Helmut Schmidt (* 1918) |
In seinem Buch „Ausser
Dienst“ äußert sich der ehemalige Kanzler und große deutsche Sozialdemokrat
Helmut Schmidt, in gewohnt deutlicher Weise zu zentralen Fragen unserer Zeit. Im
letzten Kapitel seines Buches äußert sich Schmidt auch zu der Frage, ob die
Aufgabe der Politik (oder der Politiker) auch darin bestünde, die Menschen
glücklich zu machen oder ihnen einen Sinn für ihr Leben zu geben.
Der politische Wettbewerb verleite die Beteiligten oft zu
Übertreibungen. Dies betrifft auch das Gebiet der Verkündung moralischer
Prinzipien. So habe Helmut Kohl in der Zeit des Regierungswechsels Anfang der
80er Jahre von der Politik eine „geistige und moralische Führung“ verlangt und nach
„der großen Vision“ gefragt.
Schmidt dagegen verwahrt sich „gegen den Anspruch, die
Regierung habe eine für Volk und Gesellschaft sinnstiftende Instanz zu sein.“ Regierung
und Parlament haben vielmehr die Aufgabe, „Freiheit zu sichern, Gerechtigkeit
zu sichern, sich um Solidarität zu bemühen und (auch) darum, Freiheit,
Gerechtigkeit und Solidarität erfahrbar zu machen.“
In einer Gesellschaft mit vielfältigen religiösen und
philosophischen Grundüberzeugungen könne geistige und moralische Führung nur
die Aufgabe von vielen sein, nicht aber der Regierung.“ Somit beruht „das geistige
Leben eines Landes … auf `Vielfalt und Toleranz´“.
Schmidt habe in diesen Debatten eher auf der Seite des
ehemaligen Bundespräsidenten Richard von Weizäckers gestanden, „der damals
hervorhob, es sei nicht Aufgabe des Bundeskanzlers, für den Bürger den Sinn des
Lebens zu stiften. Die geistige und moralische Grundlage unserer Gesellschaft
liegt allein in den unveränderlichen Grundrechten des Grundgesetzes,
insbesondere im Prinzip der Unantastbarkeit der Würde des Menschen, die im
Artikel 1 verankert ist. Die Regierung darf Orientierung nur hier, nicht aber
an anderen Orten und in anderen Gefilden suchen.“
Natürlich ginge von den politischen Parteien und von der
politischen Klasse insgesamt auch so etwas wie „Führung“ aus, und natürlich
dürfe eine Regierung auch moralische Anstöße geben. Ein gutes Beispiel dafür ist
Willy Brandts Verständigungspolitik mit dem kommunistisch beherrschten Osten
Europas und sein Kniefall im ehemaligen Warschauer Ghetto, in dem das
Bekenntnis zur deutschen Schuld an der Vernichtung der Juden zum Ausdruck kam.
Ein anderes gutes Beispiel dafür ist die Rede, die Richard von Weizsäcker als
Bundespräsident anlässlich des 40. Jahrestages des Endes der
nationalsozialistischen Diktatur vor dem Bundestag am 8. Mai 1985 hielt, denn sie
verhalf vielen Deutschen endlich zu der Erkenntnis, daß der 8. Mai 1945 weniger
eine Niederlage als vielmehr eine Befreiung der Deutschen gewesen ist.
Ikonische Demutsgeste: Der Kniefall von Warschau (7. Dezember 1970) |
In diesen beiden Fällen, so Schmidt, „gründete politisches Handeln im Bewußtsein von der Würde des Menschen. Brandt wie Weizsäcker haben in Übereinstimmung mit dem Grundgesetz gehandelt, sie haben sich nicht auf christliche oder andere Werte berufen müssen, um aus der deutschen Geschichte Konsequenzen zu ziehen. Daß es beide Male nicht nur Zustimmung, sondern auch heftige Ablehnung gab, gehört zu den Selbstverständlichkeiten einer offenen Gesellschaft, in der wir es mit einer Vielfalt von Wertvorstellungen zu tun haben.“
Der Politiker stehe nicht einfach vor der abstrakten
Notwendigkeit, seine Pflicht zu erfüllen. Er ist im Alltag immer wieder mit
konkreten Streitfragen konfrontiert, mit widerstreitenden Interessen und
komplexen, schwer zu durchschauenden Problemen. „Immer aufs neue geht es um die
Antwort auf die gleichen Fragen: Was ist hier notwendig? Was ist gerecht? Was
dient meinem Land? Was ist zweckmäßig? Was ist in dieser konkreten Lage meine
Pflicht?“
In diesem Zusammenhang ist für Schmidt das eigene Gewissen
grundlegend: “Jeder Politiker muß mit dem, was er tut und was er sagt, vor
seinem Gewissen bestehen können. Für mich bleibt das eigene Gewissen die
oberste Instanz.“ Auch das Grundgesetz lässt erstaunlich offen, was die Moral
von uns verlange. Es spricht zwar in Artikel 2 vom `Sittengesetz´, gegen das
