Donnerstag, 21. August 2014

Amartya Sen und das altindische Gerechtigkeitsverständnis

In seinem Buch „Die Idee der Gerechtigkeit“ geht Amartya Sen (*03.11.1933) an mehreren Stellen auf zwei Begriffe des altindischen Gerechtigkeitsverständnisses ein, deren Unterscheidung bis heute unterschiedliche Auffassungen von Gerechtigkeit vorwegnehmen und die vorwiegend den Kontrast zwischen „einem auf Regeln gerichteten und einem auf Verwirklichung gerichteten Rechtsverständnisses“ deutlich werden lassen

Zunächst bezeichnet niti die Gerechtigkeit im Sinne einer Korrektheit von Organisationen und Verhaltensweisen. Auch Sen geht davon aus, dass jede Theorie der Gerechtigkeit der Rolle von Institutionen, die gerecht handeln, einen wichtigen Platz einräumen muss, dass also „die Institutionen selbst mit gutem Grund als Teil der Verwirklichungen [von Gerechtigkeit - Paideia] zählen, die durch sie erreicht werden“ (110).

niti - Die Gerechtigkeit der Institutionen:
Regelwerke geben die Richtung an
Gerechtigkeit im Sinne von niti meint also, dass die Anforderungen der Gerechtigkeit in einer Gesellschaft schon erfüllt sind, wenn angemessene Institutionen existieren. So spricht sich Robert Nozick beispielsweise dafür aus, dass in einer gerechten Gesellschaft die individuellen Freiheiten und der Schutz des Lebens und des Eigentums garantiert werden müssen und die für diese Rechte notwendigen Institutionen – „juristische wie ökonomische Regelwerke“ (112) – zu den wesentlichen Bedingungen der Vorstellung von Gerechtigkeit gehören.

Ein Beispiel für eine besonders strenge Ausprägung von niti ist die Forderung „Fiat iustitia, et pereat mundus“ („Gerechtigkeit soll geübt werden, auch wenn dabei die Welt untergeht“), ein Satz, der Ferdinand I., Kaiser des Heiligen Römischen Reiches im 16. jahrhundert, zugeschrieben wird.

Für Sen ist es allerdings mehr als unverständlich, eine totale Katastrophe als Beispiel für eine gerechte Welt zu beschreiben: „Sollte die Welt tatsächlich untergehen, wäre das keine besonders rühmliche Errungenschaft, selbst wenn die harte, strenge niti-Gerechtigkeit, die zu diesem Ergebnis geführt hätte, womöglich mit sehr komplizierten Argumenten verschiedener Art verteidigt werden könnte“ (49).

Für Sen ist damit klar, dass wir auf unserer Suche nach Gerechtigkeit nicht die Augen vor dem verschließen können, was wirklich in der Welt passiert.

Natürlich müssen wir uns Sen zufolge „um Institutionen bemühen, die Gerechtigkeit fördern, aber wir sollten nicht Institutionen schon für sich genommen als Erscheinungsformen von Gerechtigkeit behandeln“ (110). Vielmehr müsse man prüfen, inwieweit die Verwirklichung von Gerechtigkeit auf dem institutionellen Fundament tatsächlich zustande kommen kann.

Die Überzeugung, dass ausschließlich Institutionen das Fundament der Gerechtigkeit sind, führt nicht nur zu einer groben Missachtung der Komplexität von Gesellschaften, sondern geht ziemlich mit einer Selbstzufriedenheit und vermeintlich souveräner Klugheit von Institutionen einher. Diese Einstellung aber blockiert „eine kritische Überprüfung der tatsächlichen Konsequenzen, die sich auf der Verfügbarkeit der empfohlenen Institutionen ergeben“ (111).

Hier setzt der Begriff nyaya an, der für ein umfassendes Konzept von verwirklichter Gerechtigkeit steht, das „unlöslich mit der Welt verbunden ist, wie sie sich tatsächlich entwickelt, und nicht nur mit den Regeln und Institutionen, die wir gerade haben“ (48).

Die Gerechtigkeit der Fische muss in der Welt der Menschen
unbedingt vermieden werden! (Amartya Sen)

Sen erläutert nyaya am Beispiel des Rechts des Stärkeren oder auch der „Gerechtigkeit in der Welt der Fische“, in der ein dicker Fisch ungehindert einen kleinen Fisch verschlingen kann. Dem Verständnis von nyaya folgend muss die „Gerechtigkeit der Fische“ in der Welt der Menschen unbedingt vermieden werden: „Die zentrale Erkenntnis hier besagt, dass die Verwirklichung von Gerechtigkeit im Sinne des Begriffs nyaya nicht einfach mit der Beurteilung von Institutionen und Regeln zu tun hat, sondern mit der Einschätzung der Gesellschaften selbst. Ganz gleich, wie korrekt etablierte Organisationen sein mögen, muss es doch als offene Verletzung der Gerechtigkeit zwischen Menschen im Sinn von nyaya gelten, wenn ein großer Fisch trotzdem nach Belieben einen kleinen Fisch verschlingen kann“ (49).

