Donnerstag, 24. Oktober 2013

Bernulf Kanitscheider und die Freiheit des Individuums


Bernulf Kanitscheider hat sich in seinen zahlreichen Publikationen vornehmlich mit philosophischen Fragen der modernen Physik und Kosmologie auseinander gesetzt. In seinem Buch „Von der mechanischen Welt zum kreativen Universum“ (1993) versucht Kanitscheider, ausgehend von einer Verknüpfung naturwissenschaftlicher und gesellschaftstheoretischer Überlegungen, die Überlegenheit einer liberalen Gesellschaftsordnung zu begründen.

Bernulf Kanitscheider (geb. 1939)
Kanitscheider geht von der Prämisse aus, dass natürliche komplexe Ökosysteme, wie beispielsweise von selbst entstandene Waldgebiete, eine größere innere Stabilität haben als die künstlichen, vom Menschen erzeugten einfachen Ökosysteme wie etwa ein Kornfeld.

Nun lässt sich gut beobachten, dass die Versuche des Menschen, die komplexen Systeme durch gezielte Eingriffe zu verändern, notwendig die Instabilität dieser Systeme erhöhen.

Diese Beobachtung hat Kanitscheider mit einem Experiment überprüft: „Zwölf Versuchspersonen hatten die Aufgabe, das Wohlergehen der Bevölkerung von `Tanaland´ durch gezielte Maßnahmen so zu steuern, dass das Land in jeder Hinsicht, also medizinischer Versorgung, Nahrungsangebot, Kindersterblichkeit, Lebenserwartung usw. optimiert würde.“

Die Ergebnisse der Steuerungen in dieser Modellwelt waren sehr auf aufschlussreich: „Fast alle Versuche sozialer Ingenieurskunst führten zu unerwarteten Katastrophen in ferner liegenden Bereichen.“

So zeigte sich bei der psychologischen Analyse von Handlungen in komplexen Situationen, dass Menschen „schlecht dazu geeignet sind, vernetzte, intransparente und dynamische Systeme zu durchschauen und handzuhaben.“

Gerade wenn bestimmte Zustandsgrößen eines Systems mehrdimensionale Verknüpfungen aufweisen, die zudem noch im Rahmen direkter Beobachtung nicht beobachtbar sind, weil keine sichtbaren Variablen vorhanden sind, dann ist der Mensch hoffnungslos überfordert, eine zielgerichtete Steuerung an einem solchen komplexen System vorzunehmen.

Komplexe Systeme - durch den Menschen nicht steuerbar ...

Nun in den Fällen, bei denen die Variablen bekannt – weil beobachtbar – sind und bei denen die Wechselwirkungen einer expliziten Dynamik folgen, also ein Geschehen darstellen, dessen Ursachen und Bewegungsgesetze bekannt und verständlich sind, ist eine begrenzte Steuerung möglich.

Diese Überlegungen überträgt Kanitscheider nun auf die gesellschaftspolitische Ebene und erläutert sich am Beispiel der Herstellung von Einkommensgleichheit.

„Eine Gesellschaft, die durch Gewalt die Gleichheit der Einkommen erzwingt, erzeugt eine politische und ökonomische Situation der äußersten Ungerechtigkeit und Unfreiheit. Jene Gesellschaft hingegen, die den spontanen Ordnungskräften der Komplexität freies Spiel lässt, somit die Freiheit an die oberste Stelle der Wertehierarchie setzt, erhält als Ergebnis einen höheren Grad an Gleichheit als alle konkurrierenden Gesellschaftsformen.“

Grundlegend dafür ist die Erkenntnis, dass es die Freiheit ist, die die Möglichkeit der Kritik enthält. Das bedeutet, dass alle sozialen und ökonomischen Positionen, die jemand einnimmt, auch angegriffen werden können. Keine noch so starre Institutionalisierung kann Privilegien für alle Zeiten festzurren. In einer komplexen und offenen Gesellschaft ist das Individuum nicht nur freier, sondern auch gleicher als in jeder anderen konkurrierenden Gesellschaftsform, weil jeder immer wieder seine Chance erhält.

All das bedeutet nicht, dass man auf Planung nun ganz verzichten sollte bzw. könnte. Aber neben der geplanten Ordnung und Organisation zur bewussten Koordination von menschlichen Aktivitäten gibt es eben das weite Feld der ungeplanten Ordnung, die nicht vom Menschen entworfen wurde, sondern die aus der Tätigkeit der Individuum resultiert, ohne dass dahinter eine besondere Absicht verborgen liege. Eine ungeplante Ordnung wird nicht hergestellt, sie bildet sich.

Die geplante Ordnung hat also vor allem den Sinn, günstige Bedingungen dafür schaffen, dass eine ungeplante Ordnung entstehen, sich bilden kann. Diese Planung und Organisation betrifft jedoch nur die Rahmenbedingungen. Die soziale Ordnung ist demnach „das Resultat vielfältiger, unübersehbarer, spontaner Kooperationen.“
 
Die vielfältigen Kenntnisse und Fähigkeiten der Menschen brauchen keine zentrale Leitung!

