Harald
Welzer ist seit 2012 Professor für Transformationsdesign an der Universität
Flensburg. In einem Beitrag für den Südwestfunk erläutert Welzer Geschichte und
Gegenwart der Kategorie "Autonomie".
Totalitäre
Gesellschaften sind geheimnislose Gesellschaften. Freie Gesell-schaften sind
dagegen ohne Geheimnisse nicht denkbar. „Es gibt Geschäftsgeheimnisse,
Betriebsgeheimnisse, ärztliche und anwaltliche Schweigepflichten, vertragliche
Verschwiegenheitspflichten und vieles mehr, was die notwendige Existenz von
sozialen Räumen bezeichnet, die außenstehenden Personen nicht zugänglich sind.
Daneben haben Eltern Geheimnisse vor Kindern und Kinder vor Eltern, Ehepartner vor
ihren Partnerinnen.“
Totalitäre Gesellschaften sind geheimnislose Gesellschaften. Freie Gesellschaften sind dagegen ohne Geheimnisse nicht denkbar. |
In
modernen Gesellschaften können und müssen die Menschen viele Rollen spielen. Ob
die gesellschaftlichen und sozialen Abläufe funktionieren, hängt auch davon ab,
dass „diese Rollen auseinandergehalten werden, möglichst wenig interferieren
und nicht verwechselt werden.“
Das
Funktionieren moderner Gesell-schaften hängt nicht unwesentlich davon ab, dass es
opake Vorgänge gibt, die gerade darum funktionieren, weil sie „unsichtbar"
sind. „Das Prinzip der `Nichtbeachtbarkeit´, dass also vieles nicht öffentlich
sichtbar ist, ist eine zentrale zivilisatorische Errungen-schaft: In vormodernen
Verhältnissen, in denen Menschen weder Rollenwechsel noch Rollendistanz
verfügbar sind, sie direkter Gewalt unterworfen und in unveränderliche
Ordnungen eingebunden sind, sind Transparenz und Beachtbarkeit weitaus größer.“
Der
Kultur- und Literaturwissenschaftler Hartmut Böhme zeigt dies anschaulich an einem
Gedankenexperiment: "Denken wir uns eine Gesellschaft, in der (wie in
vielen Utopien) jedes Geheimnis verbannt wäre; denken wir uns ein
wissenschaftliches Universum, in welchem es kein Geheimnis mehr gäbe; denken
wir uns eine Liebe, in der die Liebenden sich wechselseitig kein Geheimnis
wären; denken wir uns die Künste, die nicht mehr über den Zauber und die Magie
des Unerklärlichen verfügten; denken wir uns ein Leben in schattenloser
Ausleuchtung; denken wir uns die vielen Kulturen ohne ein Verhältnis der
Fremdheit zueinander; es wäre ein Himmelreich aus Licht, schlimmer als der
furchtbarste Alptraum. Es wäre der absolute Staat. Es wäre die Wüste der
Langeweile. Es wäre der augenblickliche Verlust aller Spannkraft. Es wäre eine
Welt ohne Liebe, ohne Eros, ohne den Zauber der Attraktion. Es wäre Terror. Es
wäre das Wissen als lückenloses Gefängnis."
Die
heute so beliebte und von den Medien unterstützte – absurderweise vor allem von
denen, die das Adjektiv „sozial“ im Namen führen – Suche nach privaten
Geheimnisse oder Verfehlungen von Personen des öffentlichen Lebens zeigt daher
eine „antimoderne und antidemokratische Haltung“
Vicotria Nuland |
„So
geschah es der Stellvertreterin des amerikanischen Außenministers, Victoria
Nuland im Februar 2014, die in einem Telefongespräch mit dem US-Botschafter in
der Ukraine unter anderem `Fuck the EU´gesagt hatte und sich dafür
entschuldigen musste. Wohlgemerkt: Die Öffentlichkeit empfand nicht das Abhören
und Veröffentlichen des Telefonats als skandalös, sondern die Äußerung der
Politikerin, über die sich unter anderem die deutsche Bundeskanzlerin empörte.“
Die
Vorstellung, dass eine Politikerin oder ein Politiker "gläsern" in
seinen persönlichen genauso wie in seinen professionellen Verhältnissen sein
solle, ist genauso totalitär wie die Vorstellung vom gläsernen Bürger.
Politiker haben in einer Demokratie dasselbe Recht auf Privatheit wie andere
Bürger auch.
„Transparenz
ist aber das vollständige Verschwinden der privaten Person und ihre
Transformation in ein ausschließlich öffentliches Wesen, dem keinerlei
Rollenwechsel und keine Rollendistanz mehr gestattet ist. Das ist kurz gesagt:
das Ende des Politischen und seine Ersetzung durch reine Funktionserfüllung,
die von außen diktiert und kontrolliert wird.“
Zitate aus: Harald Welzer: Autonomie gefordert! Über ein schwieriges Konzept der Demokratie Von Harald Welzer, SWR2 Wissen/Aula, Sendung vom 01. Mai 2017
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