Im Gleichnis „Die blinden Männer und der
Elefant“ untersucht eine Gruppe von Blinden einen Elefanten, um zu begreifen,
worum es sich bei diesem Tier handelt. Jeder untersucht nur einen Körperteil.
Dann vergleichen sie ihre Ergebnisse untereinander und stellen fest, dass jeder
von ihnen zu seinen eigenen, vollständig unterschiedlichen Schlussfolgerungen gekommen
ist.
Die blinden Männer und der Elefant |
Die blinden Männer sind letztlich nicht in der Lage,
die vollständige Realität des Elefanten klar und deutlich zu begreifen. Sie erkennen nur den Auschnitt, der aufgrund ihrer individuellen Perspektive erkennbar ist.
Das Gleichnis ist ein gutes Beispiel dafür,
dass wir versuchen müssen, die engen Grenzen einer positionellen, d.h.
standortgebundenen oder standpunktabhängigen Perspektive zu überwinden. Eine
eingeschränkte Perspektive ist vor allem deshalb ein Problem, weil sie nur
begrenzte Beobachtungen erlaubt und uns häufig daran hindert, all das zu sehen, was in
der Welt geschieht.
Obwohl also Beobachtungen und Rückschlusse
von der Position des Beobachters abhängen, kann man gleichwohl von
einer „positionsbedingten Objektivität“ sprechen. Der Gegenstand einer solchen
objektiven Beobachtung ist ein Phänomen, das jede normale Person von einer
vorgegebenen Position aus nachprüfen kann.
Ein Beispiel für diese Form der positionsbedingten
Objektivität ist der Satz „Mond und Sonne sehen gleich groß aus.“ Auch wenn der
Standort in der Aussage nicht explizit genannt wird, so ist sie doch eindeutig
standortabhängig und könnte auch folgendermaßen formuliert werden: „Von der
Erde aus betrachtet, sehen Mond und Sonne gleich groß aus.“ In jedem Fall gibt
es keinen Grund, diese Aussage als subjektiv aufzufassen oder als ein mentales
Phänomen einer bestimmten Person zu bezeichnen. In diesem Fall geht es schlicht
darum, wie ein Objekt von einer festgelegten Beobachtungsposition aussieht, und in diesem Fall sieht es – objektiv betrachtet – für jeden Beobachter gleich aus.
Das klassische Verständnis von Objektivität
jedoch geht über die positionelle Objektivität hinaus, wie sie Thomas Nagel im folgenden Zitat beschreibt: „Eine Ansicht oder Form des Denkens ist dann objektiver als eine
andere, wenn sie weniger abhängig ist von den Besonderheiten in der Veranlagung
eines Individuums und seiner Stellung in der Welt oder vom Charakter des besonderen
Typs, zu dem es gehört“ (Nagel, 13).
Dieser Definition nach ist gerade die
Unabhängigkeit einer Meinung vom individuellen Standort ein Merkmal von
Objektivität. Würde man, um beim oben genannten Beispielsatz zu bleiben, aus der
Beobachtung, dass Sonne und Mond gleich aussehen, wenn man sie von der Erde aus
betrachtet, die Konklusion ableiten, dass auch ihre Massen gleich sind, so verstieße
dies gegen die Positionsunabhängigkeit von Objektivität. Daraus folgt, dass
standortgebundene Beobachtungen irreführend sein können, wenn man ihre Standortbedingtheit
nicht genügend beachtet und gegebenenfalls korrigiert.
The Idea of Justice (2009) |
Standortgebundene Beobachtungen und Meinungen
sind nun nicht nur für die Suche nach Erkenntnis zentral, sondern auch in der
Ethik und politischen Philosophie, wie Amartya Sen in seinem Buch „Die Idee der Gerechtigkeit“ ausführt.
Insbesondere für die Formulierung einer Theorie
der Gerechtigkeit ist eine Haltung nötig, die frei ist von positionsbedingten
Vorurteilen. „Menschen, für die standpunktgebundene Perspektiven zur Gewohnheit
geworden sind, können sich nur schwer von diesem eingeschränkten Blickwinkel
lösen“ (Sen, 189).
Sen weist darauf hin, dass in der Praxis die
Reichweite des öffentlichen Gebrauchs der Vernunft durch die Art und Weise eingeschränkt wird,
wie Menschen die Welt, in der sie leben, verstehen. „Und wenn der starke
Einfluss der Positionsabhängigkeit dieses soziale Verständnis vernebelt, dann verlangt
dies allerdings besondere Beachtung, sobald es um die Erkenntnis der
gravierenden Schwierigkeiten geht, die bei der Einschätzung von Gerechtigkeit
und Ungerechtigkeit zu erwarten sind“ (Sen, 195f).
Positionsbedingte Illusionen müssen daher in
erster Linie dadurch überwunden werden, indem die Informationsbasis für
Bewertungen verbreitert wird. Genau dies hatte schon Adam Smith in seinem Buch „Theorie
der ethischen Gefühle“ veranlasst, bei der moralischen Beurteilung unserer Taten immer auch Perspektiven von außen mit zu
berücksichtigen. Dies geschieht zum Einen durch die Vorstellung eines „unparteiischen
Zuschauers“: Wenn wir unser Verhalten beurteilen, müssen wir es „prüfen, wie es
unserer Ansicht nach irgendein anderer fairer und unparteiischer Zuschauer
prüfen würde“ (Smith, 167).
Adam Smith aber fordert ebenso, Perspektiven
aus der Ferne systematisch zu berücksichtigen - ein Gedanke, der sich schon bei
David Hume findet: „Nehmen wir weiter an, dass mehrere verschiedene
Gesellschaften zum gegenseitigen Nutzen und Vorteil einen gewissen Umgang
pflegen, dann erweitern sich die Grenzen der Gerechtigkeit in dem Maße, wie
sich der Blickwinkel der Menschen erweitert und ihre gegenseitigen Verbindungen
stärker werden“ (Hume, 111).
Keine Theorie der Gerechtigkeit kann die übrige
Welt außerhalb des eigenen Landes einfach ignorieren. Nachbarschaft
wird in einer globalisierten Welt immer umfassender. Daher wird eine Theorie der Gerechtigkeit
alle positionsbedingten Beschränkungen im Hinblick auf moralische oder politische
Verpflichtungen überwinden müssen, die die Wahrnehmung auf eine „unmittelbare
Nachbarschaft“ einengen und so die Ansicht versuchen abzuwehren, dass man nur
dem Nächsten etwas schulde, aber nicht den Menschen außerhalb der
Nachbarschaft.
„In der Welt von heute gibt es nur sehr
wenige Nicht-Nächste“ (Sen, 201).
Zitate
aus: Amartya Sen: Die Idee der Gerechtigkeit, München 2010 (C.H.Beck) -- Thomas Nagel: Der Blick von Nirgendwo,
Frankfurt 1992 (Suhrkamp) -- Adam Smith: Theorie der ethischen Gefühle,
Leipzig 1926 (Meiner) -- David Hume: Prinzipien der Moral, Stuttgart
2002 (Reclam)
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