Donnerstag, 20. September 2012

Amartya Sen und die Objektivität


Im Gleichnis „Die blinden Männer und der Elefant“ untersucht eine Gruppe von Blinden einen Elefanten, um zu begreifen, worum es sich bei diesem Tier handelt. Jeder untersucht nur einen Körperteil. Dann vergleichen sie ihre Ergebnisse untereinander und stellen fest, dass jeder von ihnen zu seinen eigenen, vollständig unterschiedlichen Schlussfolgerungen gekommen ist.

Die blinden Männer und der Elefant

Die blinden Männer sind letztlich nicht in der Lage, die vollständige Realität des Elefanten klar und deutlich zu begreifen. Sie erkennen nur den Auschnitt, der aufgrund ihrer individuellen Perspektive erkennbar ist.

Das Gleichnis ist ein gutes Beispiel dafür, dass wir versuchen müssen, die engen Grenzen einer positionellen, d.h. standortgebundenen oder standpunktabhängigen Perspektive zu überwinden. Eine eingeschränkte Perspektive ist vor allem deshalb ein Problem, weil sie nur begrenzte Beobachtungen erlaubt und uns häufig daran hindert, all das zu sehen, was in der Welt geschieht.

Obwohl also Beobachtungen und Rückschlusse von der Position des Beobachters abhängen, kann man gleichwohl von einer „positionsbedingten Objektivität“ sprechen. Der Gegenstand einer solchen objektiven Beobachtung ist ein Phänomen, das jede normale Person von einer vorgegebenen Position aus nachprüfen kann.

Ein Beispiel für diese Form der positionsbedingten Objektivität ist der Satz „Mond und Sonne sehen gleich groß aus.“ Auch wenn der Standort in der Aussage nicht explizit genannt wird, so ist sie doch eindeutig standortabhängig und könnte auch folgendermaßen formuliert werden: „Von der Erde aus betrachtet, sehen Mond und Sonne gleich groß aus.“ In jedem Fall gibt es keinen Grund, diese Aussage als subjektiv aufzufassen oder als ein mentales Phänomen einer bestimmten Person zu bezeichnen. In diesem Fall geht es schlicht darum, wie ein Objekt von einer festgelegten Beobachtungsposition aussieht, und in diesem Fall sieht es – objektiv betrachtet – für jeden Beobachter gleich aus.

Das klassische Verständnis von Objektivität jedoch geht über die positionelle Objektivität hinaus, wie sie Thomas Nagel im folgenden Zitat beschreibt: „Eine Ansicht oder Form des Denkens ist dann objektiver als eine andere, wenn sie weniger abhängig ist von den Besonderheiten in der Veranlagung eines Individuums und seiner Stellung in der Welt oder vom Charakter des besonderen Typs, zu dem es gehört“ (Nagel, 13).

Dieser Definition nach ist gerade die Unabhängigkeit einer Meinung vom individuellen Standort ein Merkmal von Objektivität. Würde man, um beim oben genannten Beispielsatz zu bleiben, aus der Beobachtung, dass Sonne und Mond gleich aussehen, wenn man sie von der Erde aus betrachtet, die Konklusion ableiten, dass auch ihre Massen gleich sind, so verstieße dies gegen die Positionsunabhängigkeit von Objektivität. Daraus folgt, dass standortgebundene Beobachtungen irreführend sein können, wenn man ihre Standortbedingtheit nicht genügend beachtet und gegebenenfalls korrigiert.

The Idea of Justice (2009)
Standortgebundene Beobachtungen und Meinungen sind nun nicht nur für die Suche nach Erkenntnis zentral, sondern auch in der Ethik und politischen Philosophie, wie Amartya Sen in seinem Buch „Die Idee der Gerechtigkeit“ ausführt.

Insbesondere für die Formulierung einer Theorie der Gerechtigkeit ist eine Haltung nötig, die frei ist von positionsbedingten Vorurteilen. „Menschen, für die standpunktgebundene Perspektiven zur Gewohnheit geworden sind, können sich nur schwer von diesem eingeschränkten Blickwinkel lösen“ (Sen, 189).

Sen weist darauf hin, dass in der Praxis die Reichweite des öffentlichen Gebrauchs der Vernunft durch die Art und Weise eingeschränkt wird, wie Menschen die Welt, in der sie leben, verstehen. „Und wenn der starke Einfluss der Positionsabhängigkeit dieses soziale Verständnis vernebelt, dann verlangt dies allerdings besondere Beachtung, sobald es um die Erkenntnis der gravierenden Schwierigkeiten geht, die bei der Einschätzung von Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit zu erwarten sind“ (Sen, 195f).

Positionsbedingte Illusionen müssen daher in erster Linie dadurch überwunden werden, indem die Informationsbasis für Bewertungen verbreitert wird. Genau dies hatte schon Adam Smith in seinem Buch „Theorie der ethischen Gefühle“ veranlasst, bei der moralischen Beurteilung unserer Taten immer auch Perspektiven von außen mit zu berücksichtigen. Dies geschieht zum Einen durch die Vorstellung eines „unparteiischen Zuschauers“: Wenn wir unser Verhalten beurteilen, müssen wir es „prüfen, wie es unserer Ansicht nach irgendein anderer fairer und unparteiischer Zuschauer prüfen würde“ (Smith, 167).

Adam Smith aber fordert ebenso, Perspektiven aus der Ferne systematisch zu berücksichtigen - ein Gedanke, der sich schon bei David Hume findet: „Nehmen wir weiter an, dass mehrere verschiedene Gesellschaften zum gegenseitigen Nutzen und Vorteil einen gewissen Umgang pflegen, dann erweitern sich die Grenzen der Gerechtigkeit in dem Maße, wie sich der Blickwinkel der Menschen erweitert und ihre gegenseitigen Verbindungen stärker werden“ (Hume, 111).

Keine Theorie der Gerechtigkeit kann die übrige Welt außerhalb des eigenen Landes einfach ignorieren. Nachbarschaft wird in einer globalisierten Welt immer umfassender. Daher wird eine Theorie der Gerechtigkeit alle positionsbedingten Beschränkungen im Hinblick auf moralische oder politische Verpflichtungen überwinden müssen, die die Wahrnehmung auf eine „unmittelbare Nachbarschaft“ einengen und so die Ansicht versuchen abzuwehren, dass man nur dem Nächsten etwas schulde, aber nicht den Menschen außerhalb der Nachbarschaft.

„In der Welt von heute gibt es nur sehr wenige Nicht-Nächste“ (Sen, 201).

Zitate aus: Amartya Sen: Die Idee der Gerechtigkeit, München 2010 (C.H.Beck)  --   Thomas Nagel: Der Blick von Nirgendwo, Frankfurt 1992 (Suhrkamp)  --  Adam Smith: Theorie der ethischen Gefühle, Leipzig 1926 (Meiner)  --  David Hume: Prinzipien der Moral, Stuttgart 2002 (Reclam)


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