keiner verstoßen darf; aber dessen Inhalt wird nicht einmal angedeutet. Eine
gemeinsame moralische Grundlage aber ist ein unverzichtbares Element jeder
Gesellschaft. Das Problem ist, dass Moral und Tugenden dem Menschen nicht
angeboren sind, sondern er beides allein durch Erziehung lernt – durch
Beispiel, Lob und Tadel. „Das `Sittengesetz´ scheint demnach nichts anderes zu
sein als das im Laufe von Jahrtausenden erzielte Ergebnis dieser Erziehung zur
Kultur.“
Grundrechte und Tugenden bilden zusammen die Grundwerte, auf denen unsere demokratische Gesellschaft beruht. |
Die Grundwerte, die für Schmidt wichtig sind, sind im im Godesberger
Grundsatzprogramm der SPD von 1959 festgelegt. Dort wurden allein `Freiheit,
Gerechtigkeit und Solidarität´ als Grundwerte bezeichnet. „Dabei ist Freiheit
vornehmlich ein Grundrecht, Gerechtigkeit und Solidarität dagegen sind keine
Rechte, sondern vornehmlich Tugenden. Allerdings haben wir in Godesberg weder
einen vollständigen Katalog der Grundwerte oder der Tugenden postuliert, noch
konnten und wollten wir `letzte Wahrheiten´ verkünden. Wohl aber haben wir ein
bedeutendes und weithin sichtbares Zeichen gesetzt.“
Wichtig ist in diesem Fall das Bekenntnis Schmidts, daß
jedermann Verantwortung trägt und daß jedermann moralische Pflichten hat. „Es
ist deshalb notwendig, zu den Tugenden zu erziehen und an die Pflichten zu
erinnern. Diese Notwendigkeit gilt gegenüber jedem politisch engagierten
Staatsbürger, sie gilt besonders für den Politiker. Jeder, der Verantwortung
für andere hat oder anstrebt, ist nicht nur für seine Ziele und Absichten
verantwortlich, sondern ebenso für die Folgen seines Handelns und seines
Unterlassens. Je mehr ein Mensch Macht hat über andere, je mehr Einfluß er auf
andere und deren Leben ausübt – als Vater oder Mutter, als Vorgesetzter, als
Lehrer oder Journalist, als Unternehmer, Manager oder Politiker–, desto
schwerer lastet auf ihm die Verantwortung für das Gemeinwohl, um so schwerer
wiegen seine Pflichten.“
Weil die Diktaturen, die es im 20. Jahrhundert auf deutschen
Boden gab, das Pflichtbewußtsein auf gröbste Weise missbraucht haben, wollen
bis heute viele Menschen nur etwas von ihren Rechten wissen. Pflichten dagegen
wollten sie nur insoweit befolgen, wenn sie auf staatlicher Macht beruhen und
mit der Macht der Gesetze durchgesetzt werden. „Tatsächlich sind unsere Rechte
auf Dauer jedoch nicht gesichert, wenn nicht unser Pflichtbewußtsein
hinzutritt. Keine Gesellschaft freier Bürger kann auf Dauer ohne die Tugenden
der Bürger bestehen. Die Nation braucht nicht nur die Grundrechte, sondern
ebenso die Tugenden. Beide zusammen bilden die Grundwerte, auf denen unsere
demokratische Gesellschaft beruht.“ Wer also dazu beiträgt, die Tugenden im
öffentlichen Bewußtsein zu halten und dort fest zu verankern, der leiste dem
allgemeinen Wohl, der salus publica, einen notwendigen Dienst.
Karl Raimund Popper (1902 - 1994) |
Die beiden ehrwürdigen Tugendkataloge der christlichen
Überlieferung beispielsweise verzeichnen weder den Willen zur Freiheit noch den
Willen zum Frieden, nicht einmal den Willen zur Wahrhaftigkeit. „Ich halte es
für einen gefährlichen Irrtum, die Gesinnungen der Freiheit, des Friedens und
auch der Wahrhaftigkeit, die weder zu den theologischen noch zu den
Kardinaltugenden gehören, deshalb abzuwerten. Ein Gleiches gilt für die
Mißachtung der sogenannten Sekundärtugenden.“
Worauf es Schmidt ankommt, sind „Tugenden, die ich die `bürgerlichen´
Tugenden nenne: die Tugend des Verantwortungsbewußtseins, die Tugend der
Vernunft und die Tugend der inneren Gelassenheit.“ Auch wenn Schmidt niemals
besonders religiös war, ein Gebet des Amerikaners Reinhold Niebuhr hat ihm
immer aus dem Herzen gesprochen: `Gib mir die Gelassenheit, die Dinge zu
ertragen, die ich nicht ändern kann; gib mir den Mut, die Dinge zu ändern, die
ich ändern kann; gib mir die Weisheit, beides voneinander zu unterscheiden.´“
Zitate
aus: Helmut Schmidt: Außer
Dienst: Eine Bilanz, München 2008 (Siedler)
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