Wir müssen also vor allem dafür sorgen, dass unsere vorliegende komplexe Ordnung nicht unnötigerweise durch Eingriffe destabilisiert wird. „Die Freiheit des Individuums, die minimale Einengung seiner spontanen Entschlüsse und die komplexe Ordnung stehen in einem gegenseitigen Stützungsverhältnis. Ein freies System wird sich für die Bildung der Gesamtordnung auf die spontanen Kräfte verlassen.“

So wird man die Kenntnisse und Fähigkeiten der Mitglieder einer Gesellschaft am besten nutzen können, wenn man sie nicht einer zentralen Leitung unterwirft, die die Entwicklung der Gesellschaft nach einem einheitlichen Zielkatalog steuert – denn nur auf diese Weise wird die Freiheit, d.h. der größtmögliche Handlungsspielraum für alle garantiert.

Einen Kristall – so Kanitscheider – kann man auch nicht herstellen, indem man jedes Molekül an seinen Platz setzt, sondern indem man Kondensationskeime in eine Nährlösung der richtigen Konzentration gibt!

Zitate aus: Bernulf Kanitscheider: Von der mechanischen Welt zum kreativen Universum. Zu einem neuen philosophischen Verständnis der Natur, Darmstadt 1993 (Wissenschaftliche Buchgesellschaft), S. 59ff. - Zum Tanaland-Experiment siehe den Artikel von Peter Felixberger auf der Homepage von Advanced Journalism Academy

3 Kommentare:

  1. Ich weiß nicht so recht, bin nach dem Beitrag nicht klüger als zuvor. Man soll den Kräften freies Spiel lassen, aber nicht ganz frei, ein bisschen steuern dann doch schon. Die ewig diskutierte Frage ist doch, was dieses Bisschen ist. Die Beweihräucherung der selbststeuernden Ordnung hat als unbewiesene Grundannahme, dass die Ordnung, die sich aus dem freien Spiel ergibt, den Menschen, ja dem Einzelnen Individuum positiv gestimmt ist. Das Beispiel des Waldes soll dafür herhalten. Aber im Wald herrschen Mord und Totschlag und das Getier fügt sich die größten Gräul an. Von außen freilich erscheint uns alles Harmonisch, schön grün. Keiner fragt die Fliege im Spinnenetz. Ich möchte ungern als Individuum solchen romantischen Vorstellungen vom freien Spiel zum Opfer fallen.

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  2. Lieber Sonntagssoziologe, es wird Sie vielleicht wundern, aber mir geht es bei dem Thema ähnlich! Es wird hier sicherlich nicht eine Schema-F-Lösung geben, sondern nur Einzelfalllösungen. Aber es geht um eine grundsätzliche Tendenz: Suche ich nach selbststeuernden Elementen, wenn ich Staat, Gesellschaft, Wirtschaft oder welches Gebiet auch immer organisieren will, und vertraue ich dann in gewisser Weise darauf, dass die Betroffenen schon wissen, was für sie am besten ist. Oder gehe ich von Anfang an davon aus, dass es eine Supernanny braucht, damit die Menschen glücklich werden. Im ersten Fall stehen Begriffe wie Verantwortung und Selbstorganisation im Vordergrund, im zweiten Fall Bevormundung und Fremdsteuerung. Klar ist aber auch, dass Solidarität nicht notwendigerweise aus Selbststeuerung entsteht. Hier ist Regulierung von außen notwendig und sinnvoll. Vielleicht liegt eine Möglichkeit darin, verschiedene "Teilchen" (von denen Heinz von Förster immer so gerne spricht) aus Selbstregulierung und Steuerung zusammenzusetzen. Aber auch hier wäre dann Vertrauen vorauszusetzen, dass diese Mischung wirklich funktioniert ... Herzliche Grüße Paideia

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  3. Wie aber ist es mit der Steuerung unseres eigenen Körpers und der Freiheit der eigenen Organe im Wechselspiel miteinander - das System ist komplex und funktioniert auf der Basis der Selbstorganisation und der Steuerung im Rahmen negativer Rückkopplungsprozesse - und welchem Wald sprechen Sie - meinen Sie den Regenwald? Was ist für sie Freiheit - in der kürze der Abhandlung kann sie wohl nur ein Synonym für ein Symptom sein - ist das Herz frei, sind Leber und Nieren frei? Meine Beobachtung je kleiner die Einheiten, desto übersichtlicher und transparenter sind die Prozesse, was aber nicht bedeutet, dass sie auch freier sind - für die Unfreiheit reicht einer der nötigt und bevormundet, Kraft seiner Macht. Vielfalt entsteht, ereignet sich in Kooperation, im Miteinander. Die Lösung, die Umgebung nährt und das ist entscheidet.

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