Donnerstag, 14. April 2016

Jean Grenier und der Geist der Orthodoxie

Jean Grenier
Jean Grenier, Schriftsteller, Philosoph und Kunstkritiker, wurde am 6. Februar 1898 in Paris geboren. Er starb am März 1971 in Dreux-Venouillet, Eure-et-Loir. Obwohl sein Prosaband „Die Inseln“ 1985 im Suhrkamp Verlag veröffentlicht wurde, ist er in Deutschland weit-gehend unbekannt.

Von 1930 bis 1938 arbeitete Grenier als Philosophielehrer in Algier. Dort begegnete er einem Schüler, mit dem ihn – trotz unterschied-licher Lebenshaltungen und Einstellungen – eine lebenslange Freundschaft verbinden wird. Dieser Schüler war Albert Camus.

1935 trat Camus der Kommunistischen Partei Frankreichs bei, nicht ohne jedoch seinen Philosophielehrer um Rat gefragt zu haben. Dieser riet ihm zum Beitritt. Die Frage ist, welche seltsame Logik Jean Grenier dazu brachten, seinem Zögling zu raten, der Kommunistischen Partei beizutreten? Warum warnte er Camus nicht?

Für Grenier war der Kommunismus nicht mehr und nicht weniger als eine Sekte, „in der man der Vernunft abschwören und auf das eigene Ich verzichten müsse. Stattdessen gelte es zu gehorchen, sich der Orthodoxie zu unterwerfen, zum Soldaten einer Ideologie zu werden.“ 

Greniers Gedanken zum Kommunismus bzw. zur Kommunistischen Partei  sind zusammengefasst in seinem „Essai sur l’esprit de l’orthodoxie“ (dt. Versuch über den Geist der Orthodoxie). Es erschien zwar erst im Jahre 1938, besteht aber aus mehreren Essays, deren frühester von 1935 stammt. Drei sind aus dem Jahr 1936, zwei von 1937 und der Lettre à Malraux (Brief an Malraux) von 1938. Greniers Buch kam also nach Camus’ Beitritt zur KP im Jahr 1935 in den Buchhandel, aber man kann davon ausgehen, dass Grenier Camus gegenüber so argumentiert hat, wie es es in seinen Essays tut.

Die Lektüre des Versuchs über den Geist der Orthodoxie lässt jedenfalls keinen Zweifel: Jean Grenier war sich der Gefährlichkeit des Kommunismus bewusst. In seinem Buch steht klar und deutlich: „Sobald man einer Partei beigetreten ist, muss man den eigenen Geist aufgeben, damit einem die anderen nicht auf den Geist gehen.“

Greniers Kritik am Engagement in einer Partei entsprachen auch sein authentisch wirkender Antimarxismus und Antikommunismus. „Er lehnte den allumfassenden Materialismus ab und trat lieber für die Macht des Geistes ein, kritisierte die viel zu einfache, von abgedroschenen Ideen und einem veralteten Millenarismus geprägte Geschichtsphilosophie, verurteilte den Dogmatismus, wandte sich gegen eine religionsartige Ökonomie, die alles auf Produktionsbedingungen und Besitzverhältnisse reduzierte. Er schimpfte auf die hegelianische Dialektik, welche theoretisch alles Negative mit dem Vorwand rechtfertigt, es sei die notwendige Voraussetzung des künftigen Positiven.“

Es war also gerade das Herzstück der kommunistischen Ideologie, die Dialektik, die in seinen Augen Militärregimes, polizeilicher Gewalt, Arbeitslagern oder der Aufhebung der Freiheit einen Sinn verleihe, weil diese ihrer infernalischen Logik zufolge das Paradies auf Erden vorbereiteten. Grenier lehnt also die marxistische Teleologie vom Ende der Geschichte ab, denn aus seiner Sicht war auch ein wahrer, konkreter Garten Eden nicht frei von Widersprüchen.

Grenier kritisierte zudem den herrschenden Fortschrittsglauben und zeigte, dass der Marxismus die Vernunft zugunsten des Glaubens auslöscht. „Er wehrte sich gegen den Gedanken, der Zweck heilige die Mittel, kritisierte die Logik von Tribunalen, Inquisition, Verfolgungen und Gemetzel. Er wunderte sich über die bereitwilligen Parteibeitritte, über den Verzicht der Aktivisten auf Vernunft, Intelligenz und kritischen Geist.“

Vor allem aber beklagte Grenier den massenhaften Eintritt der Intellektuellen in die Partei und „verstand die Logik nicht, die einen Krieg im Hier und Jetzt mit der Abschaffung aller Kriege in Zukunft rechtfertigte oder Ungerechtigkeiten im Namen späterer Gerechtigkeit zuließ.“

Schauprozesse und Säuberungen unter Stalin (1936)

Für Grenier ist der Kommunismus eine religiös anmutende Ideologie, der Marxismus eine Art Theologie. So verspottete er die Pseudowissenschaftlichkeit dieser (und jeder anderen) transzendentalen Theorie. Die zeitgenössischen kommunistischen Aktivisten charakterisierte er als übertrieben ernst und streng. Er kontrastierte deren existentielle Einsamkeit mit dem Herdenverhalten der Aktivisten. „Er wies auf Marx’ Irrglauben hin, die Geschichte strebe unabänderlich auf die Revolution zu – schließlich wurde in Wahrheit das Proletariat immer bürgerlicher –, und warf Marx vor, die Gefahren eines dezidiert nationalen Sozialismus nicht erkannt zu haben.“

Und dieser so kritische Mann, der sich gegen Marx, den Marxismus, den dialektischen und historischen Materialismus, den Kommunismus, die Staaten des Ostens und die Sowjetisierung gewandt hatte, riet seinem Schüler gleichzeitig zum Eintritt in die KP! Warum ließ es Grenier zu, dass sein Schüler eine Erfahrung machen würde, die doch in einer Enttäuschung enden musste? Oder wollte er vielleicht genau dies erreichen, - dass sein Schüler von selbst zu dieser Einsicht käme? 

Zwei Jahre später, 1937, wurde Camus aus der Kommunistischen Partei ausgeschlossen, weil er den von Stalin vorgegebenen Kurs nicht mittragen wollte ...


Zitate aus: Michel Onfray: Im Namen der Freiheit. Leben und Philosophie des Albert Camus, München 2013

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