Josef Kraus |
Die fünfte Sünde heißt Utilitarismus: „Hier
geht es darum, in der Schule überwiegend nur noch Dinge zu vermitteln, die man
im späteren Leben braucht, die dafür nützlich sind, die sich später
„rechnen“: zum Beispiel Computer Literacy. Kraus kritisiert diese Ideen als ein
„verarmtes Verständnis von Bildung. Hier wird Bildung zur bloßen Abrichtung.“
Geldgewinn als Bildungsziel? |
Dabei ginge es in der Bildung nicht nur oder
gar in erster Linie darum, wie ein junger Mensch fit wird für das globale
Haifischbecken. Vielmehr müsse in Sachen Bildung – weil sie sonst nur
Ausbildung ist – der Eigenwert des Nicht-Ökonomischen im Mittelpunkt stehen.
Es geht um Muse bzw. Muße, und es geht um die Bildung von Persönlichkeiten.
Die sechste Sünde heißt Empirismus. „Sie hat
viel mit PISA und Co. zu tun. Dahinter steckt die Vorstellung, alle Bildung
müsse sich messen und in Rankingtabellen abbilden lassen.“
Wer nach Kraus aber nun meine, Bildung sei das,
was PISA misst, der habe eine armes, ja ein erbärmliches Bildungsverständnis,
denn „PISA und die sog. empirische Bildungsforschung haben nur noch das an
schulischem Lernen im Blick, was sich messen lässt. Im Falle von PISA ist das
wahrscheinlich nur ein Zehntel dessen, was in Schule geschieht: ein bisschen
etwas von Informationsentnahmekompetenz, ein bisschen etwas von mathematischem
Verständnis und ein bisschen etwas von naturwissenschaftlichem Verständnis.“
Vom ständigen Messen wird die Sau auch nicht fetter ... |
Die siebte Sünde ist die Veloziferische. „Velozifer
ist nach Goethe der Gott der rasenden Beschleunigung. Es geht hier um die
Sünde des Beschleunigungswahns. Das ist der Irrglaube, man könne mit einer
immer noch früheren Einschulung in immer weniger Schuljahren und mit immer
weniger Unterrichtsstunden zu besser gebildeten jungen Leuten und zu einer
gigantisch gesteigerten Abiturienten- und Akademikerquote kommen. Typisches
Beispiel für eine solchermaßen verkorkste „Reform“ ist das achtjährige
Gymnasium (G8).“
Nach Kraus brauche aber Bildung vor allem
eines: Zeit. „Man kann intellektuelle, körperliche und soziale Reifung nicht
beliebig beschleunigen. In Afrika sagt man: Das Gras wächst nicht schneller,
wenn man an ihm zieht. Dieses Bild gilt auch für das Heranreifen junger
Menschen.“
Die in manchen deutschen Ländern reichlich
verkorkste Einführung des achtjährigen Gymnasiums beweise vielmehr, dass bei
solcher Beschleunigung viel auf der Strecke bleibe, neben der
Persönlichkeitsbildung auch Schul- und Freizeitkultur.“ Auch wenn die Abiturnoten
immer besser und noch besser würden, die G8er könnten weniger, und vor allem: „Sie
sind ein Jahr weniger reif, wenn sie die Schule verlassen.“
Die achte und letzte Sünde ist die
Psychologismus-Sünde, „der Irrglaube, Pädagogik von einer vagen
Traumapsychologie her aufziehen zu können. Für die Psychologie und ihr Image
ist dies nicht gut, denn vieles von dem, was an Psychologischem in die
Pädagogik hereingenommen wird, ist triviale Alltagspsychologie und damit
Banalisierung von Psychologie.“
Alle Pädagogik solle offenbar vom
zerbrechlichen Kind, dessen permanenter Traumatisierbarkeit, dessen Gegenwartsperspektive
und dessen unmittelbaren Bedürfnisse her gedacht werden. Dem Kind, dem
Schüler soll bloß nichts zugemutet werden, es könnte ja frustriert,
demotiviert, ja traumatisiert werden. Dass man damit Kinder in einer
Käseglocke und in einer ewigen Gegenwart einschließt und ihnen die Zukunft
raubt, scheint nicht zu zählen. Statt ihnen ein bisschen etwas zuzumuten,
werden unsere Kinder von einem Teil der Eltern, von den „Helikoptereltern“
rundum „gepampert“.“
Helikoptereltern |
Kraus geht davon aus, dass Kinder sind viel
widerstandsfähiger seien, als man gemeinhin annehme: „Die Resilienzforschung
hat dies nachgewiesen. Resilienz heißt wörtlich: zurückspringen, abprallen.
