Hätte man früher bei dem Begriff „Soziales Netzwerk“ an die gute Hausgemeinschaft, die Nachbarn, Verwandte oder Freunde aus dem Sportverein gedacht, so denkt man heute ebenso selbstverständlich an Facebook, Twitter und Co.
Und während früher so manchem Mitglied eines sozialen Netzes die „üble Nachrede“ oder die „Gerüchteküche“ mitunter schwer zugesetzt hat, so gehört heutzutage der Shitstorm zu den unfreundlichen Begleiterscheinungen moderner Kommunikation. Hier lassen Menschen lautstark ihren Unmut über eine Person, Organisation oder eine Marke aus. Dabei werden die Grenzen des „guten Tons“ munter überschritten.
Ein Vorläufer dieser sich im öffentlichen Raum abspielenden und auf Häme und Hass beruhenden „Streitkultur“ waren die Flugschriften, die sich vor allem in der Epoche der Aufklärung großer Beliebtheit erfreuten.
Ein Beispiel aus Hamburg ist die Häme und Hetze um die Satire Lob der Geldsucht des (1704) des zu Unrecht vergessenen Dichters Barthold Feind, für die die Bürgerschaft Hamburgs in Flugschriften die öffentliche Verbrennung forderte. Drei Jahre später, am 19. März 1707, wurde schließlich die Schandglocke geläutet, man hatte eine Schüssel mit glühenden Kohlen bereitgestellt, in die die Werke von Feind geworfen wurden. Am 18. August baumelte ein Porträt des Dichters in effigi am Galgen. Feind selbst kam ungeschoren davon, denn er stand im Dienst Schwedens und konnte daher nicht einfach belangt werden.
Hamburger Feder-Krieg um die Satire
Lob der Geldsucht (1704) des Dichters Barthold Feind
|
Flugschriften waren ein Reflex des kontroversen Meinungsklimas und der Verdichtung von Konflikten in den Städten der Frühen Neuzeit. Ihr „Einsatzgebiet“ war ursprünglich der Konfessionsstreit im Zuge der Reformation. Diese nahm bekanntlich mit dem Thesenanschlag ihren Ausgang, wobei die 95 Thesen Luthers - als Flugschriften gedruckt – sich mit bis dahin unbekannter Geschwindigkeit über ganz Europa verbreiteten.
In den Städten kannte man dieses Medium zur Genüge. Wie auch immer sich die Parteien im Disput zwischen Rat und Bürgerschaft oder zwischen den verschiedenen Konfessionen oder manchmal auch zwischen unterschiedlichen Strömungen innerhalb der eigenen Glaubensrichtung – man denke nur an das Gezeter zwischen lutherischer Orthodoxie und Pietismus - gegeneinander positionierten, es gab eine Gemeinsamkeit: Alle Positionen wurden in unzähligen Schriften öffentlich thematisiert, diskutiert, verhandelt.
Die Intensität der Konflikte bildete sich gleichsam im Gestöber der Flugschriften ab – einem Zeitgenossen erschien es, als flögen sie „wie Schneeflocken“ umher, ein anderer verglich sie mit Käfern und Schmeißfliegen.
Der „Feder-Krieg“ verlief unübersichtlich und mit unklaren Frontverläufen. Wer sich in bestimmter Weise positionierte, durfte gewiss nicht darauf rechnen, Recht zu behalten. Sicher war nur eins, nämlich dass eine Flugschrift eine oder auch mehrere kritische Antworten erhielt.
Der Germanist und Historiker Dirk Rose spricht – mit Blick auf die bürgerkriegsähnlichen Zustände in der Reichsstadt Hamburg in den Jahren 1680 bis 1720 – treffend von einer „skandalösen Öffentlichkeit“.
Die Verfasser der Flugschriften stammten in der Regel aus dem gelehrten Milieu. Ihre Komödien, Satiren und Polemiken wurden jedoch nicht nur an eine erlauchte Leserschaft verkauft, sondern vielfach vorgelesen, abgeschrieben, auf den Straßen zitiert und referiert; ebenso wurden Lieder gedruckt und gesungen, Streitschriften in Kaffeehäusern und Gaststätten vorgetragen und diskutiert und natürlich wurden die Streitthemen auch in Predigten aufgegriffen. Und wer es ganz eilig hatte, konnte an bestimmten öffentlichen Orten Hamburgs wie der Börse eine handschriftliche Notiz hinterlassen. Hier standen „zwei Buden“ mit Tintenfass und Feder zur Verfügung.
In den Hamburger Kaffeehäusern wurden zu Beginn des 18. Jahrhunderts auf dem Tisch Kaffee und Tee ausgeschenkt und unter dem Tisch Flugschriften verteilt. |
Aber nicht nur die Einwohner Hamburgs, sondern letztlich alle Menschen in größeren Städten kamen geradezu zwangsläufig mit dem Meinungsbetrieb in Kontakt. Flugschriften wurden in den gängigen Verkaufsstellen, etwa in Buchhandlungen, und von mobilen Händlern vertrieben, selbst in Kirchen wurden sie angeboten.
So war die städtische Bevölkerung insgesamt „Teilhaber eines Räsonnement-feldes“, in dem Schriftlichkeit und Mündlichkeit einander variantenreich befeuerten. Es war schier unmöglich zu ignorieren, dass um einen herum heftig gestritten wurde, trotz der Undurchsichtigkeit, Komplexität und Omnipräsenz der Konflikte. Die Flugschriften beförderten ein ziemlich „unruhiges“ Meinungsklima.
Der politischen Führung gelang es häufig nicht, den Flugschriftenverkehr zu kontrollieren. Verbote von Schriften beispielsweise in Hamburg waren zum Scheitern verurteilt, solange andernorts, etwa im damals dänischen Altona, fleißig gedruckt und nachgedruckt wurde.
Mehr noch: Durch die Zensur erhielt die inkriminierte Schrift oftmals erst recht Auftrieb. Es gelang jedoch der Obrigkeit ebenso wenig, sich einfach aus dem Schriftverkehr herauszuhalten. Das Vorgehen der „Behörden“ gegen die Flugschriften und ihre Verfasser wurden publik gemacht und an die Straßenwände geklebt. Gelegentlich sah sich die Obrigkeit sogar gezwungen, in den Flugschriftenaustausch einzusteigen oder über Dritte die eigene Position im Flugschriftenaustausch zu lancieren.
So entbrannte im ganzen Reich eine heiße Kontroverse um die Zeitschrift „Der Patriot“, vor allem aber in Hamburg, wo sie erschien. Manche befürchteten, dass die Flugschriften für und gegen die Zeitschrift „alle Civil-Ordnungen über den Hauffen werfen" würden. Allerdings wussten die meisten nicht, dass hinter dem geheimen Herausgebergremium die städtische Führungsspitze Hamburgs stand.
Die Zeitschrift „Der Patriot“ |
Man konnte nicht nicht kommunizieren. Zuweilen beklagte sich das Publikum über den publizistischen Krawall – so wie viele heutzutage auch über die Art der Kommunikation in sozialen Netzwerken stöhnen.
Wenn man doch nur das Motto von Erasmus von Rotterdam beachten würde, der eine andere Form der Streitkultur anmahnte: „Mein Zweck ist, zu erinnern, und nicht zu schmähen: zu nützen, und nicht zu beleidigen: den Sitten der Menschen beiräthig [ein guter Ratgeber], und nicht nachtheilig zu sein.“
Literatur: Steffen Martus: Aufklärung. Das deutsche 18. Jahrhundert – ein Epochenbild, Hamburg 2015
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen