Albert Camus |
„Der Mythos des Sisyphos“ von Albert Camus ist der Versuch,
eine Antwort auf die Frage zu finden: Wie kann man im Angesicht des sicheren
Todes ein gutes Leben führen?
Wenn es im Mythos des Sisyphos um Themen wie Absurdität,
Tod, Selbstmord, den Wert des Lebens, Angst oder Verzweiflung geht, dann spricht
Camus nicht von abstrakten Ideen oder Begriffen. Vielmehr beschreibt er ganz
persönlich das Gefühl der Absurdität, das seine eigene Krankheit in ihm
auslöst, von dem sicher bevorstehenden Tod durch die Tuberkulose. „Er denkt
über Selbstmord nach, um sein Leben, das ihm bereits nicht mehr gehört, wieder
in die eigenen Hände zu nehmen. Er überlegt, was mit einer Geschichte
anzufangen sei, deren baldiges Ende bereits angekündigt wurde. Er denkt an all
die stillen, schrecklichen Stunden, in denen er mit sich allein und seelischen
Leiden ausgesetzt war. Er denkt an die Mutlosigkeit, die in plötzlichen
Schweißausbrüchen, Herzrhythmusstörungen und Schlaflosigkeit zum Ausdruck
kommt. Kurz: Er denkt konkret an den eigenen, greifbaren Tod.“
So ist der Mythos des Sisyphos ein philosophisches Buch, das
sich bewusst von der traditionellen Schulphilosophie abgrenzt – und für diese „Todsünde“
ließen Professoren und Universitäten ihn büßen – darunter auch Sartre als
berühmtes Aushängeschild dieser Schulphilosophie -, indem sie verbreiteten,
Camus sei kein Philosoph, weil er sich nicht an die Regeln der Disziplin halte.
Dabei war Camus’ Ablehnung der „Professorenphilosophie“ war
keine Ablehnung der Philosophie als solcher, sondern der Professoren. „Der
Mythos des Sisyphos ist kein Philosophiebuch für Philosophen, sondern für alle,
die sich jenseits akademischer, die Disziplin für sich allein beanspruchender
Institutionen für Philosophie interessieren. Nach Vorbild der antiken
Philosophen, die nicht zu Berufskollegen oder Professoren, sondern zu den
einfachen Leuten – Fischhändlern, Schreinern, Webern oder Töpfern – auf der
Agora sprachen, schrieb Camus ohne Rücksicht auf Doktoren, Professoren und
Universitäten. Er sprach zum Volk.“
„Der Mythos des Sisyphos“ steht in der Tradition existentieller
Bücher. „Kein Philosoph für Philosophen zu sein heißt nicht, gar kein Philosoph
zu sein – ganz im Gegenteil. Vielmehr sollte man in einer Welt, in der die
Philosophie von den Professoren in Beschlag genommen wird, vehement beteuern,
keiner zu sein.“ Montaigne tat dies in seinen Essais – nicht etwa, weil er kein
Philosoph gewesen wäre, sondern weil er in einer Zeit, in der die Scholastik
Hochkonjunktur hatte, nicht mit dieser vorherrschenden Form des Philosophierens
in Verbindung gebracht werden wollte. Gleiches galt für Camus, der von sich
sagte: „Ich bin kein Philosoph. Ich glaube nicht genug an die Vernunft, um an
ein System zu glauben. Mich interessiert die Frage, wie man sich verhalten
sollte. Genauer, wie man sich überhaupt verhalten kann, wenn man weder an Gott
noch an die Vernunft glaubt.“ Wenn Camus vielleicht auch nicht aus der Perspektive
von rationaler Systematik und Dogmatik kein Philosoph sein mag, dann ist er es
umso mehr aus der Perspektive existentieller Fragen, aus Sicht des
praxisbezogenen Denkens und der demokratischen Heilslehre.
Camus gehört zu den Empirikern, Sensualisten und Utilitaristen, die eine wirkliche theoretische Erkenntnis der Welt für unmöglich hielten. „Nur die Idealisten glauben an das Gegenteil, weil sie die Vielfalt der Welt
unter den Oberbegriff der Idee subsumieren. Die Reduktion der Diversität der
lebendigen Wirklichkeit auf abstrakte Begriffe erscheint ihnen als Lösung des
Problems. Camus aber wusste, dass man die Welt nicht erkennt, sondern erlebt.“
Die Hochzeit des Lichts gegen dunkle Stubenphilosophie |
Als Autor des Mythos des Sisyphos blieb er seiner
mediterranen Herkunft – „der Hochzeit des Lichts“ - treu: „Vernunft, Ideen und
Begriffe zählen auch hier weniger als Gefühle, Empfindungen und Wahrnehmungen.