Im übertragenen Sinn meint man damit die Kraft zur Überwindung von
Einschränkungen oder gar von Verletzungen. Die Entwicklung dieser Kraft kann
man fördern, indem man die Kinder – altersgerecht – Probleme selbst lösen
lässt.“
Abschließend braucht es nach Kraus eine Revolte
gegen diese acht Sünden, denn mit diesen acht Sünden drohen Individualität,
Leistung, Anstrengungsbereitschaft, natürliche Reifung und Qualität zu
versinken. „Viel zu lange wurde Bildung – je nach Land in Deutschland
unterschiedlich intensiv – kopf- und konzeptionslos re- und deformiert.
Reformen über Reformen werden in den Sand gesetzt, ohne Produkthaftung von
Seiten derjenigen, die all dies inszeniert haben.“
Auch wenn Kraus die Gründe für diese
Entwicklung weniger in einem vermeintlichen Nationalcharakter der Deutschen
sieht, „nämlich der Selbstvergessenheit und der ständigen Selbsttribunalisierung
der Deutschen“, so beginne gleichwohl gesellschaftlicher Verfall und Dekadenz
stets mit dem Verlust der Selbstachtung: „Das gilt für jede Einzelperson, jede
Familie, jede Gruppe, jede Nation, jede Kultur. Dass die allermeisten Reformen
eben gerade denen schaden, denen sie zugutekommen sollten, nämlich den sozial
Schwächsten, wird verdrängt: Die Kinder aus „gutem“ Hause bekommen die
Verirrungen der Schulpolitik durch elterliches Zutun kompensiert, die Kinder
aus „bildungsfernen“ Elternhäusern aber bleiben in ihren Herkunftsmilieus
eingekerkert.“
Viel zu lange wurde Bildung kopf- und konzeptionslos re- und deformiert |
Verschärft wird das Problem noch dadurch, dass die real praktizierte Bildungspolitik nichts oder nur selten etwas bereut: Sie tue selten Buße und eigentlich nie gelobt sie Besserung. „Vielmehr meint sie, eine Sünde durch eine neue Sünde vergessen zu machen ... zusammen mit ihren bildungswissenschaftlichen Einflüsterern, die – oft professoral reichlich geschraubt – mit einer stets neuen Pädagogik immer wieder den Bildungshimmel auf Erden versprechen.“
Dagegen sei eine bürgerliche Revolte nötig, „nicht
für noch mehr weichgespülte Schule, sondern für anspruchsvolle Schule.“ Dazu
bedarf es des Mutes, der Courage, wie dies schon vor zweieinhalb Jahrtausenden
Perikles gesagt hat: „Zum Glück brauchst du Freiheit, zur Freiheit brauchst du
Mut.“
So fordert Kraus „Freiheit statt Gleichheit! Leistung
statt Verwöhnung! Qualität statt Quote! Inhalte statt curricularer
Nihilismen! Orientierung im europäischen Wertekosmos statt Relativismus!“ und
den Mut, dies auszusprechen und auch einzufordern.
Zitate aus: Josef Kraus: Durchgefallen!
Warum
Deutschland als Bildungsnation gescheitert ist, SWR2 Aula, Sendung vom Sonntag,
02. Juli 2017, 8.30 Uhr, Redaktion: Ralf Caspary, SWR 2017
Weitere Literatur von Josef Kraus: Wie
man eine Bildungsnation an die Wand fährt. Und was Eltern jetzt wissen
müssen, München 2017 - Helikopter-Eltern. Schluss mit Förderwahn
und Verwöhnung, Reinbek 2013 - Ist die Bildung noch zu retten? - eine
Streitschrift, München 2009 - Der Pisa-Schwindel. Unsere Kinder sind besser
als ihr Ruf. Wie Eltern und Schule Potentiale fördern können, Wien 2005 - Spaßpädagogik.
Sackgassen deutscher Schulpolitik, München 2., ergänzte Auflage, 1998.
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