Der Begriff «Solidarität» ist zu einem mächtigen und besonders effektiven Euphemismus im Wettbewerb der Ideen herangereift. Dabei wird seine Bedeutung bis zur Unkenntlichkeit verzerrt. Dieser Ansicht ist zumindest Oliver Kessler in seinem Beitrag „Solidarität als Wert der freien Zivilgesellschaft“ für das Liberale Institut.
Zwischenmenschliche Solidarität sei selbstverständlich auch in
einer freien Gesellschaft unbestritten ein wichtiger Wert, damit Menschen in
Notlagen Unterstützung erfahren und nicht durch alle Maschen fallen, so Kessler.
Die Bedeutung der Solidarität wird also keineswegs infrage gestellt.
Voraussetzung für Solidarität: Wohlstand |
Das Problem aber liege vor allem darin, dass
staatliche Zwangsumverteilung den gesamtgesellschaftlichen Wohlstand gleich
doppelt mindert, weil sie die leistungswilligen und produktiven
Gesellschaftsmitglieder bestraft und die Anreize zur produktiven Arbeit bei den
Empfängern zerstört. Der Wohlfahrtsstaat bedient sich hauptsächlich bei jenen,
die etwas leisten und gibt jenen, die wenig oder nichts zum Gemeinwohl
beitragen.
In letzter Konsequenz bedeutet dies: Es lohnt
sich zunehmend, unproduktiv zu sein – was in der Folge übers Ganze gesehen zu
einer relativen Verarmung der Gesellschaft führt.
Zur Würde einer Person aber gehöre es nun
einmal, dass sie für sich sorgen und ihr Leben und das Leben ihrer Angehörigen
selbst in die Hand nehmen kann. Im Wohlfahrtsstaat, der weit über die Hilfe zur
Selbsthilfe hinaus tätig ist, wird den Menschen durch die anonymisierte Form
der Zahlungen das persönliche Verantwortungsgefühl abtrainiert und durch das
Ausfüllen von bürokratischen Formularen ersetzt. Das Verständnis der
Staatsabhängigen für die Zusammenhänge von produktiver Arbeit und Lohn
schwindet in der Folge.
Vielfach setze sich auch die Überzeugung durch,
dass sich produktive Leistung in Anbetracht der mühelos erhaltenen staatlichen
Almosen nicht lohne und ein Leben auf Kosten anderer von einem weniger
Anstrengung abverlange. Dadurch sinkt aber auch die Motivation, die persönliche
Weiterentwicklung voranzutreiben, etwa der eigenen Fähigkeiten, des Wissens und
der Erfahrung, die ein wesentlicher Faktor nicht nur für die
Wiedereingliederung in den Arbeitsmarkt, sondern auch für das persönliche
Glücksempfinden darstellt. Das Gefühl schwindet, „etwas Wert zu sein“ und einen
sinnvollen Beitrag zum Funktionieren der Gesellschaft beitragen zu können.
Wilhelm Röpke (1899 - 1966) |
Eine Ethik der Eigenverantwortung vertritt die
Ansicht, dass es nicht nur unethisch ist, ohne Not auf Kosten Dritter zu leben,
sondern auch dass es ebenso unethisch ist, Menschen zu unterstützen, die ihr
Leben eigenständig bestreiten könnten. Denn dadurch dämpft man ihre Motivation,
ein selbstbestimmtes, eigenständiges Leben bestreiten zu wollen, woraus sich
wiederum Wertgefühl, Ehre, Glück und Stolz ergeben.
Alle Ansätze über die Hilfe zur Selbsthilfe
hinaus sind ethisch daher nicht vertretbar. Umverteilung widerspricht auch dem
alten und verbreiteten Grundsatz der aus der Praxis entstandenen Goldenen
Regel. Diese Voraussetzung des friedlichen gesellschaftlichen Zusammenlebens
lautet: „Was du nicht willst, dass man dir tu, das füg auch keinem anderen zu.“
Oder positiv formuliert: „Behandle andere so, wie du von ihnen behandelt werden
möchtest.“ Es leuchtet unmittelbar ein, dass niemand jemanden dauerhaft
finanzieren möchte, der auch für sich selbst sorgen könnte.
Die vertretbare Alternative, die mit der
Goldenen Regel vereinbar ist, ist die Ethik der Eigenverantwortung. Genau die
wird jedoch mit dem Ruf nach angeblicher Solidarität je länger je mehr durch
immer aufgeblähtere Umverteilungsstaaten ausgehebelt. In einer echten
Solidargemeinschaft ist daher die erste solidarische Pflicht, niemandem unnötig
zur Last zu fallen, und keineswegs möglichst viele Menschen in die staatliche
Abhängigkeit zu führen, was die aktuelle Sozialpolitik leider tut.
Adam Smith (1723 - 1790) |
Zentral in seiner Beobachtung ist einerseits
die „Sympathie“. Eine Handlungsweise eines anderen werde dann gebilligt, wenn
sie auf rechtmäßigen und anständigen Motiven beruhe, nicht aber deshalb, weil
es für diese einfach nur von Nutzen sei. Alle würden aufgrund der Tatsache,
dass sich die Menschen gegenseitig beobachten, dazu angereizt, sich anständig
zu verhalten oder dies wenigstens nach außen hin vorzutäuschen. Die Ausrichtung
ausschließlich auf den Eigennutz müsse überwunden werden, damit das Verhalten
von der Gesellschaft gebilligt würde.
Ein weiterer zentraler Aspekt ist die fiktive
Rolle des unparteiischen Zuschauers („impartial spectator“), in die sich die
Menschen jeweils dann versetzten, wenn sie moralische Entscheidungen zu treffen
hätten. In dieser Rolle würden die Individuen jeweils erkennen, dass auch sie
an der Stelle stehen könnten, an der diejenige Person gerade steht, der sie
ihre Sympathie zukommen lassen. Daraus entstehe der Anreiz, sich der Goldenen
Regel entsprechend zu verhalten, weil man so handle, wie man an der Stelle des
anderen behandelt werden möchte.
Wilhelm von Humboldt (1767 - 1835) |
So kommt Kessler schließlich zur überraschenden
Konklusion, dass Egoismus ironischerweise von jenen Kräften heraufbeschworen
wird, die ihn politisch bekämpfen und echte Solidarität von jenen erstickt, die
diese politisch erzwingen wollen. Es bleibe daher zu hoffen, dass sich die
Erkenntnis durchsetzt, dass sich eine Solidargemeinschaft – und in erster Linie
„Wohlstand für alle“ – nur auf Basis einer liberalen Ordnung entfalten kann.
Zitate aus: Oliver Kessler, Solidarität als Wert der freien Zivilgesellschaft, Liberales Institut, LI-Paper, Zürich 2018
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