Den Universitätsphilosophen gilt das als Häresie, denn sie betrachten die Sinne
als trügerisch und ziehen ihnen Deduktion und Analyse vor. Statt Leidenschaft
wollen sie Vernunft; sie lehnen die Körperempfindungen zugunsten begrifflicher
Wahrheiten ab. Über die Welt zu dichten schätzen sie geringer, als einen
Vortrag über sie zu halten.“ Vor diesem Hintergrund wird deutlich, warum das
Establishment Albert Camus die offizielle Berufsbezeichnung `Philosoph´
verweigerte. „Doch in der Welt zu leben, um eine bessere Welt zu erdenken, ist
besser, als die Welt zu denken, ohne in ihr zu leben.“
Der Mythos des Sisyphos beginnt mit einem Hinweis: „In einem
Universum, das plötzlich der Illusionen und des Lichts beraubt ist, fühlt der Mensch
sich fremd.“ Absurdität ist nun aber keine Eigenschaft der Welt, sondern
resultiert aus einem bestimmten Verhältnis zu dieser. Anders als Unendlichkeit,
Ewigkeit oder Nichts ist sie keine eigene metaphysische Kategorie. Sie
entspringt der Gegenüberstellung zweier miteinander unvereinbarer Wahrheiten –
Leben und Tod - und tritt nur in deren Konfrontation zutage. Es gibt das Leben,
aber es strebt von Anfang an auf die eigene Vernichtung zu. Wir werden geboren,
um zu sterben; kommen in die Welt, um sie wieder zu verlassen. Wir sind, um
nicht mehr zu sein.
Das Absurde ist keine Eigenschaft der Welt, sondern resultiert aus einem bestimmten Verhältnis zu dieser |
Was also ist das Leben wert? Müssen wir es leben? Und wenn
ja, warum? Ist der Suizid nicht die richtige Antwort auf den Nihilismus?
Verleiht der freiwillige Tod dem Leben, das der Tod sich ohnehin nach Belieben
einverleiben würde, einen Sinn? Für Camus waren das die entscheidenden Fragen.
Niemand sterbe für eine Idee, aber viele beendeten ihr
Leben, weil sie keine Gründe fänden, es fortzuführen. Wenn man die Welt für
absurd hält, warum sollte man sie dann nicht verlassen? Und wenn man sie nicht
verlässt, darf man sie dann als absurd bezeichnen?
Doch Camus entlarvt den Selbstmord als ebenso absurd wie die
Absurdität, die aufzulösen er vorgibt. Mit der gegen sich selbst gerichteten
Tat glaubt man, die Absurdität des Lebens aufzuheben, während man sie
paradoxerweise erst bekräftigt und ihre Macht noch vergrößert. Das Leben ist
absurd, genauso absurd aber ist, es zu beenden.
Was also bleibt? Leben. Camus zufolge bleibt uns nur, dieses
absurde Leben zu wollen und die Absurdität mit diesem Willen, diesem erklärten
Ja zum Leben zu überwinden. Die Lösung scheint einfach: Sie liege in „der
reinsten Freude, nämlich zu fühlen, und zwar auf dieser Erde zu fühlen.“
Im weiteren Verlauf des Werkes untersucht Camus nun die
möglichen Lebensformen: „Man könne als verführerischer Don Juan leben, als
Schauspieler zu absurdem Ruhm gelangen, auf Reisen sinnlose Erfahrungen in aller
Herren Länder sammeln oder seinem Reich als Eroberer immer neue Völker
einverleiben. Doch jede dieser Lebensformen basiert auf Täuschungen. Wozu ist
das Sammeln der Frauen, Erfolge, Reisen oder Länder letztlich gut? Statt die
Absurdität zu überwinden, verstärkt man sie damit noch.“
Durch den Mythos des Sisyphos zieht sich ein ständiger Strom
sich streitender Denkbewegungen. Camus überlegt für sich selbst, „hin und her,
sagt erst das eine, dann das andere, kommt zu keinem eindeutigen Schluss und
erzeugt so den Eindruck ungelöster Fragen. Einmal scheint er zu behaupten, der
absurde Mensch sage Ja, an anderer Stelle heißt es, die Lösung liege allererst
darin, Ja zu sagen.“ Dieser scheinbare Widerspruch führt zu der
Schlussfolgerung, wir entkämen der Absurdität nicht, so sehr wir uns auch
bemühten.
Camus beendete das im Oktober 1939 begonnene Buch am 21.
Februar 1941, arbeitete also zwischen seinem sechsundzwanzigsten und
achtundzwanzigsten Lebensjahr daran. Es ist die ontologische Autobiographie
eines jungen, tuberkulosekranken Mannes und eine Untersuchung, die keine
Gewissheiten, sondern offene Fragen thematisiert.
Die Weisheit des Sisyphos |
Die Weisheit des Sisyphos und der Sinn des gesamten Buches offenbart
sich erst am Schluss. Das letzte Kapitel ist genauso betitelt wie das Buch.
