Die These Ottfried Höffes, die Philosophie „aus Gründen des
Artenschutzes zu fördern“, klingt zunächst ungewöhnlich, hat aber durchaus
seine Berechtigung, denn die Notwendigkeit, die Philosophie gegen den Zeitgeist
zu verteidigen, besteht mehr denn je.
In der Philosophie und den Geisteswissenschaften lernt man
nicht bloß gewisse Sachverhalte und Techniken; man übt auch Fähigkeiten und
Methoden, sogar Haltungen ein, was eine Bildung im emphatischen Sinn erbringt.
Man verändert seine Einstellung sowohl gegenüber der sozialen und kulturellen
als auch der natürlichen Welt, nicht zuletzt die Einstellung gegenüber sich
selbst.
Das Problem der Bildung in der Philosophie |
Insbesondere die Philosophie vermittelt sehr früh, was bei
Philosophen „gebildet“ oder „allgemein gebildet“ heißt. Es ist kein Vorrat
konkreter Kennt-nisse, der ohnehin rasch veraltet. Gemeint ist vielmehr der
Besitz allgemeiner Gesichts-punkte, mit denen man auch dort treffend mithält, wo
man auf neuartige Sachverhalte stößt.
Gebildet ist zum Beispiel, wer den Satz
vom Widerspruch, also ein grundlegendes Denkprinzip, nicht aus höheren
Prinzipien ableiten will, oder wer sachfremde von sachdienlichen Argumenten zu
unterscheiden vermag, und heute: wer für die Wirtschaft und die
Naturwissenschaften sowohl deren Wert als auch deren Grenzen einzuschätzen versteht.
Nimmt man als Leitfaden der
Wertschätzung die Wissensgesellschaft von heute ernst, so zählen kognitive Kompetenzen. Im Fall der
Philosophie, auch der Literatur- und Geschichtswissenschaften, beginnen sie mit
einer Art geistiger Wahrnehmung, nämlich der Fähigkeit, selbst komplexe Texte
zu lesen.
Um simples Lesen, im Fall der Kunst- und Musikwissenschaften
um bloßes Sehen und Hören, handelt es sich freilich nicht. Das Wahrnehmen wird
zu einer klaren und genauen Beobachtung gesteigert; es wird mit einer Kultur
der Phantasie und Einbildungskraft verbunden und zu jener Kunst des
Entschlüsselns entfaltet, die den Gegenstand zum Sprechen bringt.
Das Zeitalter der Globalisierung heißt die Philosophie und
Geisteswissen-schaften auch deshalb willkommen, weil sie mit einer zweiten
Wissensleistung, dem Erinnern, den kulturellen Reichtum der Menschheit
vergegenwärtigt.
Damit verbindet sich drittens eine Urparteilichkeit in
der Erinnerung, eine „anamnetische Gerechtigkeit.“ Mag andernorts ein
Eurozentrismus, häufiger ein Americozentrismus vorliegen – gegen diesen
Kulturimperialismus erhebt die Gesamtheit der Geisteswissenschaften einen
vehementen Einspruch. Denn studiert werden die sozialen und kulturellen
Gegenstände schlechthin aller Gesellschaften und Epochen. Es geschieht freilich
nicht – manchen Kollegen ist allerdings zu sagen: es darf nicht geschehen – auf
die desaströse Weise, daß man sich auf das Bewahren von Traditionen verkürzt
oder gar im Loblied auf Museen mit einer Kompensation des Fortschritts
zufrieden ist.
Philosophie - Immer über den eigenen Horizont hinaus |
Die Philosophie – mag man einwenden – beschränkt sich in der
Regel auf einen kleinen Teil der Weltkultur. Dieser Einwand ist nicht
unberechtigt, schlicht berechtigt aber auch nicht. Denn Platon dürfte von
ägyptischen Lehren beeinflußt worden sein; im Mittelalter, immerhin einer
Epoche von vielen Jahr-hunderten, stehen Philosophen sowohl aus der islamischen
als auch der christlichen und der jüdischen Welt in engem Gespräch miteinander;
die großen Aufklärungsphilosophen Leibniz und Wolff interessieren sich für das
chinesische Denken, das in der heutigen Universität im Rahmen der Sinologie ein
selbstverständliches Heimatrecht besitzt.
Dabei hat die Philosophie einen großen Vorteil: Sie beruft
sich nicht auf kulturelle Besonderheiten, sondern lediglich auf die allgemeine
Menschenvernunft und allgemeinmenschliche Erfahrungen. Mag sie auch in einer Region
der Welt besonders rasch und weit sich entwickelt haben – als Philosophie
interessiert sie sich für Grundgedanken aus allen Kulturen und steht ihnen
allen offen.
Die Philosophie ist von ihrem Wesen her eine die Grenzen,
vor allem auch die Religionsgrenzen überschreitende Instanz; sie ist ihrer
Natur nach ein Anwalt der gesamten Menschheit.
In diesem Kontext wird eine dem Zeitalter der Globalisierung
hochwillkommene Fähigkeit eingeübt, die Sympathie und Empathie mit anderen
Kulturen: Wer sich in fremde Denk-, Sprach- und Verhaltensmuster «einlebt»,
lernt ein dreifaches Verstehen. Er lernt die anderen in ihrer
Andersartigkeit, sich und die anderen in ihrer Gemeinsamkeit, schließlich
durch den Kontrast sich selbst besser zu verstehen.
Argumentative Klarheit, sprachliche Präzision und methodische Sorgfalt |
Damit verbindet sich eine argumentative Klarheit, sprachliche
Präzision und methodische Sorgfalt, die dem Vergleich mit den
Naturwissenschaften nicht zu scheuen braucht. Und weil man die Kulturzeugnisse,
statt sich auf fremde Meinungen zu verlassen, selbst studiert, bildet man sich
die eigene Meinung, und gegen die oft fragwürdigen Versprechen politischer
Führung entwickelt sich eine kritische Urteilsfähigkeit.
Zitate aus: Otfried Höffe: Die Macht der Moral im
21. Jahrhundert. Annäherungen an eine zeitgemäße Ethik, München 2014
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