, wie er
sagt, Überlebenstriumph.
Die Angst vor dem Tod |
Um dieses Gefühl geht es laut Canetti auch auf
der höchsten Ebene der gesellschaftlichen Hierarchie. Denn auch der einzelne
tyrannische Machthaber, der Mächtige, wird seine Todesfurcht laut Canetti nur
dadurch los, dass er andere tötet. Jeder Tote ist ein Triumph für ihn.
„Der Augenblick, in dem ein Mensch den anderen
überlebt, ist ein sehr konkreter Augenblick und ich glaube, dass das Erlebnis,
die Erfahrung dieses Augenblicks sehr schwerwiegende Folgen hat. Ich glaube,
dass diese Erfahrung verdeckt ist durch die Konvention, durch die Dinge, die
man empfinden soll, wenn man den Tod eines anderen Menschen erlebt, dass aber
darunter verborgen gewisse Gefühle der Genugtuung liegen können.
Und dass, wenn
diese Gefühle der Genugtuung, die sogar manchmal Triumph sein können, zum
Beispiel im Fall eines Kampfes, dass wenn diese Gefühle sich summieren,
häufiger sich ereignen, etwas ganz Gefährliches resultieren kann und dieses
gefährliche, gehäufte Erlebnis des Todes anderer Menschen glaube ich, ist ein
ganz wesentlicher Keim der Macht.“
Für Canetti ist die Menschheitsgeschichte daher
eine Aneinanderreihung von Leichenbergen durch verschiedenste Diktatoren und
Tyrannen: „Aus der Bemühung Einzelner, den Tod von sich abzuwenden, ist die
ungeheuerliche Struktur der Macht entstanden.“
(Fortsetzung folgt)
Zitate aus: Lukas Meyer-Blankenburg: Elias Canetti, „Masse und Macht“ neu entdeckt, SWR2 Wissen, Sendung vom 08.03.2018, Redaktion: Anja Brockert, Regie: Andrea Leclerque, Produktion, SWR 2018
Weitere Literatur: Elias Canetti, "Masse und Macht", Hanser Verlag, München 1994 - Elias Canetti, "Das autobiographische Werk", Verlag Zweitausendeins, Frankfurt a.M. 2001 - Elias Canetti, "Das Hörwerk 1953-1991: sämtliche Lesungen eigener Texte, Gespräche, Vorträge", Verlag Zweitausendeins, Frankfurt a.M. 2006 - Shinichi Furuya, "Masse, Macht und Medium", Transcript Verlag, Bielefeld 2017
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