Nachdem Camus den Felsblock immer wieder den Berg der Reflexion emporgehievt
hat, nur um festzustellen, dass er stets zurück ins Tal rutscht, liefert er im
letzten und berühmten Satz die Auflösung: „Wir müssen uns Sisyphos als einen glücklichen
Menschen vorstellen.“ Aber worin besteht sein Glück?
Sisyphos ist der absurde Held: Aufgrund seiner
Leidenschaften wie aufgrund seiner Qual. „Seine Verachtung der Götter, sein
Hass auf den Tod und sein leidenschaftlicher Lebenswille haben ihm unsagbare
Marter eingebracht, bei der sein ganzes Sein sich abmüht, ohne etwas zu
vollenden.“ Er verkörpert zudem die ewige Wiederkehr des Gleichen: Er
rollt den Felsbrocken den Berg hoch, dieser rollt zurück, er rollt ihn wieder
hoch, der Fels bewegt sich erneut nach unten – und das bis in alle Ewigkeit. Es
stellt sich nun die Frage, was zu tun sei, wenn man erkannt hat, dass sich
alles stets wiederholt und die Wahrheit der Welt in der ewigen Wiederkehr des
Gleichen besteht.
Auf diese Frage gab Camus die folgende Antwort: Wir müssten
den Willen wollen, der uns will. Auch Sisyphos ist am Ende überzeugt, „dass
alles gut ist.“
„Man entdeckt das
Absurde nicht, ohne in die Versuchung zu geraten, irgendein Handbuch des Glücks
zu schreiben. <Was! Auf so schmalen Wegen...?> Es gibt aber nur eine
Welt. Glück und Absurdität entstammen ein und derselben Erde. Sie sind
untrennbar miteinander verbunden. Irrtum wäre es, wollte man behaupten, daß das
Glück zwangsläufig der Entdeckung des Absurden entspringe. Wohl kommt es vor,
daß das Gefühl des Absurden dem Glück entspringt. <Ich finde, daß alles gut
ist>, sagt Ödipus, und dieses Wort ist heilig. Es wird in dem grausamen und
begrenzten Universum des Menschen laut. Es lehrt, daß noch nicht alles
erschöpft ist, daß noch nicht alles ausgeschöpft wurde. Es vertreibt aus dieser
Welt einen Gott, der mit dem Unbehagen und mit der Vorliebe für nutzlose
Schmerzen in sie eingedrungen war. Es macht aus dem Schicksal eine menschliche
Angelegenheit, die unter Menschen geregelt werden muß.
Darin besteht die
ganze verschwiegene Freude des Sisyphos. Sein Schicksal gehört ihm. Sein Fels
ist seine Sache. Ebenso läßt der absurde Mensch, wenn er seine Qual bedenkt,
alle Götzenbilder schweigen. Im Universum, das plötzlich wieder seinem
Schweigen anheimgegeben ist, werden die tausend kleinen, höchst verwunderten
Stimmen der Erde laut. Unbewußte, heimliche Rufe, Aufforderungen aller
Gesichter bilden die unerläßliche Kehrseite und den Preis des Sieges. Ohne
Schatten gibt es kein Licht; man muß auch die Nacht kennenlernen.
Der absurde Mensch
sagt Ja, und seine Mühsal hat kein Ende mehr. Wenn es ein persönliches,
Geschick gibt, dann gibt es kein übergeordnetes Schicksal oder zumindest nur
eines, das er unheilvoll und verächtlich findet. Darüber hinaus weiß er sich
als Herr seiner Zeit. Gerade in diesem Augenblick, in dem der Mensch sich
wieder seinem Leben zuwendet (ein Sisyphos, der zu seinem Stein zurückkehrt),
bei dieser leichten Drehung betrachtet er die Reihe unzusammenhängender Taten,
die sein Schicksal werden, seine ureigene Schöpfung, die in seiner Erinnerung
geeint ist und durch den Tod alsbald besiegelt wird.
Überzeugt von dem rein
menschlichen Ursprung alles Menschlichen, ist er also immer unterwegs - ein
Blinder, der sehen möchte und weiß, daß die Nacht kein Ende hat. Der Stein
rollt wieder.
Ich verlasse Sisyphos
am Fuße des Berges! Seine Last findet man immer wieder. Nur lehrt Sisyphos uns
die größere Treue, die die Götter leugnet und die Steine wälzt. Auch er findet,
daß alles gut ist. Dieses Universum, das nun keinen Herrn mehr kennt, kommt ihm
weder unfruchtbar noch wertlos vor. Jedes Gran dieses Steins, jeder Splitter
dieses durchnächtigten Berges bedeutet allein für ihn eine ganze Welt. Der
Kampf gegen Gipfel vermag ein Menschenherz auszufüllen. Wir müssen uns Sisyphos
als einen glücklichen Menschen vorstellen.“ (Camus, Der Mythos des Sisyphos)
Zitate aus: Michel Onfray: Im Namen
der Freiheit. Leben und Philosophie des Albert Camus, München 2013 - Albert Camus: Der Mythos des Sisyphos, München 2000
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