Donnerstag, 1. Februar 2018

Harald Welzer und die Autonomie - Teil 2


Harald Welzer ist seit 2012 Professor für Transformationsdesign an der Universität Flensburg. In einem Beitrag für den Südwestfunk erläutert Welzer Geschichte und Gegenwart der Kategorie "Autonomie".


Totalitäre Gesellschaften sind geheimnislose Gesellschaften. Freie Gesell-schaften sind dagegen ohne Geheimnisse nicht denkbar. „Es gibt Geschäftsgeheimnisse, Betriebsgeheimnisse, ärztliche und anwaltliche Schweigepflichten, vertragliche Verschwiegenheitspflichten und vieles mehr, was die notwendige Existenz von sozialen Räumen bezeichnet, die außenstehenden Personen nicht zugänglich sind. Daneben haben Eltern Geheimnisse vor Kindern und Kinder vor Eltern, Ehepartner vor ihren Partnerinnen.“

Totalitäre Gesellschaften sind
geheimnislose Gesellschaften.
Freie Gesellschaften sind dagegen
ohne Geheimnisse nicht denkbar.
In modernen Gesellschaften können und müssen die Menschen viele Rollen spielen. Ob die gesellschaftlichen und sozialen Abläufe funktionieren, hängt auch davon ab, dass „diese Rollen auseinandergehalten werden, möglichst wenig interferieren und nicht verwechselt werden.“

Das Funktionieren moderner Gesell-schaften hängt nicht unwesentlich davon ab, dass es opake Vorgänge gibt, die gerade darum funktionieren, weil sie „unsichtbar" sind. „Das Prinzip der `Nichtbeachtbarkeit´, dass also vieles nicht öffentlich sichtbar ist, ist eine zentrale zivilisatorische Errungen-schaft: In vormodernen Verhältnissen, in denen Menschen weder Rollenwechsel noch Rollendistanz verfügbar sind, sie direkter Gewalt unterworfen und in unveränderliche Ordnungen eingebunden sind, sind Transparenz und Beachtbarkeit weitaus größer.“

Der Kultur- und Literaturwissenschaftler Hartmut Böhme zeigt dies anschaulich an einem Gedankenexperiment: "Denken wir uns eine Gesellschaft, in der (wie in vielen Utopien) jedes Geheimnis verbannt wäre; denken wir uns ein wissenschaftliches Universum, in welchem es kein Geheimnis mehr gäbe; denken wir uns eine Liebe, in der die Liebenden sich wechselseitig kein Geheimnis wären; denken wir uns die Künste, die nicht mehr über den Zauber und die Magie des Unerklärlichen verfügten; denken wir uns ein Leben in schattenloser Ausleuchtung; denken wir uns die vielen Kulturen ohne ein Verhältnis der Fremdheit zueinander; es wäre ein Himmelreich aus Licht, schlimmer als der furchtbarste Alptraum. Es wäre der absolute Staat. Es wäre die Wüste der Langeweile. Es wäre der augenblickliche Verlust aller Spannkraft. Es wäre eine Welt ohne Liebe, ohne Eros, ohne den Zauber der Attraktion. Es wäre Terror. Es wäre das Wissen als lückenloses Gefängnis."

Die heute so beliebte und von den Medien unterstützte – absurderweise vor allem von denen, die das Adjektiv „sozial“ im Namen führen – Suche nach privaten Geheimnisse oder Verfehlungen von Personen des öffentlichen Lebens zeigt daher eine „antimoderne und antidemokratische Haltung“

Vicotria Nuland

„So geschah es der Stellvertreterin des amerikanischen Außenministers, Victoria Nuland im Februar 2014, die in einem Telefongespräch mit dem US-Botschafter in der Ukraine unter anderem `Fuck the EU´gesagt hatte und sich dafür entschuldigen musste. Wohlgemerkt: Die Öffentlichkeit empfand nicht das Abhören und Veröffentlichen des Telefonats als skandalös, sondern die Äußerung der Politikerin, über die sich unter anderem die deutsche Bundeskanzlerin empörte.“

Die Vorstellung, dass eine Politikerin oder ein Politiker "gläsern" in seinen persönlichen genauso wie in seinen professionellen Verhältnissen sein solle, ist genauso totalitär wie die Vorstellung vom gläsernen Bürger. Politiker haben in einer Demokratie dasselbe Recht auf Privatheit wie andere Bürger auch.

„Transparenz ist aber das vollständige Verschwinden der privaten Person und ihre Transformation in ein ausschließlich öffentliches Wesen, dem keinerlei Rollenwechsel und keine Rollendistanz mehr gestattet ist. Das ist kurz gesagt: das Ende des Politischen und seine Ersetzung durch reine Funktionserfüllung, die von außen diktiert und kontrolliert wird.“

(Fortsetzung folgt) 

Zitate aus: Harald Welzer: Autonomie gefordert! Über ein schwieriges Konzept der Demokratie Von Harald Welzer, SWR2 Wissen/Aula, Sendung vom 01. Mai 2017

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