Das digitale Lernen ist wohl eines der umstrittensten Themen in der aktuellen Bildungslandschaft. Die einen beschwören schnell den Untergang des Abendlandes, weil sie in der Anwendung digitaler Medien im schulischen Unterricht nur negative Aspekte sehen. Die anderen wiederum sehen nur die Vorteile und verweisen auf neue Lernstrukturen und neue Freiräume für Kreativität dank Laptop und Lernplattformen.
Jörg Dräger (*1968) studierte zunächst Physik und
Betriebswirtschaftslehre an der Universität Hamburg und an der Cornell
University (New York). Danach übernahm er Geschäftsführung des Northern
Institute of Technology, einer international orientierten privaten Hochschulinstitution.
Bis 2008 war Dräger Hamburger Senator für Wissenschaft und Forschung Hamburg,
Mitglied der Kultusministerkonferenz und stellvertretendes Mitglied des
Bundesrates. Seit 2008 ist Dr. Jörg Dräger Vorstandsmitglied der Bertelsmann
Stiftung für die Bereiche Bildung, Integration und Demokratie sowie
Geschäftsführer des CHE - Centrum für Hochschul-entwicklung.
In seinem Buch „Die digitale Bildungsrevolution: Der
radikale Wandel des Lernens und wie wir ihn gestalten können (zusammen mit
Ralph Müller-Eiselt) beschäftigt er sich mit dem Lernen im Netzwerk, der digitalen
Bildung und den digitalen Medien. In einem Interview des SWR 2 hat er sich ausführlich
zur digitalen Bildungsrevolution geäußert.
Ausgangspunkt seiner Argumentation ist die kritische Sicht
auf die traditionelle Lehrerrolle, die darin besteht, dass der Lehrer vor der
Klasse steht und den Schüler Wissen vermittelt. „In heutigen klassischen
Unterrichtssituationen kümmert sich ein Lehrer zu 20 Prozent um das
individuelle Kind und zu 80 Prozent steht er vor der Klasse und vermittelt
Wissen, während die Schüler möglichst schweigen und zuhören.“
Schweigen und Zuhören aber könne man auch, wenn man ein
gutes Lernvideo anguckt. Das Ziel sei, „dass man aus dieser 20/80-Teilung eine
80/20-Teilung hinbekommt in dem Sinne, dass die Lehrer sich überwiegend um die
Kinder kümmern, um ihre Probleme.“
So habe sich eine Lehrerin, die Lernsoftware einsetzt, im Interview mit Dräger folgendermaßen geäußert: "Seitdem ich diese digitalen Medien nutze, muss ich nicht
mehr Stoff unterrichten, sondern ich kann Kinder unterrichten." Den Stoff würde
nämlich auch ein Lernvideo hinbekommen, aber für das Kind mit all seinen
Herausforderungen, brauche es den Menschen. Dazu passt die Aussage eines anderen Lehrers: "Endlich
habe ich Zeit für das Wesentliche." Und das Wesentliche ist eben die
Lernbegleitung und nicht die Stoffvermittlung.
"Endlich habe ich Zeit für das Wesentliche." |
Natürlich – und das haben neurologische Lernstudien hinreichend bewiesen – lernen Schüler sehr effektiv, wenn sie von einem Menschen angesprochen werden, der seine eigene Persönlichkeit, seine eigene Haltung, seinen Charakter und auch seine Begeisterung an dem Fach und Lernstoff mit in den Lernprozess einbringt. Eine Computerstimme könne dies schwerlich erreichen.
Das Problem – und das hat Jörg Dräger wohl richtig erkannt,
besteht leider darin, dass dieses Prinzip sicher richtig ist, „wenn Sie eine
wunderbaren Tutor, eine wunderbare Tutorin haben, die sich um zwei, drei Kinder
einzeln kümmern kann und für diese ein individueller Ansprechpartner ist und
dann auch noch in allen Fächern ein fantastischer Pädagoge, dann ist das sicher
ein tolles Modell. In dem Moment, wo 30 Kinder in einem Klassenzimmer oder 300
Studenten in einem Hörsaal sitzen, gerät Ihr Modell der individuellen Ansprache
schon an seine Grenzen.“ Genau hier könne „Digitalisierung an bestimmten
Segmenten individueller ansprechen.“
Die Frage Drägers „Wenn ein Lehrer heute vor der Klasse
steht und 30 Gesichter gucken ihn an, wie soll er gezielte Hilfe leisten?“ ist
durchaus berechtigt. Ein Ausweg besteht wohl häufig noch darin, nach dem
Gießkannenprinzip Hilfe zu verteilen.