Die Perspektive von nyaya macht zudem deutlich, dass es wichtiger ist, „offenkundigem Unrecht in der Welt vorzubeugen, statt nach dem vollkommen Gerechten zu suchen“ – ein Gedanke, den auch Karl R. Popper in das Zentrum seiner Utopiekritik stellt.

So geht es bei nyaya nicht darum, eine vollkommen gerechte Gesellschaft oder soziale Regelungen zu schaffen – „oder zu erträumen“ -, sondern es geht ihr vorrangig darum, eindeutig schweres Unrecht zu verhindern: „Als Menschen im achtzehnten und neunzehnten Jahrhundert für die Abschaffung der Sklaverei kämpften, arbeiteten sie nicht in der Illusion, dass die Welt durch die Abschaffung der Sklaverei vollkommen gerecht würde. Vielmehr gingen sie davon aus, dass eine Gesellschaft, die Sklaverei duldete, vollkommen ungerecht sei (…) Weil Sklaverei als untragbare Ungerechtigkeit diagnostiziert wurde, erhielt ihre Abschaffung höchste Priorität, und dazu brauchte man keinen Konsens über das Aussehen einer vollkommen gerechten Gesellschaft“ (50).
 
Allegorie auf die Sklavenbefreiung: Als leibhaftigen Messias hießen schwarze Sklaven US-Präsident Abraham Lincoln willkommen, als er nach der Eroberung der konföderierten Hauptstadt Richmond im April 1865 durch die Straßen ritt. 

Das, was in der Welt passiert, ist demnach für unsere moralische und politische Einstellung ausgesprochen wichtig. In der umfassenden Perspektive von nyaya gesehen, darf mach Sen zufolge niemals die Aufgabe der Gerechtigkeit einfach an ein niti sozialer Institutionen und sozialer Regeln delegieren, die man für richtig und korrekt hält, und es dann dabei belassen. Danach zu fragen, „welchen Lauf die Dinge nehmen und ob sie verbessert werden können, gehört somit konstant und unumgänglich zum Streben nach Gerechtigkeit“ (114).

Zitate aus: Amartya Sen: Die Idee der Gerechtigkeit, München 2010 (C.H.Beck)

1 Kommentar:

  1. Christian Siebert23. August 2014 um 22:15

    So schwierig isses doch gar nicht:

    Um sinnvoll über Gerechtigkeit reden oder räsonieren zu können braucht's einen Maßstab. Wie der Begriff schon sagt und nicht allzu schwer zu erraten ist, ist das das RECHT. Jetzt muss man nur noch feststellen, inwieweit tatsächliche Zustände mit dem als Maßstab herangezogenen Recht übereinstimmen oder konfligieren - fertig ist die Gerechtigkeit - oder Ungerechtigkeit.

    Es hat überhaupt keinen Sinn bzw. es handelt sich um leeres Gerede, maßstablos über "Gerechtigkeit" zu palavern. Andererseits schwadroniert es sich natürlich besser, wenn man seine Maßstäbe, man auch auch sagen Idealzustände, nicht entwickelt und definiert. Erst nach diesbezüglichen Definitionen, bei denen es sich eigentlich um Gesetzesvorschläge handelt oder ggf. auch um die explizite Bejahung/Verneinung existierender Gesetze, kommt man in eine brauchbare Debatte.

    "Recht auf Arbeit" wäre so ein Ding, beispielsweise – dieses "Recht" war war aber auch in den KZs realisiert. Also geht's um die Bedingungen: Welche Arbeit? Wie viel davon? Entgelt: ja/nein/wie viel? Abhängigkeit vom Lebensalter; was passiert, wenn ich von diesem "Recht" keinen Gebrauch zu machen wünsche? …und, und, und. Man merkt: Man kommt sehr schnell in notwendige Details. Das passt aber nicht so gut zu Redereien nach dem Talkshowmodell. Oder: Sind unter "Recht" nur Verbote, also Rücksichtnahmen auf Andere, zu verstehen, oder eben auch positive Ansprüche? Bei positiven Ansprüchen kommt das Problem hinzu, dass jemand zur Bereitstellung dessen, was rechtlich beansprucht werden kann, verpflichtet (!) sein muss, andernfalls geht die Sache ins Leere.

    Das Beispiel mit den Fischen zeigt nur, dass manch einer alles Mögliche in Rechtsbegriffe hineinpackt, was da nicht hingehört. Das passt gut zur fragwürdigen europäischen Naturrechtstradition - über die hat sich schon Montaigne in trefflicher Weise lustig gemacht.

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