Jörg Dräger sieht die bildungspolitische Herausforderung in
Deutschland daher vor allem im Umgang mit Heterogenität, „also wie gehen wir
besser mit der Unterschiedlichkeit der Lerner um“ - und genau hier biete das
digitalisierte Lernen vielfältige Möglichkeiten.
Letztlich ist das digitalisierte Lernen nur verständlich im Rahmen eines selbstgesteuerten und personalisierten, binnendifferenzierten Lernens. „Das Ziel ist schon, dem Schüler Lernen lernen beizubringen. Früher sollten wir einfach nur Wissen wissen. Man sprach dem Lehrer lateinische Vokabeln oder irgendwelche Definitionen nach. Inzwischen geht es aber nicht mehr so sehr um Wissen wissen – das kann ich zur Not auch im Internet nachgucken –, sondern es geht mehr darum, eine Lernmethodik zu haben, mit der ich mir Neues beibringen kann, mit der ich Informationen filtern kann, mit der ich entscheiden kann, will ich das Video nochmal wiederholen oder beherrsche ich den Stoff.“
Letztlich ist das digitalisierte Lernen nur verständlich im Rahmen eines selbstgesteuerten und personalisierten, binnendifferenzierten Lernens. „Das Ziel ist schon, dem Schüler Lernen lernen beizubringen. Früher sollten wir einfach nur Wissen wissen. Man sprach dem Lehrer lateinische Vokabeln oder irgendwelche Definitionen nach. Inzwischen geht es aber nicht mehr so sehr um Wissen wissen – das kann ich zur Not auch im Internet nachgucken –, sondern es geht mehr darum, eine Lernmethodik zu haben, mit der ich mir Neues beibringen kann, mit der ich Informationen filtern kann, mit der ich entscheiden kann, will ich das Video nochmal wiederholen oder beherrsche ich den Stoff.“
Wünschenswerte Zukunft? - Das digitale Klassenzimmer |
Häufig würden nämlich die Smartphones und Tablets ja nur zum
Konsum genutzt und nur sehr selten, um etwas Neues zu schaffen. Das ginge aber
gerade mit diesen Endgeräten sehr gut: „Musik komponieren z.B. oder Filme
machen. Sie können aber auch ein kleines Erklärvideo erstellen, in dem Sie
die Hausaufgabe, die Sie als Schüler aufhaben, in einem sogenannten Scribble
and Talk erledigen, d.h. ich zeichne auf einem Smartphone oder einem Tablet und
rede gleichzeitig und erkläre so, wie ich die Mathe-Aufgabe löse.
Der Lehrer kann so nachverfolgen, wie ich die Aufgabe
gelöst habe. Ich kann auch anderen Schülern damit etwas erklären. Ich habe
also etwas geschaffen und nicht nur konsumiert. Gerade dieses kreative Element
des Erschaffungsprozesses ist etwas, was aus meiner Sicht heute viel zu wenig
genutzt wird.“
Zitate aus: Jörg Dräger: Lernen im Netzwerk.
Die digitalisierte Bildung, SWR2 Aula, Sendung vom Sonntag, 20. März 2016.
Manuskript online unter: http://www.swr.de/-/id=16919316/property=download/nid=660374/1077a02/swr2-wissen-20160320.pdf,
als Podcast unter: http://www1.swr.de/podcast/xml/swr2/aula.xml
Weitere Literatur: Jörg Dräger: Die digitale
Bildungsrevolution: Der radikale Wandel des Lernens und wie wir ihn gestalten
können (mit Ralph Müller-Eiselt). Deutsche Verlags-Anstalt. 2. Auflage
2015
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